Vortrag auf der internationalen Tagung
Bildungsphilosophie
vom 3. bis 5. April 2014 in Eichstätt
Dr. Gerhard Stamer
Theodor W. Adorno leitete sein Seminar über die Ästhetik im Mai 1968 unmissverständlich mit dem Bezug auf die Vorgänge ein, die sich auf den Straßen direkt vor der Universität in Frankfurt/Main abspielten. Angesichts der gegenwärtigen Aktualität des politischen Interesses der Studentenschaft stelle sich die Frage nach der Legitimation eines philosophischen Seminars über die Hegelsche Ästhetik und allgemeiner nach der Beziehung von Politik und Ästhetik. Mit diesen Worten begann Adorno. Die Intention von Adorno schien es zu sein, in der Entfaltung der Gedanken Hegels den prinzipiellen historischen Gehalt des Ästhetischen darzustellen, um von dort aus über sein eigenes gegenwärtiges Verständnis des Ästhetischen zu einer Klärung der eigenen politischen Position zu gelangen. Adorno schien die Absicht zu haben, seine Negative Dialektik unter ästhetischen Aspekten wie einen Ring in die sich erhitzende studentische Öffentlichkeit zu werfen, um möglicherweise sogar die Ästhetik als Alternative zu einer Politik des Klassenkampfes, die er für abwegig hielt, wenn nicht gar als Perpetuierung des totalitären Identifikationsprinzips, herauszustellen. Er führte aus, daß die Kunst keine krude stoffliche Vorwegnahme utopischer Gehalte, nicht das in die Zukunft projizierte idealisierte Heute sei, sondern gegenwärtig ihren Sinn in der bis zum Äußersten gesteigerten Negativität des gegenwärtigen, ausweglos geschlossenen Immanenzzusammenhangs erhielte. Sie sei weder der Ausdruck dafür, daß das, was ist, nicht die Totalität ist, mit der es auftritt, noch der Verweis darauf, was nicht ist, ohne dies in konkreten Gestaltungen fixieren zu können. Nach Adornos Auffassung wäre der Dramatiker Beckett dem näher als beispielsweise der Vietnam-Diskurs von Peter Weiß. Noch die negative Darstellung der „Negativität des Zeitalters“ mache „Reklame fürs Unmenschliche“. Das was das Wort „äußerste Negativität“ meine, hatte Adorno in den „Noten zu Literatur“ expliziert:
„Im Akt des Weglassens überlebt das Weggelassene als Vermiedenes wie in der atonalen Harmonik die Konsonanz. Der Stumpfsinn des Endspiels wird mit höchster Differenziertheit protokolliert und ausgelöst. Die protestlose Darstellung allgegenwärtiger Repression protestiert gegen eine Verfassung der Welt, die so willfährig dem Gesetz von Repression gehorcht, das sie eigentlich schon über keinen Gegenbegriff mehr verfügt, der jener vorzubehalten wäre.“
Überraschenderweise verlief das Seminar im Anschluss daran nicht in der Form der Konfrontation von politischer Praxis und Ästhetik, obwohl demonstrierende Studenten anwesend waren. Adornos ästhetische Konzeption sah sich plötzlich einer anderen, alternativen ästhetischen Position gegenüber, die nicht davon ausging, daß die kathartisch negative Einstellung der Kunst, wie sie Adorno angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse für unabdingbar hielt, die einzige konsequente Möglichkeit wäre, ihre antizipatorische Rolle bewahren zu können. Ganz im Gegenteil wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht die triste Negativität der Kunst, wie sie Adorno vertritt, das Negative der bestehenden gesellschaftlichen Realität nur reproduziere und verstärke, als ihr die Chance eines lebendigen Neuen entgegenzustellen. Es könne gut sein, daß eine naive Unbefangenheit der Kunst, die an der Bejahung des Lebens selbst in der radikal verneinten Gesellschaft festhält, eher versteinerte Verhältnisse auflösen könne als die krasse, freudlose Negativität eines geradezu stoischen kritischen Bewußtseins. Und plötzlich war Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ im Spiel. In ihr hatte Schiller paradigmatisch Schönheit, Spiel und Menschsein in dem Begriff des Ästhetischen vereint.
„…der Mensch soll nur mit der Schönheit spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur dort, wo er in aller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Plötzlich tauchten Schillers ästhetische Gedanken in einer politisch höchst brisanten Situation im Rahmen eines Hauptseminars auf, in dem die anspruchsvollste philosophische Reflexion gepflegt wurde. Und noch allgemeiner: Schillers ästhetische Gedanken erwiesen sich in der historischen Epoche, in der die Schrecken des Naziregimes dazu führten, daß die reflektierende Vernunft nur noch in der Gestalt einer sich verabsolutierenden, negatorischen Kritik ihre Substanz zu erhalten glaubte, als eine erlösende Intuition, auch in praktischer Hinsicht: sollten ja die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden.
Dieses Ereignis im Jahre 1968 gibt Anlass, sich systematisch auf die ästhetischen Gedanken Schillers einzulassen, die in einer Gesellschaft, in welcher die Arbeit einen hohen, wenn nicht den höchsten Rang genießt, den Verdacht eines weltfremden Idealismus auf sich ziehen. Es stellt sich die Frage nach dem Realitätsbezug der Ästhetik von Schiller, nicht verstanden als Vorhandenheit eines Dinges, sondern im Sinne einer argumentativen Möglichkeit, welche Spielräume – auch Chancen und Hoffnungen – eröffnet und damit auch real wirkt. Nicht nur was ist, besitzt Wirklichkeit, auch das, was Möglichkeiten eröffnet, zunächst vielleicht nur gedankliche, dann aber auch praktische, vielleicht auch nur vorsichtige, prüfende, versuchende, immer aber doch tendenziell reale.
Schillers „Ästhetische Erziehung“ ging aus einer Reihe von Briefen hervor, die er an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg in Kopenhagen schrieb. Als er im Jahre 1793 seine Briefe zu schreiben begann, war der revolutionäre Rauch der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Französischen Revolution mitsamt ihrem Terror noch nicht verzogen. Es ist vielleicht der Höhepunkt des Deutschen Idealismus überhaupt, wie Schiller auf der höchsten Stufe philosophische Reflexion, die die Kantische Philosophie um 1800 darstellte, über dessen Praktische Philosophie hinausging und damit zugleich die Konsequenzen aus dem revolutionären Geschehen im Nachbarland zog. Dass die Ästhetik nun sowohl die Antwort auf die Unbedingtheit der Grundlegung des Moralischen bei Immanuel Kant als auch auf das praktische Geschehen auf den Straßen von Paris sein sollte, war doch eine überraschende Konfrontation mit den bewegten politischen Vorgängen und Umbrüchen, die eher der Dichterseele entsprungen zu sein schien als dem nüchternen Betrachter des gegenwärtigen historischen Prozesses. Aber Schiller war Historiker, also Realist genug, um das Sonderbare seines Rückgangs auf die Ästhetik – wenn man es denn Rückgang nennen möchte – selbst zu empfinden. Den zweiten Brief eröffnet er daher mit einer diesbezüglichen Frage:
„Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ihnen verstattet wird, nicht vielleicht einen bessern Gebrauch machen können, als Ihre Aufmerksamkeit auf dem Schauplatz der schönen Kunst zu beschäftigen? Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein soviel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?“
Auch Schiller fühlte sich – wie dann Adorno 1968 – von den revolutionären Vorgängen herausgefordert und dazu veranlasst, die Ästhetik zu thematisieren. Die Ästhetik formulierte damit einen Anspruch, den zuvor nur die Moral erhob, nämlich das orientierende Bild des Menschlichen abzugeben. Das ist als ein nicht zu unterschätzender Schritt im gesellschaftlichen Leben anzusehen. Eine Sphäre, die traditionell für politisch neutral, für vollkommen subjektiv, für überhaupt nicht allgemeingültig, für sinnlich und begrifflich unbestimmbar gehalten wurde, hatte damit ein Mitspracherecht im Kreis der politisch relevanten Stimmen von Moral, Wissenschaft und Theologie gefordert – wenn auch von diesen Disziplinen weitgehend ignoriert oder nicht ernst genommen. Die weitere historische Entwicklung sollte zeigen, insbesondere in allen sozialistisch motivierten Bewegungen, dass die Ignoranz gegenüber der Ästhetik im Sinne Schillers, verheerende, kontraproduktive Folgen zeitigt.
Schiller war zu seinen paradigmatischen ästhetischen Vorstellungen erst durch den Verlauf der Französischen Revolution gekommen. Schiller hatte die Revolution zunächst begrüßt nicht anders als die meisten der deutschen Intellektuellen, wie die drei Tübinger Studenten Hegel, Schelling und Hölderlin oder Kant in Königsberg. Schiller entwickelte aber rasch einen Abscheu vor den Gewaltexzessen der Revolution.
Seit den Morden an ca. 1000 vermeintlich royalistisch gesinnte Pariser Gefängnisinsassen im September 1792 hatte er sich entsetzt von den Vorgängen in Paris abgewandt. Kurz nach der Hinrichtung von Ludwig XVI. im Januar 1793 schrieb Schiller an seinen Freund Körner:
„Ich kann seit 14 Tagen keine franz(ösischen) Zeitungen mehr lesen, so ekeln diese elenden Schinderknechte mich an.“
In seinem berühmtesten Gedicht, der Glocke, wurde dieser Ekel dann zur dichterischen, poetischen Aussage.
„Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte
Der Feuerzunder still gehäuft,
Das Volk, zerreißend seine Kette,
Zur Eigenhilfe schrecklich greift!
Da zerret an der Glocke Strängen
Der Aufruhr, daß sie heulend schallt
Und, nur geweiht zu Friedensklängen,
Die Losung anstimmt zur Gewalt.
Freiheit und Gleichheit! hört man schallen,
Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr,
Die Straßen füllen sich, die Hallen,
Und Würgerbanden ziehn umher.“
Schillers ästhetische Theorie erlangt dadurch ihre hohe theoretische Bedeutung, dass er die Affinität des sozial entstandenen und in der Revolution aufbrechenden Hasses der unterprivilegierten Klassen zu der Unbedingtheit der Moral und des Ideellen, das in den Ideen ihren Ausdruck findet durchschaut. Die Gewalt auf der Straße und der „Kult der Vernunft“, der in der Französischen Revolution zelebriert wurde, vereinten sich zu einem gefährlichen Gemisch.
Für Schiller ist die Epoche der Vorherrschaft von Adel und Kirche endgültig vorbei. Die neue Ordnung beginnt mit zwei gesellschaftlichen, kulturellen Kräften, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zueinander passen, auf den zweiten aber – in einer wichtigen Hinsicht – eine auffallende Übereinstimmung zeigen. Die Übereinstimmung besteht in der Ablehnung, bzw. Negation der Vielfalt und des Anderen. Die abstrakte Idee und der Haß des Volkes, ebenfalls abstrakt in seiner Negation, bilden den revolutionären Zusammenhang des Schreckens.
Wenn man es auf eine Formel bringen will, so vereinen sich – wie Schiller es darstellt – Idee und Leben, die normalerweise eher polar, wenn nicht sogar gegensätzlich zueinander stehen, unter den Bedingungen der Abstraktion. Die Idee, die in der geistigen Dimension eine reine ungemischte Einheit darstellt, hat in Bezug auf die lebendige, vielfältige Wirklichkeit die Tendenz, alle Vorkommnisse ihrer Einheit gleichzumachen. Sie negiert in ihrer ungehemmten Anwendung die konkrete Welt des Lebens, in der es nie die vollkommene Einheitlichkeit der Erscheinungen gibt. Das Leben des einfachen Volkes, des Plebs andererseits, niedergedrückt durch Hunger, Armut und Plagerei und nun frei von Herrschaft kann mit der gewonnenen Freiheit nicht Freiheit gelten lassen, nicht Freiheit stiften, sondern negiert alles Ideelle, das zum Besitzstand der herrschenden Klassen zu gehören scheint, und metzelt alles nieder, was nicht von der eigenen gleichen Faktizität ist und die Zeichen eines anderen, besseren, privilegierten Lebens an sich hat.
Die abstrakte Moral der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, der Kult der Vernunft, hat sich als so terroristisch erwiesen wie der Hass und die Rache des geknechteten Volkes. Der Hass des Volkes konnte aber auch in der Abstraktion der Idee die Schärfe der Unbedingtheit erkennen, die der eigenen Radikalität entsprach. Die Guillotine wurde das praktisch in Szene gesetzte gemeinsame Symbol.
Schiller erkennt in dieser Konstellation nicht nur die Ursache der Greueltaten in der Französischen Revolution, sondern zugleich den Gegensatz eines historischen Grundproblems der Menschheit, eines kulturell-gesellschaftlichen Widerspruchs, der eine ständige Bedrohung darstellt, in der Französischen Revolution aber deutlich zu Tage trat. Schiller umreißt diesen Widerspruch mit verschiedenen Ausdrücken,, den von Form- und Stofftrieb, von Geist und Materie, von Denken und Empfinden, von Pflicht und Neigung, von Gestalt und Leben.
Die „ästhetische Erziehung des Menschen“ ist Schillers Programm, die Abstraktion beider Seiten zu überwinden. Wenn sie in ihrer abstrakten Form zusammenfinden, sind sie tödlich. Die Ästhetik ist für ihn die Sphäre, in welcher ihre Vereinigung als Aufhebung, als Überwindung der Abstraktion beider Seiten gedacht werden kann. Die Französische Revolution stellt für ihn die Schwelle dar, an der der bis dahin naturhaft gewachsene Staat in eine bewusste Organisation unter aufgeklärten Prinzipien übergehen könnte. Aber die Menschen scheinen nicht reif dafür zu sein. Für diesen Übergang des Naturstaates in den der Freiheit bedarf es – wie er ausführt – einer Stütze, die die Ästhetik bietet.
„Diese Stütze findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen, der, selbstsüchtig und gewalttätig, vielmehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft zielt; sie findet sich ebensowenig in seinem sittlichen Charakter, der, nach der Voraussetzung, erst gebildet werden soll, und auf den, weil er frei ist und weil er nie erscheint, von dem Gesetzgeber nie gewirkt und nie mit Sicherheit gerechnet werden könnte. Es käme also darauf an, von dem physischen Charakter die Willkür und von dem moralischen die Freiheit abzusondern es käme darauf an, den erstern mit Gesetzen übereinstimmend, den letztern von Eindrücken abhängig zu machen es käme darauf an, jenen von der Materie etwas weiter zu entfernen, diesen ihr um etwas näher zu bringen – um einen dritten Charakter zu erzeugen, der, mit jenen beiden verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen Übergang bahnte und, ohne den moralischen Charakter an seiner Entwicklung zu verhindern, vielmehr zu einem sinnlichen Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit diente.“
Dieser dritte Charakter ist für Schiller die Ästhetik. In diesem dritten Charakter verlieren die beiden Seiten ihre Zwanghaftigkeit: sowohl das Triebhafte der Natur als auch das Moralische in der Unbedingtheit seines Pflichtbegriffs. Der „sinnliche Trieb“ und der „Formtrieb“ vereinen sich.
„Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.“
Man möchte hier gegen Schiller einwenden, daß diese selbst schöne Vorstellung nur unter bestimmten sozialen Bedingungen möglich sei, die die Auflösung des Zwanges zuließen, was Schiller gerade nicht reflektiert hätte, Karl Marx aber mit dem gehörigen Realitätssinn gerade zu seiner Theorie der politischen Ökonomie veranlasste. Es ist jedoch die Pointe der Ansicht von Schiller, daß die ästhetische Bildungskonzeption, die er vertritt, sich nicht von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig macht. Die ästhetische Bildungskonzeption, die die Freiheit des Menschen gegen den naturhaften und gegen den moralischen Zwang zum Ziel hat, spricht dem Mensch zu, unter allen Bedingungen dazu die Anlage zu besitzen, d.h. dazu in der Lage zu sein. Freiheit, die ein Ziel anstrebt, kommt aus einer aktuellen Freiheitsfähigkeit, d.h. aus einer Unabhängigkeit zu den Bedingungen, die gegenwärtig bestehen. Freiheit beweist sich gerade in der Unabhängigkeit zu Bedingungen. Es ist der Trugschluss aller revolutionären sozialen nachschillerschen Konzeptionen, dass allererst bestimmte soziale Bedingungen hergestellt werden müssten, damit die Menschen moralisch – gerecht und friedlich – existieren könnten. Schillers Konzeption setzt tiefer an – und zwar mit einem fundamentalen Verständnis von Freiheit: Freiheit ist eine Fähigkeit der Gegenwart, nicht erst in der Zukunft einzulösen. Eine zukünftige wird sie nur, wenn sie gegenwärtig realisiert wird. Schillers ästhetische Theorie ist eine Theorie über die Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung – und zwar unter allen Bedingungen, welche auch immer bestehen mögen. Diese Unabhängigkeit von den Bedingungen ist überhaupt das, was verstanden werden muss, um Freiheit zu denken. Solange Freiheit als abhängig von Bedingungen gedacht wird, wird Freiheit nicht gedacht. Deshalb sind alle materialistischen Konzeptionen der Emanzipation Widersprüche in sich selbst. Das heißt: die Freiheit muss als Freiheit begriffen werden, um wirklich frei zu sein. Das Verständnis der Freiheit ist offensichtlich keine Selbstverständlichkeit. Offensichtlich ist eher, dass die Menschen mit ihrem Denken in den Formen der Notwendigkeit gefangen bleiben, dass die Freiheit in ihrem Wesen nicht verstanden wird und daher zu eklatanten Widersprüchen führt, z. B. einer Emanzipationstheorie, die nicht die Freiheit der Individuen voraussetzt und anerkennt. Vermutlich ist die Geschichte der Menschheit noch nicht an den Punkt angekommen, an dem Freiheit realistisch gedacht werden kann: als die Möglichkeit, mit Bedingungen umzugehen, oder als die Fähigkeit, unter bestehenden Bedingungen die Möglichkeiten zu erkennen, was immer einen spielerischen Umgang mit der Realität im Sinne Schillers bedeutet. Spielerischer Umgang als Prinzip bedeutet: Sensibilität für das Miteinander des Verschiedenen; Sensibilität für das Existenzrecht des Anderen, das ich nicht verstehe und das auch nicht meine Sympathie besitzt; Sensibilität gegen die Anwendung von Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten; Sensibilität gegen den Gebrauch von Menschen als Mittel.
In der Dimension der Ästhetik werden für Schiller Notwendigkeit und Zwang überwunden, der Zwang, der der Moral immanent ist – jedes Sollen ist eine Forderung – und der Zwang der Mühen und Plagen der Arbeit und Existenzsicherung. Im Spiel eröffnet sich eine Sphäre der Freiheit.
Und die besitzt eine innere Verwandtschaft zu dem, was Schiller Schein nennt. Wenn gegenüber allen Sachzwängen und prozessualen Notwendigkeiten, die in der Naturwissenschaft erkannt werden und in der Ökonomie und Politik herrschen, dann in der Ästhetik von der Antizipation, von dem Unabgegoltenen die Rede ist, von dem Ideologischen, von der Utopie, also immer von dem, was gemessen am Faktischen nur den Charakter des Illusionären – des noch nicht Geborenen – besitzt, d.h. dessen, was nur in der Einbildung existiert und auch Wirkungen hinterlässt. Wenn das eine eigene Realität darstellt, die unmittelbar mit dem Spiel in Zusammenhang steht, dann erfüllt das genau den Sinn von Schein, von dem Schiller spricht. Der Schein wird von ihm ausgezeichnet.
„Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine gewisse Affinität miteinander, daß beide nur das Reelle suchen und für den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind.“
Schiller scheint der Auffassung zu sein, dass seine ästhetischen Gedanken nicht nur reine Theorie sind, sondern in den wirklichen Verhältnissen eine eigene Prozesskraft besitzen, die real auch Wirkung hinterlässt.
„Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse ab-
nimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.“
Wollte man dem Rückzug auf eine anthropologische Begründung der ästhetischen Anlage im Menschen nicht zustimmen, und stünde man auch einer evidenten Erscheinung der Ästhetik im historischen Geschehen skeptisch gegenüber, dann ist die Frage nach der pragmatischen Geltung der Position von Schiller nicht abzuwehren. Die gegenwärtigen Verhältnisse sind im Vergleich zu denen von Schiller sicher grundverschieden. Erstens – wenn hier nur die klar erkennbaren Punkte genannt werden – handelt es sich bei Schiller um eine Reaktion auf revolutionäre Vorgänge, die gegenwärtig in den Ländern Westeuropas nicht existieren, zweitens kann unter den – wie auch immer kritisierten – demokratischen Verhältnissen nicht von einer Elite gesprochen werden, die sich eine ästhetischen Erziehung der Bevölkerung zur Aufgabe machte und dazu auch die Kompetenz besäße, was Schiller zumindest implizit immer voraussetzen muss. Dazu hat die globalisierte Welt die Politik in unübersichtliche, vielfältige Probleme hineingeführt, die pragmatische Lösungen in der Form von internationalen Vereinbarungen erfordern, die demokratisch kaum zu kontrollieren sind und von keiner Elite getragen werden, die sich des Vertrauens der Völker erfreuen kann. Kriege und brutale Ereignisse füllen die Medien, dass für eine ästhetische Intervention im Sinne Schillers kein Raum zu sein scheint. Das Vertrauen in Eliten ist für die Generationen des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute nachhaltig zerstört. Zu revolutionären Perspektiven in humaner Absicht, scheint sich keine politische Konzeption – wie die von Walter – mehr aufschwingen zu können. Schadensbegrenzung und Wiedergutmachung sind Ausdrücke der scheint´s mäßigenden, klugen Veralltäglichung der Politik im Zeitalter der Globalisierung. Hinzu kommt die alle Grenzen sprengende Produktivität des Kapitalismus, die die Bevölkerung in den westlichen Ländern in einen Rausch des Konsumismus versetzt hat und die es auf diese Weise in das bestehende System einbindet. Die Attraktion der immer neuen Produkte und der damit gegebenen Lebensstile hält auch die Bevölkerungsteile in Atem, die noch nicht in ihren Genuss gekommen sind. Religiöser Fanatismus, der sich dieser Tendenz widersetzt, antwortet mit dem Terror vormoderner Zeiten, wenn man die Moderne im Sinne von Jürgen Habermas vor allem als „okzidentalen Rationalismus“ versteht, dessen Höhepunkt sicherlich das von ihm entworfene „kommunikative Handeln“ ist.
Wollte man über die Anschlussfähigkeit der ästhetischen Theorie von Schiller an den gegenwärtigen Zeitgeist Aussagen machen oder seine Realisierbarkeit in Bezug auf den gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Produktivkräfte reflektieren, so stehen die Zeichen keineswegs besser als zur Zeit Schillers. Wenn man den Blick so weit wie möglich von der Gegenwart entfernt, um zu einem Urteil über sie fähig zu sein, dann ließe sich mit aller Vorsicht in einer schematischen Darstellung eine Gegenüberstellung begrifflich zeichnen: Schiller hatte es zu tun mit einer Revolution und idealistischen Theorien der Abstraktion, wir haben es in unserem kulturellen Bereich mit einem Konsumismus und der Negation von Abstraktion zu tun.
Die Negation der Abstraktion ist eine Chiffre, die den relativistischen Zeitgeist, wie er sich im zwanzigsten Jahrhundert ausgebreitet hat, in seinen vielfältigen Erscheinungen und Bezügen beschreiben soll, ohne hier eine endgültige Theorie vorzulegen. Als Beginn kann Wittgensteins „Tractatus logico philosophicus“ angesehen werden, in dem der Philosophie jede inhaltlich substanzielle Aussage abgesprochen wird; wahre Sätze sind nur noch die der empirischen Naturwissenschaften. Wittgensteins spätere Theorie der Sprachspiele setzt die Auflösung von Argumentationsformen fort, denen traditionell Gewissheit zugesprochen wurde. Diese sprachphilosophische Erosion traditioneller philosophischer Gehalte reicht bis zu Lyotards postmoderner Einstufung philosophischer Theorien als Erzählungen. Die populäre, subjektivistische Interpretation der Quantentheorie kommt hinzu, nach der Objektivität prinzipiell nicht mehr gegeben sei. Flankiert wird diese Auffassung durch die relativierende Interpretation von Kuhns Theorie der Wissenschaftsgeschichte, der gemäß es sich bei den jeweils geltenden Theorien stets nur um Paradigmen handelte, denen alle einzelnen Bestandteile der Theorie kompatibel sei müssten, ohne dass ihnen eine Allgemeingültigkeit zugesprochen werden könnte. Feyerabends anarchistische Wissenschaftmethode könnte erwähnt werden. Sicherlich auch die Attacke einiger renommierter Hirnforscher, die Bewusstsein und Freiheit der Menschen als Schein deklarieren. Die Postmoderne versteht sich selbst als Richtung, die im Engagement für Vielfalt nicht alles Einzelne gleich wieder einem Allgemeinen, Ganzen zuordnet, in dem sich wieder das abstrakte Absolute durchsetzen könnte. In einer Epoche zunehmender Globalisierung der Verhältnisse scheint die nichtlineare chaotische Dynamik von Fraktalen für viele Intellektuelle interessanter zu sein als die Lebenswelt der Menschen in Raum und Zeit.
Das große Ganze, die über alles Gegenwärtige hinausweisenden Ideen, das Absolute in metaphysischer oder religiöser Gestalt, die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit wissenschaftlicher Urteile, das also, was stets in der traditionellen Philosophie einen Vorrang besaß, scheint in die Krise gekommen zu sein. Wenn man bei aller bewussten Gefahr der Subsumtion und Verallgemeinerung den Gegensatz unseres Zeitgeistes zu dem von Schiller auf den Begriff bringen wollte und alle dekonstruktivistische Methode außen vor ließe, dann ließe sich sagen: bei Schiller handelte es sich um Revolution und Abstraktion, um die gewalttätige Wut des Volkes in Verbindung mit dem Kult der Vernunft oder dem des höchsten Wesens, während heute der Konsumismus und die Negation der Abstraktion den Geist der Zeit bestimmen,
d.h. ein Leben in den gegenwärtigen Problemen ohne utopische Ausblicke, ohne Verneinungen des Bestehenden, die gegenüber allen pragmatischen Lösungen konkreter Probleme, die auf der Tagesordnung stehen, immer abstrakt bleiben, ein nicht einzugemeindendes Maß, eine Drohung des Sollens aus der Ferne, eine Relativierung des alltäglichen Relativen, ein Wissen, das Wahrheit kennt und nicht nur die Beliebigkeit von Erzählungen und Sprachspielen.
Sind in dieser neuen historischen Konstellation Schillers ästhetische Gedanke obsolet? Bilden Spiel und Schein nicht die dem Konsumismus zugehörigen, harmlosen, verharmlosenden Medien der Integration? Design statt Sein, wie ein bekannter Slogan sagt? Was wäre neu zu denken? Welche Konzeption oder Intuition entspräche den Erfahrungen mit den Revolutionen der Neuzeit? Eine Konzeption, die weder im Interesse der Ideen das konkrete gegenwärtige Leben negierte, noch im Interesse eines ungestörten gegenwärtigen Lebens alles Ideelle wie etwas Gefährliches abwehrte? Vielleicht ist die Zeit – und zwar gerade durch die postmodernen Einstellungen – reif dazu, ohne Gewaltexzesse die Realisierung von Ideen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anzustreben, in Formen von Spiel und Schein im Sinne Schillers, die belebend und bewegend auf eine Gegenwart einwirken, die in der zukunftslosen Bewältigung der aktuellen Probleme und Zwänge gefangen und verkrampft zu sein scheint. Vielleicht muss auch erst eine Möglichkeit gedacht werden, ehe eine Realität daraus entspringen kann. Vielleicht steckt in der spielerischen Anwendung des kategorischen Imperativs doch eine geheime, noch nicht entbundene Attraktion, die unwiderstehlich mit dem Unbedingten spielen lässt und alles Kaufbare, Belustigende und Unterhaltsame blass aussehen lässt, denn wahren Enthusiasmus gibt es doch nur im Moralischen, wie wir von dem weisen Kant wissen.