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In welcher Zeit philosophieren wir? — 01.2006

Stamer in philosophie.de

Nachklang zu Harold Pinters Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an ihn.

Manchmal frage ich mich, ob uns eigentlich richtig klar ist, in welcher Zeit wir philo- sophieren und leben. Manchmal habe ich das Gefühl, wir Philosophen – mit der großen Tradition des Fachs auf dem Rücken, ein gutes Kamel würde Nietzsche höhnen – haben noch nicht zu brüllen begonnen, sind noch keine Löwen geworden, was wir auch eigentlich noch nie gewesen sind. Oder wollen wir gleich zur Unschuld des Kindes übergehen?

Noch einmal: In welcher Zeit philosophieren wir? Schaffen wir es, unsere Zeit in Ge- danken zu fassen, unsere Zeit auf den Begriff zu bringen, selbst wenn wir an unsere Zeit den Maßstab des Unendlichen anlegen? Oder haben wir gar nicht diese Aufgabe? Verheben wir uns an ihr? Sollten wir der Tradition unbeirrbar zugewandt bleiben, um gegen die Ablenkungen der Gegenwart gefeit zu sein und nicht selbst in den Strudel mit hineingezogen zu werden? Sind wir am präsentesten, wenn wir das Unendliche und Zeit- lose in den Katastrophen der Zeitläufe festhalten? Wollen wir den Engel spielen, der mit dem Rücken in die Zukunft fliegt? Oder tauchen wir ein in die Fluten der Gegenwart, um aktuell zu sein? Es ist nicht leicht, in Zeiten des Wandels Philosoph zu sein.

Harold Pinter, der Dichter, kein Philosoph, hat gewissermaßen vom Olymp herunter zu unserer Zeit Stellung genommen. In seiner Nobelpreisrede prangert er die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika unversöhnlich an.

„Wie jeder der hier Anwesenden weiß, lautete die Rechtfertigung für die In- vasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hoch gefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige binnen 45 Minuten abgefeu- ert werden könnten, mit verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit.“

„Jeder weiß, was in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa während der Nachkriegszeit passierte: die systematische Brutalität, die weit verbreiteten Gräueltaten, die rücksichtslose Unterdrückung eigenständigen Denkens. All dies ist ausdrücklich dokumentiert und belegt worden.“

„Aber ich behaupte hier, dass die Verbrechen der USA im selben Zeitraum nur oberflächlich protokolliert, geschweige denn eingestanden, geschweige denn überhaupt als Verbrechen wahrgenommen worden sind. Ich glaube, dass dies benannt werden muss, und dass die Wahrheit beträchtlichen Einfluss darauf hat, wo die Welt jetzt steht.“

„Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Bra- silien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen,…und natürlich Chile. Die

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Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie ver- ziehen werden. In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts.“

„Was ist aus unserem sittlichen Empfinden geworden? Hatten wir je eines?“

Pinters Rede ist in zweierlei Hinsicht ein Skandal. Sie ist ein Skandal, wenn das stimmt, was er sagt und sie ist ein Skandal, wenn das nicht stimmt, was er sagt. Denn wenn es stimmt, ist unser Erdball der Politik einer verbrecherischen Supermacht ausgesetzt, wenn nicht, dann ist diese Rede eines Nobelpreisträgers die übelste Verleumdung der herrschenden Ordnungsmacht und des Landes der Demokratie, die in der Öffentlich- keit möglich ist. Und sie muß sofort zurückgenommen werden. Sie muß Folgen haben, mindestens ein juristisches Nachspiel, dass ihn zur Rechenschaft zieht, ihn als gemeinen Lügner bloßstellt.

Aber was ist geschehen? Unser Blätterwald geht sehr zurückhaltend mit dieser Rede um. Sonst immer um jeden Skandal bemüht, wird hier nichts ausgeschlachtet. Es sieht so aus, als ignoriere man die Rede oder distanziere sich bloß von ihrer ungehemmten Polemik. Zwar sickert die Rede in der Öffentlichkeit durch, aber sie steht nirgendwo auf der ersten Seite. Sie ist höchstens eine kleine Notiz wert. Was soll man daraus schließen?

Offensichtlich zunächst, dass Harold Pinter nicht in skandalöser Weise Märchen aufge- tischt hat, ansonsten hätte man ihn öffentlich gesteinigt. Für relativ harmlose moralische Verfehlungen werden Menschen von den Medien gnadenlos verfolgt. Es muß was dran sein an seiner Anklage. Es ist was dran. Denn das, was er anführt, ist in vielen seriösen Veröffentlichungen – und zwar seit Jahren – zu lesen. Man muß sie nicht zitieren. Sie sind bekannt. Es ist nichts Neues, keine Enthüllung, was Pinter vorbrachte. Nur dass es ein Nobelpreisträger auf der höchsten Stufe kultureller Adelsverleihung sagt, das ist das Neue.

Pinters Rede hat etwas von einem Ausdruck der ungezügelten Emotionalität. Sie schreit etwas heraus, wie Kassandra vor dem Untergang Trojas. Es ist nur ein Schrei. Die absolute Macht ist auf der anderen Seite. An ihr prallt der Schrei wie ungehört ab. An dem Schrei spürt man schon die Verzweiflung der Machtlosigkeit. Er wird nichts bewirken. Das Unheil geht weiter. Das sagt der Schrei, aber immerhin, er sagt es. Und er schreit es.

Warum schreit unsere Presse, warum schreien unsere Medien nicht? Das ist die Frage. Denn wenn Pinter Recht hat, dann muß man schreien oder sehr ruhig werden wie ein Seemann bei harter See. Wenn man weder das eine noch das andere tut, dann ist das, was Pinter tat, peinlich, wie immer wenn jemand plötzlich die unangenehme Wahrheit emotional äußert.

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Die Zurückhaltung der Medien angesichts der Rede von Pinter riecht nach Peinlichkeit. Warum Peinlichkeit? Weil er Recht hat, aber die Medien – und der überwiegende Teil der Bevölkerung längst dazu übergegangen sind, den Skandal als Normalität zu empfinden. Die einen sind moderat, die anderen stecken den Kopf in den Sand. Es gibt Leute, die sehen weg, wenn auf der anderen Straßenseite ein Verbrechen geschieht. Und es gibt Zeiten, in denen die Menschen so leben, als würden sie von ihrer Gegenwart wegsehen. Aber Europa ist nur dann stark, wenn es moralisch stark ist. Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Europafrage. Die aktuelle Identität Europas liegt in der Moral. Sie muß erworben werden. Im Wetteifern auf ökonomischer Ebene wird Europa sich verlieren. Im Rückblick wird sie nicht gefunden.

Es geht nicht bloß um die Forderung, dass Guantanamo geschlossen wird – das selbst- verständlich auch! –, es geht um die Forderung, dass gegen die amerikanische Regierung der Prozeß gemacht wird wegen Kriegsverbrechen, denn das ist die einzige logische Kon- sequenz, wenn die Begründung des Krieges erlogen ist. Und diese Forderung lässt sich nicht vom Tisch wischen mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus. Den stärksten Anti- amerikanismus betreibt die gegenwärtige Regierung der USA.

Und wir Philosophen? Wollen wir den kategorischen Imperativ in Zukunft nur noch am Sonntag festlich predigen? Oder ist er das scharfe, unantastbare, keinem Schacher auszuliefernde Kriterium der Menschenrechte und Menschenwürde?

Gerhard Stamer
auf philosophie.de

Was ist Philosophische Praxis? — 12.2005

Stamer in philosophie.de

Ein Gespenst geht um, nicht in Europa, aber in der Philosophie. Was ist philosophi- sche Praxis, wenn sie groß geschrieben wird: Philosophische Praxis? Etwas anderes als praktische Philosophie?

Viele wissen es, dass dies eine Richtung in der Philosophie ist, die von Gerd Achenbach Anfang der 80er Jahre initiiert wurde und Beratungen anbot, vornehmlich mit einem außeruniversitären Verständnis. Eine Gesellschaft wurde gegründet, die sich zunächst „Gesellschaft für Philosophische Praxis“ (GPP) nannte, dann später wegen der zahlrei- chen internationalen Kontakte „Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis“ (IGPP). Der Initiator hat vor zwei Jahren den Vorstand verlassen. Seither hat die Gesell- schaft einen offeneren Charakter und unverkennbar eine programmatische Entwicklung genommen. Zur Beratung ist die Bildung als ein zweiter Bereich der Praxis hinzugetre- ten. Nicht dass Bildung zuvor in der IGPP nicht betrieben wurde, aber sie bestimmte nicht das Selbstverständnis der Philosophischen Praktiker.

Philosophische Praxis – inzwischen auch von vielen Dozenten an der Universität nicht nur anerkannt, sondern auch gefördert, wenn nicht sogar selbst betrieben – weitet sich immer mehr aus zu einer ernst zu nehmenden Alternative zu der traditionellen univer- sitären philosophischen Ausbildung und Forschung. Das ist nicht verwunderlich, denn einerseits erhält sie ständig Zulauf von Studenten, die ihr Studium absolviert haben, aber keine Tätigkeit an der Universität finden; andererseits erweist sich die Gesellschaft in vielen Bereichen geradezu als philosophiebedürftig.

Philosophen sind kompetent:

  • in der Begründung von Werten,
  • in der Analyse fachübergreifender, komplexer Gegenwartsfragen und -probleme,
  • in der Reflexion auf politische Probleme der modernen Wissenschaft und Technik,
  • in der Gesamtdeutung der historischen Situation,
  • in der Aktualisierung theoretisch systematisierter historischer Erfahrung,
  • in der Beratung überökonomischer Zusammenhänge in der Wirtschaft, sowie in der Politik und in anderen Disziplinen,
  • in der Hilfe zur persönlichen Identitätsfindung, im Gespräch über Sinnfragen,
  • in der Ausbildung eines kritischen Bewusstseins, das Distanz zum Zeitgeist ermög-licht.Dies ist eine Zusammenstellung, die keinen systematischen oder abschließenden An- spruch erhebt, aber sichtbar macht, wie breit das Angebot ist, das von Philosophen ausgehen kann und ausgeht. Es zeigt, welche Aufgaben Philosophen übernehmen kön- nen.

Was ist Philosophische Praxis? — 12.2005 2

Vor dieser Entwicklung kann die universitäre Philosophie die Augen nicht verschlie- ßen. Sie wird sich den gesellschaftlichen Aufgaben stellen müssen. Auch wenn natürlich die alten Bahnen eingefahren sind, macht sich doch längst auch an den Universitäten ein verstärktes Interesse an den Tätigkeiten von Philosophen außerhalb der Universität bemerkbar. Zum Beispiel wirken an dem von mir geleiteten Institut REFLEX Dozenten der Universität seit über einem Jahr im Beirat mit. An mehreren Vortragsreihen, zu denen ich einlud, nahmen namhafte akademische Experten teil. Auch der Beirat der IG- PP setzt sich aus bekannten Professoren zusammen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Man muß nicht offene Türen einrennen wollen.

In dieser Situation ist die Philosophie an der Universität gefordert. Ihr kommt jetzt auch die Aufgabe zu, Studenten auf ihre außeruniversitäre Tätigkeit vorzubereiten. Und dies mindestens in dreierlei Hinsicht:

  • Studenten müssen die Fähigkeit erwerben, philosophische Texte nicht nur sich selbst anzueignen und zu interpretieren, sondern sie müssen Menschen, die nicht Philosophie studiert haben, sie vermitteln können.
  • Es muß die Fähigkeit erworben werden, philosophische Texte nicht nur zu inter- pretieren, sondern sie auch auf die gesellschaftliche Gegenwartssituation beziehen zu können.
  • Es muß Philosophie in einer Form vermittelt, bzw. gelehrt werden, dass bei der praktischen Inanspruchnahme in den verschiedenen Praxisfeldern außerhalb der Universität die theoretischen Grundlagen nicht verloren gehen; anders: dass die Philosophie als vita contemplativa und ihre theoretische Seite nicht vor die Hunde geht.Diese notwendig gewordene Erweiterung der Aufgabenbestimmung an der Universität wird dazu beitragen, die Bedeutung der Philosophie in der Öffentlichkeit zu verstärken, so dass sie die Orientierung stiftende Rolle erlangt, die keine andere Disziplin auszufüllen vermag.—
    Gerhard Stamer auf philosophie.de

Soll man es empfehlen, Philosophie zu studieren? — 11.2005

Stamer in philosophie.de

Gerade ist ein Abiturient zu mir gekommen, der einen nicht ganz unbekannten Philosophen besucht hatte, um sich von ihm für ein Studium der Philosophie beraten zu lassen. Der nicht unbekannte Philosoph hatte ihm entschieden abgeraten. Das Philoso- phiestudium böte überhaupt keine Berufsperspektive mehr. Immer mehr Stellen an den Universitäten würden gestrichen. Und er wolle ja wohl nicht als Taxifahrer enden. Hoffnung könne er ihm jedenfalls machen. Der Abiturient hätte nun verwirrt sein müssen nach einer solch niederschmetternden Aussicht, die ihm ein Mann vom Fach servierte. Aber das war überhaupt nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, amüsierte er sich über die höchst resignative Einstellung des Professors an einer der berühmtesten Universitäten des Landes. Und ganz im Gegenteil ist auch seine Absicht , Philosophie zu studieren, durch die Schwarzmalerei des Professors nicht in geringsten in Zweifel geraten. Ja klar, könnte man sagen, die Jugend hat eben noch nicht den Blick für die Realität. Und man könnte auch darauf hinweisen, dass einst Schiller den jungen Novalis nicht zur Lyrik geraten hat, sondern ihm dringend anempfahl, eine vernünftige Berufswahl zu treffen. Wer kennt ihn nicht, den väterlichen Spruch, doch nicht eine der brotlosen Künste zum Beruf machen zu wollen. Und es trifft zu, dass Stellen gestrichen werden. Und es trifft zu, dass ein hoher Prozentsatz der Absolventen des Philosophiestudiums in einem Job landen, zu dem sie kein Studium brauchten – abgesehen von dem ebenfalls hohen Pro- zentsatz der Studienabbrecher. Kann es also ein vernünftiger Vertreter der Philosophie einem Abiturienten raten, Philosophie zu studieren?

Was ist Realität? Worin besteht ein Realitätssinn? Es ist die Frage, wie weit sich der ältere Ratgeber mit seinem Realismus, den er sich zu Gute hält, selbst durchschaut. Zunächst setzt ja der Professor, der sicherlich über die Streichungen von Stellen an der Universität empört ist, und der sicherlich auch deprimiert ist, weil er seinen Studen- ten keine großartigen und sicheren Perspektiven zu einer Berufsausübung als Philosoph geben kann, mit seiner negativen Einstellung die Tendenz zur Stellenstreichung und überhaupt zur Verringerung des quantitativen Anteils der Geisteswissenschaft an den Studienfächern fort. Er fängt mit seiner Haltung gewissermaßen die Studenten schon vor Beginn des Studiums ab. Er löst das Problem der Bürokratie mit arbeitslosen Studien- abgängern, das später entsteht, schon am Anfang – selbstverständlich außerordentlich wohlmeinend. Sicherlich versteht er sich ernsthaft als ehrlicher Berater der Jugendlichen. Aber dass er zugleich der Agent der Bürokratie, bzw. einer Gesellschaft ist, die junge Menschen in die Arbeitslosigkeit schickt, das ist ihm wohl entgangen. Entgangen ist ihm auch wohl, dass der Realismus eines älteren Menschen ein anderer ist als der eines jungen Menschen. Der ältere trägt keine Berge mehr ab, der junge mag daran scheitern, es zu wollen, aber bis zu dem Zeitpunkt, an dem er scheitert, ist nicht gewiß, ob er scheitert.

Jugend setzt etwas in Bewegung. Es steht nicht fest, ob die Eingliederung einer stets wachsenden Zahl qualifizierter junger Menschen in die Schubläden der sozial abgesicher- ten Arbeitslosenstatistik wirklich gelingt. Die Gesellschaft ist im Fluß. Er kann so gar nicht mehr weitergehen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange es so noch weiter- geht. Dies zu wissen, wäre einem Philosophen würdig. Sich darauf vorzubereiten, das wäre eine Sicht der Dinge, die einem Philosophen entspräche. Diesen Wandel nicht nur vorauszusehen und sich darauf einzustellen, sondern mit Ideen ihn zu beschleunigen, ihn zum Durchbruch zu verhelfen, das wäre die Konsequenz für einen Philosophen – zumal für einen jungen; für einen älteren aber, ihn auf diese anstehende gesellschaft- liche Auseinandersetzung vorzubereiten. So aufgefaßt würde die Philosophie lebendige aktuelle Philosophie sein, als deprimierter hingegen die Studenten zu verscheuchen, ist der Verlust des philosophischen Elans. Da bekommt der alte Vorwurf gegen die Philoso- phie, dass sie doch im Kern unpraktisch sei, neue Nahrung In ihrer resignativen Form ist sie unpraktisch. Die Gesellschaft braucht dringend Philosophie in dieser Zeit, in der alles der Ökonomie zu verfallen scheint, in der ungeahnte Probleme bestehen, die nicht einmal angefasst sind – von den geahnten und gewussten ganz zu schweigen. Die Ge- sellschaft braucht Philosophen, deshalb ist es unverantwortlich, wenn Philosophen vom Philosophiestudium abraten.

Machen wir Älteren uns nicht die Sorgen um die Jugend. Das war schon immer lächer- lich. Die Jugend ist und bleibt im Aufbruch und die altväterliche Besorgtheit – womöglich noch für Weisheit gehalten – ist nicht ihre Realität.

Gerhard Stamer auf philosophie.de

Die Freiheit: das letzte Irrationale? — 10.2005

stamer in philosophie.de

Bei der Betrachtung der theoretischen Diskurse, die seit mehr als einem Jahrhundert über den Begriff der Freiheit geführt werden, drängt sich der Eindruck einer offensicht- lichen Paradoxie auf, dass nämlich die Negation der Freiheit oft mit einer Intention betrieben wurde, der es um die Befreiung des Menschen ging . Befreiung ohne Freiheit: Wie sollte das gehen? Ob es sich dabei um die abgewetzte Formel von Karl Marx dreht, das (gesellschaftliche) Sein bestimme das Bewusstsein oder um die höhnische Äußerung von Siegmund Freud, wir würden angesichts der Umtriebe des Unbewussten nicht einmal Herr im eigenen Hause sein: Was sollten all diese Aufklärungen, die den Menschen die Freiheit absprechen, um ihn zu befreien? Denn um Befreiung, um soziale und psychische ging es doch? Was konnte nur in diesen Widersinn führen?

Es bedarf keiner besonderen analytischen Arbeit, um zu sehen, dass sich die beiden zitierten Emanzipationskonzeptionen darum bemühten, im Zeitalter der Verabsolutie- rung der naturwissenschaftlichen Erkenntniskriterien den szientistischen Ansprüchen zu genügen. Ihre Ergebnisse sollten begründet sein, sollten empirisch, bzw. praktisch veri- fizierbar sein, sollten kausale – auch wenn dialektisch kausale – Wirkzusammenhänge aufdecken, Gesetze und Gesetzmäßigkeiten ermitteln. Sie sollten feststellen, dass es so und so ist und nicht: dass es so und so sein kann, aber auch ganz anders. Die Ver- pflichtung auf den Szientismus – auch im Gewande von Dialektik oder Psychoanalyse – bedeutet den Ausschluß der Annahme von Freiheit.

Wenn das der naturwissenschaftlichen Methode immanent ist, die Welt als kausal de- terminierten Zusammenhang zu beschreiben, und die Welt ein solcher ist, was ist dann die Freiheit? Dann ist sie als Negation der durchgehenden Einheit der Welt das eigentlich Irrationale. Denn was die Natur betrifft, ließe sich beruhigend den Erklärungen vieler Naturwissenschaftler folgen: es sei nur noch eine Sache der Zeit, bis auch die Zusammen- hänge erforscht wären, die sich bislang unserer Kenntnis entzögen. Immer mehr Licht komme in die Dinge. Keinesfalls hätte die moderne Physik den durchgehenden Determi- nismus der Natur in Frage gestellt. Die Relativitätstheorie Einsteins sei natürlich keine Lehre davon, dass ihre Ergebnisse relativ seien. Die Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs verstehe sich selbst keineswegs als eine unbestimmte Mutmaßung, sondern als gültige na- turwissenschaftliche Erkenntnis. Die gesamte Natur erweise sich als ein Zusammenhang von Ordnungsstrukturen, auf die die Mathematik erfolgreiche Anwendung findet. Selbst im Chaos gäbe es Ordnung, wie wir wissen, seit die Apfelmännchen entdeckt sind.

Dieser Tendenz, den geschlossenen Ordnungszusammenhang von Natur und Welt zu ergründen, verbindet sich in der Moderne eine zweite, nicht weniger folgenreiche: Alles Geistige wird auf Materielles zurückgeführt; seien dies nun die Gesellschaft und der psychische Apparat oder wie in jüngster Zeit die Gene und das Gehirn. Darin scheint sich Wissenschaft gewissermaßen auszuweisen, dass dem Bewusstsein die Konstitutivität, d.h. die Freiheit abgesprochen wird. Trotz der Evidenzen in der eigenen Alltagserfahrung verfechten gegenwärtig einige Hirnforscher die Behauptung, dass die Freiheit nur eine Illusion sei und gänzlich rückführbar auf neuronale Prozesse im Gehirn. Freiheit könne es gar nicht geben. Das wäre ein Sprung in der Wirklichkeit.

Bis zu Jürgen Habermas geht dieser Trend, auch wenn er besagten Hirnforschern widerspricht. Denn auch dem nachmetaphysischen Denken, dem er sich verschrieben hat, geht es darum, das Denken von seinen „Unabhängigkeitsillusionen“ zu heilen. Der Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie, wenn auch in prag- matischer Ausdeutung, ist die Negation des Ich als der operativen Schaltstelle, die sich Bedingungen – äußere und eigene – vergegenwärtigen kann, um sich nach Werten und Zielvorstellungen zu richten, die durch kritische Reflexion geprüft und angeeignet wurden.

Freiheit ist nicht nur die Einsicht in das Notwendige. Freiheit ist auch die Poten- zialität, die geltende Notwendigkeiten zu sprengen vermag und darüber hinaus selbst Notwendigkeiten in die Welt setzen kann.

Auch wenn Freiheit kaum denkbar ist, ohne Kenntnis der Bedingungen unter denen Entscheidungen zu treffen sind; und auch wenn Entscheidungen prinzipiell im Angesicht von Bedingungen stattfinden – auch freie Entscheidungen –, so machen doch die Bedin- gungen nicht die Entscheidung aus. Die Aufklärung über die Bedingungen der Freiheit hebt die Freiheit selbst nicht aus den Angeln. Die Bedingungen der Freiheit sind nicht mit der Freiheit selbst zu verwechseln.

Freiheit ist und bleibt das nicht Fassbare am Menschen. Wäre sie fassbar, wäre sie nicht die Freiheit. In der Freiheit tritt der Mensch das schöpferische Erbe der Natur an. Daß Freiheit und Vernunft sich fest verbinden, scheint eine langfristige – immer wieder unterschätzte und immer wieder in die Verzweiflung treibende – historische Aufgabe der Gattung zu sein. Wegen der Barbarei, die aus der Freiheit des Menschen hervorging, wofür wir bis in die jüngste Geschichte Beispiele haben, die Freiheit unterbinden zu wollen, wäre ein hoffnungsloser – und auch inhumaner Versuch. Freiheit lässt sich auch nicht auf Vernunft reduzieren. Sie sitzt tiefer im Menschen. Angst vor der Freiheit aus Angst vor der Barbarei, führt nur dazu, das Leben an die Kette zu legen – und das gelingt nicht – und wo es für kurze Zeiträume gelingt, erzeugt es Langeweile und Überdruß. Man muß sich auf die Freiheit schon einlassen und die Rationalität der Freiheit zur Aufgabe des Denkens machen. Durch keine Erkenntnis und durch keine Methode lässt sich die Freiheit verdrängen. Wo sie verdrängt wird, wird sie böse, d.h. erst recht irrational.


Gerhard Stamer auf philosophie.de

Aufgeklärte Metaphysik — 06.2005

Stamer in philosophie.de

Der Kirchentag von Hannover ist vorüber. Und wer – als Bewohner dieser Stadt – das Glück hatte, dabei zu sein, wird zu mancherlei Fragen gedrängt. Über zweihundert Jahre Säkularisation: und immer noch nicht ist sie an ihr Ende gelangt! So viele junge Menschen tummelten sich in den Tagen in Hannover herum, eben nicht nur ältere regelmäßige Kirchengänger, daß an ein Auslaufen der Religion als Teil der Kultur nicht zu denken ist – selbst in unseren westeuropäischen Breiten nicht; ein Eindruck, der auch in den Tagen vor und nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. zu gewinnen war. Von Gleichgültigkeit in der Öffentlichkeit keine Spur.

Wie ist das in Übereinstimmung zu bringen mit der geschichtsphilosophischen Ein- schätzung prominenter Philosophen und Wissenschaftler, daß wir in eine nachmetaphy- sische Etappe der Geschichte eingetreten wären; und daß Aufklärung eigentlich bedeute, die Metaphysik zu überwinden, überwunden zu haben, und damit auch die Religion als rationale Einstellung zu unserer Lebenswelt?

Was ist los? Wie soll man es deuten? Oder ist die Wahrnehmung, daß die Religion noch lebt falsch? Angenommen, sie ist nicht falsch: Wollen die Menschen nicht aufgeklärt leben? Boykottieren sie gegen besseres Wissen die Aufklärung? Lieben sie den Selbstbe- trug so sehr, daß sie lieber in einer schönen Welt der Märchen leben als in der Realität nackter Wahrheiten? Ist es wirklich so, daß die Menschen die Realität nicht ertragen und sich was vormachen müssen? Ist es so, daß wir nicht anders können, als uns das Opium der Religion immer wieder einzuflößen?

Was ist los? Können wir uns nicht vorstellen, das wirklich etwas dran ist an der Re- ligion und Metaphysik? Warum sollten denn die Recht haben, die von dem Ende der Metaphysik und Religion sprachen und sprechen, besonders wenn sie etwa schon einge- stehen, religiös unmusikalisch zu sein? Ist es denn mehr als ein Mitschwimmen mit der Oberströmung des Zeitlaufs zweier Jahrhunderte, von einer nachmetaphysischen Epoche zu sprechen? Sind denn die Fragen der Metaphysik von den Wissenschaften beantwortet? Was mit der Seele nach dem Tode geschieht? Woher die Ordnung in der Welt kommt? Was denn der Geist sei, der zur Erkenntnis befähigt? Und worin das Wunder der Freiheit beruht? Die Negation dieser Fragen ist noch kein Fortschritt. Das Bewusstsein auf die Fragen einzuengen, die empirisch zu beantworten sind, stellt keine Lösung dar, wenn die darüber hinausgehenden Fragen weiterhin in unseren Köpfen bleiben. Verbotsschilder für Fragen sind kein Zeichen für Aufklärung. Ist angesichts dieser Situation nicht eine ganz besondere kopernikanische Wende wieder einmal fällig? Wäre unter diesen Umständen nicht eine theoretische Einstellungsveränderung angebracht, derart, daß nicht mehr da- von ausgegangen wird, die menschliche Geschichte begänne mit dem Mythos und führe zwangsläufig zur mathematisch und empirisch feststellbaren Welt von Fakten und Wer- ten und in Folge dessen zur Überwindung von Religion und Metaphysik, sondern derart, daß Religion und Metaphysik selbst höchst rationale Gebilde der Erkenntnis sind, ja, daß sie zur Aufklärung unserer ins kosmisch Unendliche gehenden Lebenswelt gehören?

Noch einmal: die Negation von Fragen, die uns nicht gleichgültig sein können, ist keine Aufklärung – selbst wenn diese Fragen unbeantwortbar erscheinen oder es sogar sind.

Höchst rational ist hingegen die Unterscheidung zwischen Fragen, die beantwortbar sind und die nicht beantwortbar sind. Nicht das Eliminieren von Fragen ist aufgeklärt, sondern die Klärung ihres Erkenntnisstatusses. Zu sagen, daß ich etwas nicht weiß, ist rationaler, als nur davon zu reden, was ich weiß und über das übrige zu schweigen. Anders: wir sollten auch über das reden, was wir nicht wissen, aber dennoch in unserem Bewusstsein eine Rolle spielt. Von daher ließe sich fragen, ob die wissenschaftliche Position, die sich auf das Mathematische und Empirische beschränkt, nicht selbst eine Zeiterscheinung mangelnder Aufklärung ist, indem sie die Realität dessen, was für Menschen wichtig aber nicht beantwortbar ist, aus ihren Betrachtungen methodisch ausschließt. Lehrreich wäre so zum Beispiel eine Beschäftigung mit dem Techniker und Mathematiker Leib- niz, warum der bei der Physik nicht stehen blieb, sondern zur Metaphysik überging. Vielleicht wäre es auch sinnvoll, die Motive sich zu vergegenwärtigen, die den Denkern früherer Epochen Anlaß zu einer metaphysischen und religiösen Weltsicht gaben. Man muß ja nicht gleich selbst daran glauben, lässt sich beruhigend hinzufügen: es reicht ja, die Motive zu verstehen. Kritische Vernunft ist nur was wert, wenn sie es auch gegen sich selbst ist. Kritik kann auch Unaufgeschlossenheit sein. Es ist schon interessant, daß – ganz anders als seine Gegner – der kritische Geist die eigne Affinität zur Metaphysik zumeist nicht durchschaut, in welcher es auch um die Überwindung einer bornierten, affirmativen Haltung zum jeweils Bestehenden ging. Auch Kritik hat immer – wie die Metaphysik – ein anderes gewusst, das nicht Gegenwart war, aus dem sie ihren Blick- winkel gewann: Grund genug, etwas länger über das Verhältnis kritischer Vernunft und Metaphysik nachzudenken. Selbst Adorno biegt am Ende seiner Negativen Dialektik in Meditationen zur Metaphysik ein.


Gerhard Stamer auf philosophie.de