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Worin zeigt sich Vernunft, wenn nicht in der Weisheit?

Vortrag im Rahmen des Festivals der Philosophie 15. April 2012

Dr. Gerhard Stamer

Guten Morgen, meine Damen und Herren!

Der angekündigte Titel meines Vortrags lautete Die Ressource Vernunft – die nachhaltigste Provokation. Nach der Eröffnungsveranstaltung und weiteren Vorträgen zu dem Thema des Festivals Wie viel Vernunft braucht der Mensch? habe ich den Eindruck gewonnen, dass überhaupt grundsätzlich geklärt werden müsse, was Vernunft denn eigentlich sei. Deshalb habe ich meinen Vortrag rasch umgearbeitet und spreche nun darüber, was unter Vernunft zu verstehen sei.

Beginnen möchte ich gleich mit einer Korrektur der Frage: Wie viel Vernunft braucht der Mensch? Auch wenn sich diese Frage auf den ersten Blick recht vernünftig anhört, ist sie doch bei genauerer Überlegung falsch gestellt. Es geht nicht darum, wie viel Vernunft der Mensch braucht, sondern wie viel Vernunft der Mensch hat. Wie viel Vernunft haben wir? Die Frage, wie viel Vernunft braucht der Mensch, erzeugt erstens den Anschein, als würde Vernunft ein Stoff sein, ein Rohstoff, und wir könnten darüber unter quantitativen und utilitaristischen Gesichtspunkten entscheiden, wie viel davon uns gut tut. Zu wenig könnte von Schaden sein, zu viel vielleicht auch. Wie misst man es ab, wie viel Vernunft vernünftig ist? Wozu braucht man sie?

A.

Warum stelle ich die Frage anders? Warum frage ich: Wie viel Vernunft hat der Mensch? Weil die Frage zu Beginn der Philosophie und bis heute in philosophischer Weise derart zu stellen ist. Die Philosophie begann im antiken Griechenland mit der Frage nach dem Urgrund, der arché, dem einheitlichen Urstoff der Vielfalt der Dinge. Schnell hatte sich diese Frage über die stoffliche Dimension von Luft, Wasser, Feuer, Erde als Urstoff erhoben zu der nach dem Apeiron, dem Unbegrenzten und Unbestimmten bei Anaximander, dem Nous, dem Geist bei Anaximander, dem Logos bei Heraklit. Hinzu kam die Lehre der Pythagoreer mit ihrer Auffassung, dass die Zahl die Ordnung des Kosmos schaffe, indem sie das Unbegrenzte bestimme und begrenze. Die Entdeckung des Geistigen war es, womit die Philosophie ihren Anfang nahm. Für Platon war es bereits eine gesicherte Überzeugung, dass die Mathematik kein ausgedachtes Regelsystem darstellt, sondern in der Form der Anwendung auf den Raum als Geometrie, in der Anwendung auf die lineare Entwicklung der Zeit als Arithmetik, dann aber auch in der Astronomie und der Musik als strukturelle geistige Dimension zur Wirklichkeit gehört. Durch die Reflexion auf die Erkenntnis selbst, die ja den Zugang zur Wirklichkeit schafft, wurde begriffen, dass das Geistige selbst in keiner Form der Sinnlichkeit, weder durch das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen oder Fühlen erfassbar ist. Nur das Geistige selbst schafft den Zugang zum Geistigen, obwohl es allem Erkennen der vielgestaltigen, den Sinnen gegebenen Wirklichkeit zugrunde liegt. Die Anerkennung dieser äußerst wirksamen, aber nicht sinnlich, sondern immateriell vorhandenen Dimension der Wirklichkeit, die die Philosophen in ihrem Nachdenken behaupteten, stellte für die Mehrheit der Menschen von Anfang an eine große Schwierigkeit dar. Voller Zorn schimpfte Heraklit auf seine Zeitgenossen:

„Dies Weltgesetz – der Logos – das doch ewig ist, begreifen die Menschen nicht, weder bevor sie davon gehört haben noch sobald sie davon gehört haben. Denn obgleich alles nach diesem Gesetz geschieht, machen sie den Eindruck, als ob sie nichts davon ahnten, wenn sie sich an solchen Worten und Werken versuchen, wie ich sie verkünde, indem ich ein jedes nach seiner Natur zerlege und klarmache, wie es sich damit verhält.“

Platon hatte diese gleiche Erfahrung, dass es den Menschen nicht automatisch zugänglich ist, das immaterielle Geistige als ein Reales zu erkennen, weniger polemisch, dafür aber grundsätzlicher in seinem Höhlengleichnis zum Ausdruck gebracht. Normalerweise säßen wir alle in einer Höhle mit dem Rücken zu ihrem Ausgang gekehrt und halten die Schattenbilder, die von draußen an die Innenwand der Höhle geworfen werden für die Wirklichkeit, während allein die Philosophen dadurch ausgezeichnet sind, dass sie sich umgedreht haben und nun nicht mehr den Schein für die Wirklichkeit halten. Und die Philosophen erkennen, dass nichts Stoffliches, Materielles, den Urgrund der Welt bildet, sondern dass es die Ideen des Guten, Wahren und Schönen sind, und dass möglicherweise allen materiellen Dingen Ideelles zugrundeliegt.

Lange bevor Immanuel Kant die präzise Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft trifft, bleibt im Hauptstrang der philosophischen Tradition die Trennung zwischen dem physischen Bereich, der der Sinnlichkeit zugänglich ist und dem anderen intellektuellen Bereich mit seinen erweiternden transzendenten Ausdeutungen bestehen. Die Schüler von Aristoteles fügen nach dessen Tod den Schriften, die unter der Rubrik der Physik einzuordnen waren, die Metaphysik hinzu. Aus diesem Einteilungsnamen wird dann die Bezeichnung für die philosophische Disziplin, die sich mit den Themen beschäftigt, die über die sich historisch herausbildende naturwissenschaftliche Dimension mit ihren Grundelementen Raum, Zeit, Kraft und Bewegung hinausgehen. In allen Epochen wird diese Unterscheidung immer wieder thematisiert – in den verschiedensten Varianten. Zu Beginn der Aufklärung ist es dann der Universalgelehrte Leibniz, der Entdecker des binären Zahlencodes, auf dem unsere moderne Computertechnik beruht, der bewusst gegenüber dem rationalistischen Denken von Descartes und der Mechanik von Newton an die alte Metaphysik von Platon bis Thomas von Aquin anknüpft. Der Dreh- und Angelpunkt seiner theoretischen Bemühungen wird – neben allen anderen Beschäftigungen – die Frage des Übergangs der Physik in die Metaphysik. Er schreibt:

„Ich weiß, dass ich ein großes Paradox unternehme, wenn ich versuche, in gewisser Weise die alte Philosophie wieder zu Ehren zu bringen und die fast verbannten substantiellen Formen wieder in ihr altes Recht zu setzen.“

(Die substantiellen Formen, sind geistiger Art, einfach, unteilbar als Monaden, wahrhaft von allen geschaffenen Dingen unabhängig. Die Substanzen sind unzerstörbare Realitäten, haben in sich selbst ihren Bestand, können aber nicht durch sich allein, sondern erst durch ihre Beziehungen zum Universum, begriffen werden.)

Leibniz´ Überzeugung ist, dass weder die Mathematik noch die Physik die lebendige Ganzheit dieser Universalität erklären können.

„Es muss also immer wieder betont werden, dass, wenn auch die gesamte Physik auf Mechanik zurückgeführt werden kann, doch die tieferen und ersten mechanischen Gesetze auf keine Weise dargelegt werden können ohne die Prinzipien der Metaphysik […].“

B.

Was ich bisher vorgetragen habe, ist das konventionelle, idealistische Verständnis des Geistes, der Vernunft und was damit zusammenhängt. Ich möchte aber auf etwas ganz anderes hinaus. Damit mir dies gelingt, war es aber erforderlich, dieses traditionelle Verständnis des Geistes darzustellen.

Eingehen muss ich nun auch noch auf die Philosophie Immanuel Kants, bevor ich auf mein Anliegen komme, denn die Definitionen und Einteilungen, die Kant trifft, haben bis heute ihre Bedeutung. Zunächst unterscheidet Kant präzise zwischen Verstand und Vernunft. Der Verstand hat es mit den Begriffen zu tun, denen etwas in der Anschauung von Raum und Zeit entspricht. Es ist der Bereich der Sinnlichkeit, von dem ich schon sprach. Das ist auch der Bereich der Naturwissenschaft, aber auch der unserer Alltagswahrnehmung. Es sind die Dinge, die wir sehen und anfassen können; in anderen Worten: Es ist der Bereich der Empirie und der Praxis. Die Vernunft hingegen ist – so Kant – der Bereich der Ideen; und Ideen sind Begriffe, denen nichts in der empirischen Anschauung entspricht, vor allem die Ideen der traditionellen Metaphysik wie Gott, die Unsterblichkeit der Seele, die Unendlichkeit von Raum und Zeit und die Freiheit. Die Freiheit spielt bei Kant eine besondere Rolle, weil sie unmittelbar mit dem Vermögen, mit den Befähigungen des Menschen verbunden ist. Sie ist das Prinzip, auf dem Kant seine gesamte Praktische Philosophie, die Morallehre errichtet, zu der Begriffe wie Würde und die Menschheit gehören. Die Trennung von Verstand und Vernunft hat gravierende Folgen, auch wenn sie zugleich eine unverzichtbare Orientierung bietet. Letztlich ist sie auch verantwortlich für die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft, die sich im 19. Jahrhundert vollzieht. Diese Bestimmung, die die Vernunft durch Kant erfährt, kann gegensätzlich interpretiert werden. Sie rettet die Vernunft, die Freiheit und die Moral vor der Vereinnahmung durch die sich mehr und mehr absolut setzenden technisch orientierten Naturwissenschaften; oder auch: Sie überlässt der Naturwissenschaft den gesamten Bereich der Wirklichkeit, zieht sich zurück auf den der empirischen Prüfung nicht zugänglichen Bereich und verliert dadurch den Zugang zur Wirklichkeit, die von Technik und Ökonomie definiert und beherrscht wird.

Auf das Schicksal der Vernunft übt Kants Philosophie noch in anderer Weise einen bedeutsamen Einfluss aus. In seinen drei Kritiken geht es Kant um die Ermittlung der Allgemeingültigkeit von Urteilen in den bereits von Platon stammenden Bereichen des wissenschaftlich Wahren, des moralisch Guten und des ästhetisch Schönen. Die Allgemeingültigkeit, die in diesen Urteilen: <das ist wahr>, <das ist gut>, <das ist schön> steckt, soll die Geltung, d.h. auch die Wirksamkeit und Wirklichkeit dieser drei Gebiete beweisen und erkenntnistheoretisch absichern. Die Folge: Seit Kant stellen diese drei Gebiete des Geistes feste, voneinander unterschiedene Bereiche der menschlichen Kultur mit eigenständigen Ausdrucksformen dar. Auch dies ist als Gewinn zu sehen. Aber es hat auch eine Konsequenz, die auf den ersten Blick nicht sichtbar wird. Das Geistige insgesamt, entfaltet als Kritik, als Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens, wird durch die Unterscheidung und Begründung dieser drei Gebiete verfestigt und festgelegt. Es sieht nun so aus, als würde das Geistige, soweit wie es anzuerkennen ist, sich in den Disziplinen von Naturwissenschaft, Moral und Kunst erschöpfen, ganz abgesehen von den beiden Disziplinen, die in der Moderne in Zusammenhang mit der empirischen Naturwissenschaft aufkommen, nämlich Technik und Wirtschaft. Die Kritik der Vernunft legt in dem Sinne die Vernunft disziplingemäß, um nicht zu sagen disziplinarisch fest. Was ist die Vernunft, wenn sie nicht in den genannten Disziplinen vorkommt? Gibt es sie überhaupt außerhalb dieser Disziplinen? Gibt es sie, sagen wir: un-diszipliniert? Was wäre un-disziplinierte Vernunft?

C.

Was ich nun ausführen möchte, das ist die Auffassung einer Vernunft, die gerade als un-disziplinierte wirklich ist. Ohne die Bedeutung zu schmälern, die darin besteht, die Erkenntnisbereiche Wissenschaft, Moral und Kunst erkenntnistheoretisch abzusichern, wie Kant es tut, möchte ich darauf aufmerksam machen, wie gerade dadurch die Vernunft ihrer eigentümlichen Freiheit beraubt wird. Ich möchte zeigen, wie diese Absicherung der Vernunft zugleich auch eine Absicherung vor der Vernunft, vor ihrer eigenen Freiheit ist. Einfacher, unbescheidener gesagt: Die Vernunft soll befreit werden! Vernunft ist nicht nur festgelegt, sie ist auch nicht nur eine Kontrollvernunft, um hier den Titel einer Arbeit von Odo Marquard zu zitieren. Was ist Vernunft, wenn sie nicht das ist, was bisher von ihr gesagt wurde? Nicht das Weltgesetz, nicht die Grundlage von Wissenschaft, Moral und Ästhetik? Wenn sie nicht in der Form des Kategorischen Imperativs, in der Form der Unbedingtheit auftritt wie in der Ethik Kants? Wenn sie nichts zu tun hat mit dem moralischen Terrorismus des Kultus der Vernunft in der Französischen Revolution? Wenn sie auch nicht aufgeht in die Konzeption der Kritischen Vernunft der Frankfurter Schule, für die eine einseitige Negation der bestehenden Gesellschaft kennzeichnend ist, so dass sie in ihrer prinzipiellen Distanz zum Gegenwärtigen das Mitmachen und alle politische Praxis untersagte?

Was ist Vernunft, wenn sie natürlich nicht mit Information gleichzusetzen ist und von den Formen der Rationalität grundsätzlich zu unterscheiden ist, wie sie in Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie vorkommen. Vernunft ist weder gleichzusetzen mit Objektivität der Naturwissenschaft, Praktikabilität der Technik, Profitabilität der Ökonomie oder Effektivität zweckrationalen und instrumentalen Handelns.

Um klarer herauszubekommen, was Vernunft ist, frage ich nicht mehr, was ist Vernunft, sondern: Was ist vernünftig? Vernünftig ist es nicht, die Vernunft auf Kritik festzulegen. Vernünftig ist es nicht, der Gesellschaft, so barbarisch sie auch sein mag, den moralischen Terror entgegenzusetzen. Vernünftig ist es wohl auch nicht, wenn die Vernunft so eng mit der Pflicht verknüpft wird, dass sie generell die Neigung ausschließt, was der Kantianer Friedrich Schiller an Kant kritisiert. Was ist vernünftig?

Ich möchte für meine weiteren Überlegungen Anleihen bei einer benachbarten Disziplin machen, nämlich der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Mich interessieren dabei nicht die therapeutischen Zusammenhänge – auch nicht ob die Theorie insgesamt stimmt –, sondern lediglich die Differenzierung, die Freud im von ihm so genannten „psychischen Apparat“ vornimmt. Er unterscheidet das Ich vom Es, d.h. der Triebstruktur und dem Über-Ich, der durch die Sozialisation verinnerlichten gesellschaftlichen Ansprüche, die sich vor allem als moralische ausdrücken. Natürlich gibt es auch noch die äußere Realität, in der sich das Individuum befindet. Ich diskutiere jetzt auch nicht, ob diese Einteilung in die drei Instanzen haltbar ist. Mir geht es lediglich darum, die existenzielle, lebendige Umgebung, bzw. Lebenswelt zu erfassen, in der wir uns stets mit unserem Ich befinden. Das Ich hat die Aufgabe, in den Situationen, in denen es sich fortlaufend befindet, zwischen den Ansprüchen der inneren Instanzen, der Triebstruktur und dem Über-Ich, die oft gegeneinander auftreten und dann auch noch der äußeren Realität, die eigene Anforderungen stellt, zu vermitteln. Worauf es mir ankommt, ist die Darstellung der Vielseitigkeit, in welcher das Individuum steht, um mit sich und der Realität klar zu kommen, d.h. sich selbst zu erhalten, sich zu verwirklichen, seine Fähigkeiten, Interessen und Überzeugungen zu realisieren. Unentwegt steht das Individuum in dieser Situation, sich zwischen diesen unterschiedlichen Anforderungen und Kräften, die auf es einwirken, die es gewissermaßen nach verschiedenen Seiten ziehen, zu entscheiden. Man kann es auch anders sagen: Indem das Individuum die Zwänge erfährt, in denen es steckt, erfährt es auch die Möglichkeit der Wahl, die es zwischen den Anforderungen hat; oder anders herum: Indem es seine Freiheit der Entscheidung unter den verschiedenen Ansprüchen entdeckt, wird es sich der Zwangszusammenhänge immer bewusster, die Bedingungen seines Handelns sind, Bedingungen, unter denen es handeln muss.

D.

Mir scheint, dass sich Vernunft, vernünftiges Handeln prinzipiell in dieser Fähigkeit zur Lebensführung unter gegebenen Bedingungen zeigt. Lebensführung ist eigentlich die anspruchsvollste, von jedem zu leistende Aufgabe, vor der sich niemand drücken kann, die das ganze Leben hindurch auch niemals aufhört, die solch komplexe Anforderungen stellt, dass wir oft nur wildentschlossen den Gordischen Knoten durchhauen können oder gar dunklen Eingebungen gegen alle besseren Vorsätze folgen. Und oft stellt sich im Nachhinein heraus, dass diese scheint´s blinden Entschlüsse vollkommen richtig waren. Und wir wissen es ja: Niemand kann nach der Vorlage einer wissenschaftlichen Theorie sein Leben führen. Das eigene Leben kommt in der Wissenschaft gar nicht vor. Und wer nur nach einem moralischen Leitfaden handeln wollte – diese steifleinenen Charaktere kommen in allen Komödien vor –, würde mit seinem Pflichtbewusstsein nicht nur sich selbst bis zur Erkrankung unterdrücken, sondern auch die anderen, mit denen er es zu tun hat, unentwegt gängeln, schließlich eine lebensfremde, lächerliche Figur abgeben. Ich brauche nicht auszuführen, dass auch niemand nach Regeln leben kann, die rein aus der Metaphysik abgeleitet sind. Er würde hier herumtappen, als käme er gerade von einem anderen Planeten. Es ist klar, Lebensführung erfordert ein situatives Eingehen auf die komplexen Situationen, in denen es einmal nötig ist, die Triebstruktur zu unterdrücken, das andere Mal, sie zu befriedigen, in denen es einmal nötig ist, sich äußeren Zwängen zu beugen, ein andermal Widerstand gegen sie zu leisten. Das eigene Selbst soll sich entfalten, manchmal gegen die gesellschaftlichen Zwänge, das andere Mal ist die Anpassung an die Gemeinschaft sinnvoll, die eine Preisgabe individueller Ziele erfordert. Lebensführung erfordert immer wieder aufs Neue das Erfassen der Situation, das Erfassen der inneren und äußeren Bedingungen der Situation. Schematisches Handeln wird den vielseitigen und wechselhaften Sachlagen nicht gerecht. Sich nicht entscheiden ist auch eine Entscheidung. Jeder von uns hat bestimmte Einstellungen, mehr oder weniger erfahrungsgesättigt, Probleme anzugehen, aber der Komplexität der Lebenswelt entzieht sich niemand. Dramen zeigen oft, wie starre Charaktere in Krisen brechen und zusammenbrechen.

E.

Der Geist der Lebensführung findet unter den eben beschriebenen Bedingungen statt. Er ist die eigentliche Sphäre der Vernunft. Vernunft bezieht sich in erster Linie auf unser Agieren und Reagieren in der Lebenswelt; sie bezieht sich nicht nur auf das, was wir tun, sondern auch auf das, was wir sagen. Sie realisiert sich im Arbeiten, im Herstellen und Handeln, um eine Gliederung von Hannah Arendt heranzuziehen.

Ich möchte diese Dimension der Rationalität der Lebensführung als Sphäre der Vernunft näher kennzeichnen. Ich möchte überhaupt verdeutlichen, dass dieser Bereich eine eigene Dimension ist neben Wissenschaft, Ethik und Ästhetik, neben Technik und Ökonomie, auch Ökologie; ein eigener Bereich, der eine eigene Form von Rationalität fordert, eben die Vernunft. Besonders hervorzuheben sind die Folgen, die es hat, wenn dieser Bereich des unmittelbaren Lebens eines jeden einzelnen nicht als qualifizierte Dimension von Erkenntnis gesehen wird, sondern nur die genannten Disziplinen erkenntnistheoretisch ernst genommen werden. Alle Disziplinen sind gewissermaßen Sektoren menschlichen Seins, sie sind Abstraktionen gegenüber dem unmittelbaren lebendigen Lebensvollzug. Das Leben selbst bleibt unter der Voraussetzung, dass nur diese Disziplinen eine erkenntnistheoretische Anerkennung besitzen, in einem Status des erkenntnismäßig nicht Verallgemeinerungsfähigen, daher auch des Unbedeutenden, des nur Subjektiven, ja des Irrationalen. Da herrschen dann mehr die Gene, die Synapsen, der Bauch, alles Phänomene, die wir nicht in der Hand haben, in denen wir auch selbst das Gefühl haben, nicht zu wissen, was wir tun.

Ausgesonderte wissenschaftliche Bereiche, erlangen als methodisch von einander abgegrenzte Sachgebiete eine hohe Rationalität, nicht nur Mathematik und Physik, sondern auch die Soziologie, die Psychologie, die Sprachwissenschaft: Aber die Führung des Lebens, die Unmittelbarkeit unseres Seins, unser bewusstes, lebendiges Dasein bleibt unter dem Aspekt der Rationalität ein blinder Fleck, so als würden nur abstrakte Ausschnitte des menschlichen Seins der Rationalität zugänglich sein, unser konkretes Leben sich dem aber entziehen. In der Tat ist die Lebensführung das rational am schwersten zu fassende.

F.

Ja, es stellt sich die Frage: Ist denn unser Leben etwas Irrationales? Und noch weiter: Wäre eine Rationalisierung der Lebenswelt nicht eher verhängnisvoll? Würde es nicht die Kontrolle über unser Leben ins Unerträgliche erhöhen? Können wir das wollen? Ist es nicht besser, ein wenig in der schützenden Unübersichtlichkeit, in einer Relation der Unschärfe zu leben? Hier denke ich, ist gerade die Vernunft gefordert. Hier kommt sie ins Spiel. Hier hat sie ihre Antwort zu geben. Hier zeigt sie, ob sie Vernunft ist oder doch nur eine fremde Rationalität, die auf das Leben Anwendung findet.

Die Vernunft ist nur dann vernünftig, wenn sie sich nicht strikt und rein als Geist in falschem Absolutheitswahn verwirklichen will. Sie ist nur vernünftig, wenn sie andere Bereiche der Realität anerkennt, wenn sie in der Lage ist, in einer Welt, die nicht auf Geist oder Rationalität zu reduzieren ist, das ihr selbst innewohnende ideelle dynamische Potential, wie es sich in den Ideen ausdrückt, mit der Vielgestaltigkeit der Welt, der Natur, der Gesellschaft zu verbinden. Vernunft ist nur Vernunft, wenn sie die Fähigkeit besitzt, das Andere anzuerkennen – und nicht nur anzuerkennen, sondern sich in Lebensformen zu vereinen, die wir Kultur nennen. So vermag Vernunft den moralischen Veränderungswillen mit dem Realitätssinn zu vermitteln. Die Vernunft vermag die Interessen der Gesellschaft, des Allgemeinen mit denen des Ichs, des Einzelnen zu verknüpfen, ebenfalls zu vermitteln zwischen der Rationalität und der Sinnlichkeit, zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen der vita activa und der vita contemplativa. Die Vernunft ist die Freiheitsfähigkeit, Freiheitsfähigkeit nicht als etwas, das sich über die Notwendigkeiten der Wirklichkeiten hinwegsetzt, sondern als Fähigkeit, den Weg zu finden, sich in Einklang mit Natur und Gemeinschaft zu realisieren. Die Vernunft ist nur durch die Fähigkeit der Vernunft zu beschreiben. Sie ist nicht identisch mit wissenschaftlicher Wahrheit, nicht mit moralischer Unbedingtheit. Sie ist das, woraus Weisheit entspringt. Und Weisheit ist das eigentliche Ziel der Philosophie. Sie kennen den Weisheitsspruch: Um vernünftig zu leben, sei es erstens nötig, zu unterscheiden zwischen dem, was sich verändern lässt und dem, was sich nicht verändern lässt. Und zweitens wäre es dann richtig, das verändern zu wollen, was sich verändern lässt, und das nicht verändern zu wollen, was sich nicht verändern lässt. Aber kaum habe ich diesen Spruch vorgetragen, kommen mir Bedenken, ob er so absolut stehen bleiben kann, denn in manchen Situationen scheint es doch richtig oder erforderlich zu sein, etwas verändern zu wollen, was sich nicht verändern lässt. Es gibt moralisch unerträgliche Situationen, in denen man nur ein symbolisches Zeichen setzen kann, wohl wissend, dass man sich nicht durchsetzt, wohl wissend, dass das eigene Scheitern folgen wird. Und es gibt diesbezüglich einen weiteren Aspekt. Von Karl Liebknecht stammt der Satz:

Nur wer das Unmögliche will, wird das Mögliche schaffen.

Weisheitssprüche haben etwas an sich, dass sie nicht ein für alle Male gelten können. Sie haben es an sich, sich zu widersprechen, denn die Situationen, in denen wir handeln müssen, sind so verschieden, dass sie auch verschiedene Antworten, ja, gegensätzliche Antworten erfordern. Sie kennen alle den Spruch: In der Ruhe liegt die Kraft. Aber dann gibt es gleich einen Satz von Leibniz:

„Die Ruhe ist eine Stufe zur Dummheit. Man muss stets etwas finden, was es zu tun, zu denken, zu entwerfen gilt, wofür man sich interessiert, sei es für die Öffentlichkeit oder den einzelnen.“

Das Finden der richtigen Lösung in all unseren Lebenssituationen ist kein Paukenschlag, die richtige Lösung auch nicht. Was in einer konkreten Situation die richtige Lösung ist, lässt sich nur in der Situation unter den Bedingungen derselben sagen und entscheiden. Die Situationen sind komplex, die Individuen auch. Sie stellen die Freiheit gegenüber allen Notwendigkeiten und Zwängen in Rechnung. Zur Weisheit gehört das Sehen der Freiheit in scheint´s vermauerten Situationen. Sie entwirrt den Knoten. Sie löst die Fesseln. Sie gibt Heiterkeit. Die Vernunft steht nicht auf irgendeiner Seite: nicht auf der des Es, nicht auf der des Über-Ich, nicht auf der der Realitätsanforderungen. Auch nicht auf der des Ich, etwa der puren Selbsterhaltung oder Selbstbehauptung. Die Unterscheidung in Vernunft und Verstand, so wie Kant sie vornimmt, hat den Sinn für die Vernunft verloren, obwohl gerade Kant, worauf ich noch kommen werde, gerade ein weiser Philosoph ist. Es geht, wenn es um Vernunft geht, nicht nur darum, die allgemeine Geltung von Urteilen zu begründen. Die Weisheit ist eine Form des Geistigen, die situativ und kommunikativ ist. Vernunft ist ein Handeln mit Situationsgerechtigkeit, sie geht davon aus, dass etwas bewegt werden kann. Dazu gehört die Fähigkeit, nicht nur Wahrheiten zu sagen, sondern einen Weg zu finden, der Überzeugungen erzeugt, auch wenn die Wahrheit eben noch nicht verbürgt ist. Leben ist ein offener Prozess. Leben kostet auch Mut. Man kann dabei verlieren, sogar verraten werden.

G.

Traditionelle Weisheitsformen sind nicht unbedingt als Vorbilder für vernünftiges Handeln einfach zu übernehmen. Es ist nicht nur eine Frage, ob die Weisheitslehre der Stoa noch zeitgemäß ist – oder auch jemals war. Mir scheint eine Lebenshaltung, in welcher die Unerschütterlichkeit des Gemüts (die Ataraxie), die Selbstgenügsamkeit (die Autarkie) und die Unabhängigkeit von äußeren Umständen (die Apathie) ein Klugheitsreglement zu sein, das in bestimmten Zeiten – vielleicht sogar ganzen Zeitepochen – helfen kann, das Leben zu ertragen, aber die freie Entfaltung der Seelenkräfte der Menschen ist das bestimmt nicht. Dabei wird gewissermaßen das Leben unentwegt gegen den Strich gebürstet, um leben zu können. Das Wagnis der Enttäuschung gehört zum Leben. Wer nicht enttäuscht werden will, sollte nicht zu leben beginnen, nur liegt das nicht in unserer Entscheidung. Leben ist ein Wagnis, dem Leben ist nicht auszuweichen. Das zu wissen, ist gerade Weisheit.

Auch der Pessimismus von Arthur Schopenhauer ist keine Vorlage für eine vernünftige Lebensführung, obwohl er das bekannteste deutschsprachige Buch zu diesem Thema geschrieben hat, die Aphorismen zur Lebensweisheit. Es trieft vor Pessimismus, der nicht die Gestaltung und Entfaltung des Lebens vor Augen hat, sondern ein geschicktes Durchkommen durch dieses Tal des Jammers. So heißt es in der zitierten Schrift:

„Wer aber vollends die Lehre meiner Philosophie in sich aufgenommen hat und daher weiß, dass unser ganzes Daseyn etwas ist, dass besser nicht wäre, und welches zu verneinen und abzuweisen die größte Weisheit ist, der wird auch von keinem Dinge, oder Zustand, große Erwartungen hegen, nach nichts auf der Welt mit Leidenschaft streben, noch große Klagen erheben […].“

Ich möchte nicht darauf hinaus, dass es nicht Phasen und Umstände des Lebens gibt, in denen man in solch strikte Negation des Lebens überhaupt geraten kann; ich bin weit davon entfernt, das Leben für eine rosige Angelegenheit zu halten; ich bin mir auch sicher, dass ohne die Erfahrung von Trauer, Einsamkeit, Scheitern, Schmerz, Ungerechtigkeit und Demütigung weder die Freiheit wirklich erfahren werden kann, noch die Vernunft die ganze Provokation des Lebens erfährt, um sich zur Weisheit durchzuringen.

H.

Meine Damen und Herren,

ich weiß, dass ich hier heute keine Theorie der Vernunft als den Geist der Lebensführung systematisch entfalten kann. Es kommt mir nur darauf an, diese Aufgabe aufzuzeigen und das Phänomen zu umreißen. Es ist auch eine wichtige Aufgabe für die Philosophie. Heute ist die Philosophie als Fach fast nur noch das, was Kant im Gegensatz zur Weltweisheit Schulphilosophie genannt hat. Sie ist Theorie geworden, oft nur von Experten zu verstehen. An die Psychotherapie hat sie ihre Kompetenz der Beratung von Menschen in Grenzsituationen nahezu vollkommen verloren. Erst wenn die Philosophie auch wieder eine Lehre der Weisheit ist, wird sie anschließen können an die einmal erreichte Höhe ihrer Tradition.

Ein weiterer Punkt, um den Bereich näher zu kennzeichnen, um den es mir hier geht, ist die Unterscheidung von Erfahrung und Erkenntnis. Natürlich ist jede Erfahrung auch eine Erkenntnis, aber nicht jede Erkenntnis eine Erfahrung. Erkenntnis muss nichts mit Weisheit zu tun haben, Weisheit ist aber etwas, das aus Erfahrung hervorgeht. Der Unterschied zwischen Erkenntnis und Erfahrung lässt sich gut an Hand der Mathematik erklären.

Die Mathematik erzielt ihre Ergebnisse, indem sie von dem Ich, von dem Bewusstsein, das sie ausübt, abstrahiert. Deshalb kann man ihre Ergebnisse an einer Tafel eins zu eins festhalten. Das lebendige Bewusstsein, wenn das zum Gegenstand der Erkenntnis wird, ist ein Phänomen fortgesetzter Erfahrung und lässt sich nur als Erfahrungsprozess darstellen, der selbstverständlich zu jedem Zeitpunkt eine Stufe der Erfahrung erreicht hat, auf der es sich äußern kann, von der es aber auch zurückfallen kann. Und kein Bewusstsein lässt sich als Formel oder Ergebnis an einer Tafel fixieren. Erfahrung ist ein Fluss und besitzt eine qualitative Komplexität, die von einem Ich nicht zu trennen ist. Erfahrung unterscheidet sich von Erkenntnissen prinzipiell dadurch, dass Erkenntnis als Abstraktion vom Ich möglich ist, Erfahrung dagegen nicht. Das Ich kommt in der Mathematik nicht vor. Darin liegt deren erstaunliche Produktivität und in gewissem Sinne auch ihre wortwörtliche Unmenschlichkeit, obwohl der Mensch zum Denken in dieser Sphäre fähig ist. Weisheit nun ist nichts Berechenbares. Sie geht – wie ich vorhin sagte – aus den gesammelten Erfahrungen eines sich seiner selbst und der Welt bewussten Ichs hervor. Aber sie ist nichts Zwingendes. Nicht jeder zieht aus seinem Leben die vernünftigen Schlüsse. Vernunft ist keine Muß-Größe, sondern eine Kann-Größe.

Die Erfahrung, das Medium unseres bewussten Seins sei der Fluss, hatte ich gesagt. Das drückt in wundervoller Weise Lessing aus:

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir ‚Wähle!‘ – ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ‚Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!‘“

I.

Ich möchte fast sagen, Philosophen, die das vergessen, vergessen das Spezifikum der Philosophie. Das Wissen um die Begrenztheit des Wissens bei aller Bemühung um Wissen war von Beginn an ein Kennzeichen des Philosophierens. Wenn jemand kaum etwas von der Philosophie kennt, so kennt er doch den Spruch des Sokrates: dass der wisse, nichts zu wissen. Ohne dieses Wissen um die Begrenztheit des Wissens gibt es keine Weisheit und keine Vernunft, auch wenn sich das paradox anhören mag. Das Wissen um die Begrenztheit des Wissens bringt die grundsätzliche Lebenslage der Menschen zum Ausdruck, nämlich handeln zu müssen, ohne alle Faktoren zu kennen, die eine Rolle spielen. Das Orakel von Delphi hatte Sokrates den Weisesten unter den Athenern genannt. Sokrates, der zunächst nicht wusste, warum die Pythia in Delphi dazu kam, das zu sagen, ging zu den Staatsmännern, den Dichtern und den Handwerkern, um es in den Gesprächen mit diesen herauszubekommen. Er fand, dass sie alle ein vortreffliches Wissen über ihre Bereiche besaßen, aber zugleich meinten, dass sie deshalb auch in allen übrigen Bereichen Bescheid wüssten. Darin nun unterschied sich Sokrates von den andern. Nachdem er bei einem für weise Gehaltenen war, kam er zu dem Ergebnis: „Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“ Dieses Bewusstsein um die Grenze allen Wissens muss man als Quell der unglaublichen Produktivität des Denkens und Bedenkens von Sokrates und seines Schülers Platon ansehen. Für sie war die Welt nicht nur das, was wir wissen, sondern auch das, was wir nicht wissen, also etwas Offenes, wie das weite Meer, das keine Küste erkennen lässt – und nur das Offene erzeugt die Produktivität des Fragens. Von daher kein Wunder, dass, wie der amerikanische Philosoph Whitehead sagte, die gesamte Philosophie bis heute nur aus Fußnoten zu Platon besteht.

J.

Ein weiteres Kennzeichen der Vernunft lässt sich aus ihrem Verhältnis zu Angst und Furcht beschreiben. Die Vernunft kennt die Furcht vor konkreten Bedrohungen und Gefahren des Lebens, auch die unbestimmte Angst vor dem Nichts angesichts der Unendlichkeit des Kosmos, aber sie handelt weder aus Furcht noch aus Angst. Sie erlangt die ihr eigene Freiheit gerade, indem sie sich von Furcht und Angst nicht jagen und treiben lässt, sondern zur Besonnenheit findet, d.h. das Subjektive, das jedes Ich immer ist, in den objektiv gegebenen Zusammenhängen zu verstehen fähig ist. Ich erinnere an die Weisheit des Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal:

„Der Mensch ist nichts als ein Rohr, das schwächste der Natur, aber ein denkendes Rohr. Es ist nicht nöthig, dass das ganze Universum sich rüste ihn zu zermalmen. Ein Dunst, ein Tropfen Wasser reicht hin ihn zu tödten. Aber wenn das Universum ihn zermalmte, würde der Mensch noch edler sein als das, was ihn tödtet, weil er weiß, dass er stirbt und welchen Sieg das Universum über ihn hat, das Universum weiß nichts davon. Also alle unsre Würde besteht im Denken. Dessen müssen wir uns rühmen, nicht des Raums und der Dauer. Wir müssen uns also bemühen gut zu denken, das ist die Grundlage der Moral.“

Die geistige Unabhängigkeit, die aus dieser Perspektive zu gewinnen ist – ich glaube, das ist es eigentlich auch, was man immer von einem Philosophen erwartet, diese Distanz zum Alltag –, ist eine der tiefen Quellen von Vernunft und der Weisheit. Aber auch sie ist nicht frei davon, geradezu in ihr Gegenteil umzuschlagen, wenn sie sich über die konkrete gegenwärtige Situation hinweg denkt und anstatt sich praktisch im Hier und Heute zu begreifen, kontemplativ im kosmisch Unendlichen herumschwirrt, ohne jemals Land zu sehen. An diesem Beispiel tritt ein Zug der Vernunft deutlich hervor: Vernunft kann immer in Extreme geraten, weil sie im Ideellen beheimatet ist, sie ist aber nur vernünftig, wenn sie dies durchschaut und zur Erde zurückfindet, wo alles Ideelle den Raum ihrer Fragen und Antworten hat.

K.

Und da ich gerade bei Pascal bin, möchte ich noch auf grundsätzliches Merkmal der Vernunft eingehen, das er in der klarsten Weise zum Ausdruck bringt.

„Wir erkennen die Wahrheit nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen. Gerade diese letzte Art erkennen wir in den ersten Prinzipien, und vergebens trachtet die vernünftige Überlegung, die nicht daran beteiligt ist, jene zu bekämpfen […]. Wie ohnmächtig wir auch sind, es mit der Vernunft zu beweisen, so ist doch aus dieser Ohnmacht nichts anderes als die Schwäche unserer Vernunft zu schließen, nicht aber die Ungewißheit all unserer Erkenntnisse […]. Denn die Erkenntnis der ersten Prinzipien, wie etwa, dass es Raum, Zeit, Bewegung, Zahlen gibt, ist ebenso sicher wie irgendeine von jenen, die unsere vernünftigen Überlegungen uns vermitteln, und auf diese Erkenntnisse des Herzens und des Instinkts muss die Vernunft sich stützen und darauf ihre ganze Urteilskraft begründen.“

Was ist hier mit dem Herzen gemeint? Ich möchte es nicht zu eng interpretieren. Es gibt in uns einen Wegweiser, der nicht nur aus der verständigen Rationalität oder der vernünftigen Idealität stammt, sondern aus dem Natursein des Menschen: ein Naturwille in uns, zu dem ein nicht weiter in Frage zu stellender Wunsch nach Glück gehört, nach Entfaltung des Selbst, nach Zugehörigkeit zu den Mitmenschen, was wir Gemeinsinn nennen können, ein Glaube, dass die Welt in ihrem unendlichen und unermesslichen Bestand auch die Hoffnung auf ein zukünftiges Bestehen berechtigt erscheinen lässt. Nur wenn die Vernunft dieses Andere ihrer selbst anerkennt und – ich möchte sagen – demütig zu ihrer eigenen Sache macht, wird sie wirklich Vernunft sein.

Nur wenn wir die Weisheit zurückerlangen als die Wirkstätte unserer Vernunft, werden wir auch in den Bereichen der Rationalität: der Zweckrationalität, der instrumentellen Vernunft, der Effektivität, des Nutzens, des Berechenbaren in Wissenschaft, Wirtschaft und Technik zu vernünftigem Handeln fähig sein – und sie nicht als entfremdete Kräfte ansehen, die über uns hereinbrechen und uns zu Opfern machen.

L.

In der Ankündigung zu diesem Vortrag hatte ich geschrieben, dass die Ressource Vernunft die größte Provokation ist. Unentwegt sind wir in unserem Leben dabei, unser Leben zu führen, zu gestalten, nicht minder als wir atmen und uns ernähren müssen. Geistig sind wir mit der Welt nicht minder verbunden als sinnlich und biologisch. Unser Leben ist ein ständiger Entscheidungsprozess, selbst in den kleinsten, alltäglichsten Dingen, die wir gar nicht bemerken. Und es ist und war nie nur ein Ordnungshüter. Die Vernunft ist das Lebendige, das nicht Reglementierte. Die Vernunft war zu allen Zeiten eine Quelle der Inspiration und Motivation, das jeweils Bestehende mit Ideen zu konfrontieren, die den Horizont des Gegenwärtigen überstiegen und dessen oft vorhandenen Absolutheitsanspruch in Frage zu stellten. In allen Epochen war die Vernunft ein Unruhestifter und Aufwiegler gegen herrschende Unvernunft – wir brauchen nur an Sokrates und Jesus zu denken, den Prototypen der Vernunft. Auch wenn sie beide von ihren Zeitgenossen als Provokateure der bis dahin gültigen Lebensordnung hingerichtet wurden, ihre Botschaften hatten doch eine Kraft, die nicht auszurotten war, der sich die Menschen durch alle Epochen hindurch nicht entziehen konnten: Beide sind zu den Begründern unserer Kultur geworden. Offensichtlich haben wir alle doch eine Affinität zu dem, was sie uns mitteilten. In uns wirkt nicht nur die Unvernunft, sondern auch die Vernunft. Nicht immer ist sichtbar, worin die Vernunft von irgendwelchen Geschehnissen besteht, oft wird die List der Vernunft erst viel später durchschaut. Eines ist jedenfalls gewiss: Unvernunft findet keine Ruhe, die Vernunft gibt keine Ruhe. Sie ist die nachhaltigste Provokation. Es täusche sich niemand.

An der Wiege zu allem Neuen steht die Vernunft Pate. Die Geschichte ist in ständiger Bewegung, nicht immer hat sie solche Fahrt aufgenommen wie gegenwärtig. Es scheint als würden wir heute in eine neue Achsenzeit hineingeraten – oder schon mitten drin sein. Ein Umbruch deutet sich mit der Globalisierung und den neuen technischen, kommunikativen Möglichkeiten an, dessen Folgen wir kaum abschätzen können. Unter diesen Bedingungen müssen wir unser Bewusstsein öffnen, um Ahnungen für das wünschenswert Neue, Andere der Zukunft hervorzubringen. Es geht nicht weiter mit Nationen oder Religionen, die sich gegenseitig bekämpfen. Es geht nicht so weiter, dass die Menschen auf dem einen Kontinent verhungern und auf dem andern vor Überfluss erkranken. Es geht nicht so weiter, dass die einen Arbeit haben und die andern alimentiert werden. Und so weiter, und so weiter. Wer diese neuen Möglichkeiten nicht als Notwendigkeiten erkennt, sondern als Utopien, als Spinnereien abtut, hat die dynamische Kraft der Vernunft noch nicht begriffen. Zu begreifen, dass die Vernunft eine dynamische Kraft der Geschichte ist, ist geradezu einer der wichtigsten Erkenntnisschritte in der Gegenwart.

M.

Am nächsten Freitag, dem 20. April führen wir eine Anarchonacht pro Vernunft durch. Sie sind herzlich eingeladen. Diese Nacht soll ein Ort sprudelnder, produktiver Diskussionen und Auseinandersetzungen sein. In einer Zeit des Umbruchs ist es nicht ratsam, die Gedanken weiter in den alten Bahnen kreisen zu lassen, sondern als eine Zeit der Offenheit zu nutzen. Verwirrende Gegenwartsanalysen, wagemutige Ausblicke in die Zukunft, kritische Fragen und Antworten, erfrischende Deutungen alter Texte – all das soll auf den Tisch! Die Vernunft wagt das Chaos.

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