Vortrag
Dr. Gerhard Stamer
theaterwerkstatt hannover, 12.Mai 2011
Ich werde heute keinen richtigen Vortrag halten,
sondern erzählen, was mir so eingefallen ist über Kinder.
Irgendwie fand ich, daß ein richtiger vortrag zu steif ist,
der Sache nicht angemessen.
Ich bin mir nicht sicher, was rausgekommen ist.
Es sind einfach Gedankensplitter, Assoziationen, Eingebungen,
auch einige Reflexionen eingestreut, auch Zitate, nicht zu viele.
Auf jeden Fall keine besonderen Erkenntnisse, aber doch der
Versuch, der Idee Kind nahe zu kommen.
Ich umreiße es einfach, ich schraffiere es gedanklich,
als würde ich eine Skizze machen.
Mal sehen, ob Sie in den verschiedenen
Strichen ein Bild ausmachen können.
Menschen lieben Kinder,
Kinder lieben Theater,
kein Wunder, daß Menschen Theater lieben.
Warum lieben Kinder Theater?
Warum lieben Menschen Kinder?
Mit diesen komplizierten Fragen möchte ich mich heute befassen.
Sie sind herzlich eingeladen.
Es ist ja nicht selbstverständlich,
daß Menschen Theater lieben.
Im Theater wird einem etwas vorgemacht.
Wer hat es schon gern, wenneinem etwas vorgemacht wird?
Überraschender Weise lassen wir uns das im Theater gefallen.
Wir wissen es genau:
Die dort auf der Bühne machen uns nur was vor.
Und wir bleiben sitzen, anstatt aufzustehen und nach Hause zu gehen.
Warum bleiben wir sitzen?
Das ist alles nicht wahr,
was wir da auf der Bühne sehen.
Die Liebe, der Tod, das Elend, die Helden, die Götter, das Verbrechen:
Alles Schwindel!
Und wir bezahlen sogar dafür. Daß wir uns bewußt was vormachen lassen!
Wir wissen es genau, daß wir uns was vormachen lassen.
Ansonsten würden wir uns das gar nicht ansehen.
Das Schlimmste ist, daß wir uns dabei machmal völlig vergessen.
Wie kann das passsieren?
Wenn es echt wäre! Die Tragödie z.B. würden wir in Ernst gar nicht erleben wollen.
Im Leben wollen wir sie vermeiden. Und auf der Bühne ergötzt sie uns.
Daß wir ins Theater gehen, um eine Komödie zu sehen,
kann man sich dagegen sehr gut vorstellen
Wer lacht nicht gern, besonders wenn man im Leben nichts zu lachen hat?
Lachen ist irgendwie immer gut. Egal worüber. Egal worüber?
Die einen machen was vor,
und die andern lachen.
Das paßt.
Ist das nicht eher Zirkus als Theater?
Nun gut.
Sie entsinnen sich an den Titel meines Vortrags:
Das Kamel, der Löwe und das Kind.
Ich habe mich schon umgesehen.
Es sind Kamele hier, Löwen und auch Kinder.
Kamele? Ich zeig Ihnen mal eins. Nein, doch nicht.
Löwen? Die können gut brüllen. Wer kann Löwen?
Kinder? Die kann ich nicht.
Ich lese Ihnen etwas vor.
- Lesung aus „Also sprachZarathustra“ von Friedrich Nietzsche –
Von den drei Verwandlungen
Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes:
wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das
Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.
Vieles Schwere gibt es dem Geiste, dem starken,
tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach
dem schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.
Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so
kniet er nieder, dem Kamele gleich, und will gut bela-
den sein.
Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der
tragsame Geist, daß ich es auf mich nehme und mei-
ner Stärke froh werde…
Alles dies schwerste nimmt der tragsame Geist auf
sich: dem Kamele gleich, das beladen in die Wüste
eilt, also eilt er in seine Wüste.
Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite
Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Frei-
heit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eig-
nen Wüste.
Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will er
ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er
mit dem großen Drachen ringen.
Welches ist der große Drache, den der Geist nicht
mehr Herr und Gott heißen mag? »Du-sollst« heißt
der große Drache. Aber der Geist des Löwen sagt
»ich will«.
»Du-sollst« liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein
Schuppentier, und auf jeder Schuppe glänzt golden
»Du sollst!«
Tausendjährige Werte glänzen an diesen Schuppen,
und also spricht der mächtigste aller Drachen: »Aller
Wert der Dinge-der glänzt an mir.«
»Aller Wert ward schon geschaffen, und aller ge-
schaffene Wert – das bin ich. Wahrlich, es soll kein
‘Ich will’ mehr geben!« Also spricht der Drache.
Meine Brüder, wozu bedarf es des Löwen im Gei-
ste? Was genügt nicht das lastbare Tier, das entsagt
und ehrfürchtig ist?
Neue Werte schaffen – das vermag auch der Löwe
noch nicht; aber Freiheit sich schaffen zu neuem
Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.
Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch
vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des
Löwen.
Recht sich nehmen zu neuen Werten – das ist das
furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und ehr-
fürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und
eines raubenden Tieres Sache.
Als sein Heiligstes liebte er einst das »Du-sollst«:
nun muß er Wahn und Willkür auch noch im Heilig-
sten finden, daß er sich Freiheit raube von seiner
Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube.
Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das
Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muß
der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?
Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neube-
ginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine
erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
Ja, zum spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf
es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun
der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.
Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes:
wie der Geist zum Kamele ward, und zum Löwen das
Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kinde. –
Von wem ist das? Und woraus?
Na klar! Aus dem Zarathustra.
Das Kind ist kein Kamel.
Es hat nichts durch die Wüste zu tragen.
Schleppen – das müssen eher die Eltern, vor allem die Kinder.
Das Kind ist auch kein Löwe.
Brüllen kann es schon,
aber doch nicht als Ausdruck von Macht und Gewalt.
Eher das Gegenteil. Es ist ja eher unmächtig,
abhängig von den Kamelen, will sagen, Eltern,
die es tragen sollen.
Ich lese es noch einmal vor:
„Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind,
das auch der Löwe nicht vermochte?
Was muß der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?
Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel,
ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung,
ein heiliges Ja-sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder,
bedarf es eines heiligen Ja-sagens…“
Hier ist alles über das Kind gesagt,
was sich sagen läßt.
Das Kind ist ein Neubeginnen.
Die menschliche Geschichte kann noch so alt sein,
Millionen, unzählige Generationen können schon vergangen sein,
jedes Kind kommt als ein absoluter Anfang zur Welt –
und nicht als Fortsetzung.
Zur Fortsetzung machen wir es erst.
Natürlich haben wir Angst vor dem Tod und wollen nicht sterben.
Aber stellen Sie sich eine Welt mit einer wachsenden Menge
totalter Menschen vor, also Alten die kein Anfang sind, sondern
bloße Fortsetzer, Kamele.
Nein. Das Kind ist ein Zauber.
Daran können sich die Alten erfreuen,ergötzen –
Und mit dem eigenen Ende versöhnen –.
Es geht ja weiter, es kommt Neues!
Der alte, fortgesetzte, mitgeschleppte Kram –
alles für Kamele zum Schleppen – so viel sie auch schleppen, das bleibt nicht.
Auch wenn die Kamele denken,
es bleibt alles beim alten Trott, auch wenn sie sich gar nichts anderes vorstellen können.
Und da können auch die Löwen noch so laut brüllen –
Gegen den alten Kram!
Sie schaffen nicht das Neue. Sie sind zu brutal,
zu sehr voller Ablehnung des Alten, zu grob
und hart geworden gegen das Alte,
daß sie noch so brüllen können, es kommen doch
keine entzückenden, neue Töne heraus.
Wie sagt Nietzsche an anderer Stelle:
“Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf leichten Füßen”.
Nein, vergessen haben die Löwen nichts.
Sie wollen nicht mehr tragen wie die Kamele,
auch nicht mehr ertragen. Das ist gut so.
aber sie haben kein Vergessen,
weil sie nicht neu sind, – und vor allem,
sie machen kein Spiel auf,
sie wollen mit Macht die Last abschütteln,
denn sie haben Recht,
und brüllen, daß es jeder weiß.
Haben sie sich so mit Wut und Ärger vollgefressen,
daß sie nun so brüllen müssen?
Nein, die Löwen sind auch Fortsetzer irgendwie,
böse Fortsetzer, auch eine Art Kamele, ziemlich unerträglich.
So kommt nichts Neues.
Wenn sie wenigstens das gute Alte erhalten würden,
aber mit Brüllen? Geht das?
Ich finde, Nietzsche hat das ganz gut gesehen:
Ohne Vergessen geht gar nichts.
Leben, immer weiter leben, ist ein ununterbrochenes
Zunehmen an Erfahrung und Wissen.
Lernen in der Schule, im Beruf,
und Lebenserfahrung – es wird immer mehr,
was man sich auflädt –
so viel kann man gar nicht vergessen.
Es soll niemand sagen, daß der fortgesetzte Kenntnisgewinn
einfach eine Bereicherung darstellt:
Zunahme an Wissen ist auch Abnahme an Unbedenklichkeit, an Leichtsinn, an Waghalsigkeit, an Unbefangenheit – und in dem Sinne auch an Freiheit.
Unterschätzen wir diese Fähigkeiten nicht!
In unserer mehr und mehr durchrationalisierten Welt,
in der es fast so ist, daß wir eher ein Auto ohne Motor fahren können als unangeschnallt,
mag uns das sehr unvernünftig erscheinen.
Wer viel weiß, kennt alle Gefahren, sieht die Probleme,
weiß zu kritisieren, und weiß auch,
was bei so viel Leichtsinn, Waghalsigkeit und Unbedenklichkeit herauskommt –
und würde eher ein gewagtes Abenteuer lassen als es einzugehen.
Wer all die Risiken kennt wäre dumm,
sich auf irgendeine nicht ganz sichere Sache einzulassen.
Wer alle Risiken kennt,
ist gefesselt von seinen Kenntnissen.
Vergessen können ist die einzige Rettung.
Das Kind hat alles Vergessen,
weil es eben noch gar keine Erfahrung gemacht hat.
Nietrzsche drückt es paradox aus.
Wir müßten wieder Kinder werden,
damit wir wieder frei sind.
Wir sollen uns nicht mit Wissen vollpumpen!
Lebenslang lernen! Wissensgesellschaft!
Ein Krampf, der nicht auszuhalten ist!
Ballast abwerfen ist dagegen die richtige Parole.
Na, vielleicht nicht alles.
Nicht nur Lernen macht frei, auch Vergessen!
Ein bißchen Frieden finde ich ausgesprochen blöd.
Es gab mal so ein Lied.
Aber ein bißchen Risiko und ein bißchen Abenteuer, das ist ganz gut.
Sonst gäbe es gar kein Leben.
Leben fordert die Bereitschaft zu Neuem.
Insofern kommen wir gar nicht drummherum, auch Kinder zu bleiben,
so alt wir werden.
Es geht gar nicht, die Zeit festzunageln.
Die Zeit geht weiter –
Und es kommt Neues, Unerwartetes,
das wir überhaupt nicht vermuten.
Es ist gut, wenn man das weiß, auf der Zeit zu surfen!
Das wäre die richtige Einstellung.
Von Friedrich Schiller stammt ein schöner Satz:
„Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt –
und er spielt nur dort, wo er ganz Mensch ist.“
Eine spielerische Einstellung zum Leben: Was heißt das?
Die Sorgen des Alltags auf Distanz halten,
wissen, daß sie nur ein momentanes Ereignis in der unendlichen Welt sind.
Ich will mal die Bibel zitieren:
„Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht,
sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen;
und euer himmlischer Vater nährt sie doch.“
Oder ein anderes Zitat:
„Nehmet wahr der Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen;
sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht. Ich sage euch aber,
daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht ist
bekleidet gewesen“ wie eine von diesen.
Egal ob ich an Gott glaube oder nicht, da ist eine tiefe Weisheit ausgesprochen.
Es ist immer mehr da, als wir durch unsere Rennerei zu erreichen suchen.
Eine spielerische Einstellung zum Leben bedeutet, zu wissen,
daß keine Gegenwart das Ganze der Wirklichkeit ist.
Zur spielerischen Einstellung gehört auch zu wissen,
daß ich auch immer – oder fast immer –
auch anders kann, als ich jetzt können soll.
Die Welt ist nicht zugepflastert.
Wer die Welt als zugespflastert, als puren Ablauf von Notwendigkeiten,
Zwangsläufigkeiten und Sachzwängen empfindet,
wird sein Leben lang aus Ängsten nicht herauskommen.
Man muß das Kind in sich erwecken,
man muß es wieder rauslassen aus dem ganz Inneren,
wo wir es eingesperrt haben, wo es aber immer noch vorsichtig herausäugt.
Das Kind in uns ist die Chance.
Nur wer die Freiheit zum Spiel hat,
findet Lösungen, wo es anscheinend keinen Ausweg gibt.
Kinder bringen es einfach mit, das Spielen.
Spielen ist eine ernste Sache.
Man braucht den Kindern nur zuzusehen.
Sie gehen darin auf.
Wer richtig spielt ist ganz bei der Sache –
und bei sich. Das ist das Wichtigste.
Oder das Zweitwichtigste:
Das Spiel funktioniert nur, wenn die andern mitspielen,
wenn sie keine Spielverderber sind.
Das Spiel mit den andern setzt eine Einvernehmlichkeit voraus,
ein unausgesprochenes Miteinander,
egal ob die Regeln bewußt sind oder nicht.
Wer eintritt ins Spiel „macht mit“, wie wir sagen.
Und wer mitmacht, nimmt an einer Gemeinschaft teil,
die wie eine eigene Inszenierung ist – alle sind drinn -,
es ist wie ein spontan ausbrechender, geheimnisvoller Ritus,
der uns da in etwas hineinzieht, so sehr,
daß wir, was gerade vorher war, vergessen.
Im Spiel gehen wir im Augenblick auf!
Im Spiel werden wir immer wieder zu Kindern!
Nietzsche ist bekannt als der Philosoph des Nihilismus,
als der Philosoph des Willens zur Macht
und wenn Sie die sinfonische Dichtung
„Zarathustra“ von Richard Stauss hören,
ein unglaublich eindrucksvolles Getöse, mit dem
Olympiaden oder Vergleichbares eröffnet wurden
oder noch eröffnet werden – ein einziges Trompetenfanal -,
dann erkennen Sie, da Sie jetzt wissen, daß Nietzsche
auch der Philosoph des Kindseins ist, daß es absolut falsch ist,
ihn als Denker eines irrationalen Gigantismus abzutun
oder gar als Wegbereiter des Nationalsozialismus.
Nietzsche ist ein widersprüchiger Denker, das muß nicht geleugnet werden,
aber er ist auch immer ein Kind geblieben
und hat wie ein Kind in unsystematischer Offenheit
wie ein Seismograph gespürt, wohin unsere Kultur läuft,
und er hat wie ein Kind Chaos gestiftet,
wohl wissend, daß Produktivität nicht ohne Gärung geht,
ohne die Wirren, die eben zum Neuen gehören.
Nietzsche wußte das wie kein anderer.
„Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
Das ist einer der berühmtesten Sätze von ihm.
Sie finden oft Widersprüche bei Nietzsche,
die Welt ist aber voller Widersprüche –
und ich weiß nicht einmal, ob diejenigen,
bei denen es keine Widersprüche gibt,
der Wahrheit näher sind, als diejenigen,
bei denen die Widersprüche auftauchen.
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, die Welt wäre ohne Widersprüche.
Nietzsche registriert sie jedenfalls sensibel –
und ist darum selbst widersprüchig.
Ein Pedant kommt mit ihm ebenso wenig zurecht wie mit Kindern.
Der Gegensatz zum Nihilismus ist das „heilige Ja-sagen“.
Das Kind ist bei Nietzsche natürlich nicht das Kind.
Es heißt ja, wenn ich daran erinnere,
„Drei Verwandlungen nenne ich Euch des Geistes…“
Es geht um uns, die Erwachsenen, die ein Bewußtsein haben,
die Geister sind, nicht Gespenster, sondern vollbewußte Erwachsene.
Die können natürlich Kamele bleiben, das Leben lang,
immer schön alles ertragen.
Die könne natürlich auch Löwen werden und bleiben.
Löwe werden ist ja schon eine Menge.
Der Löwe läßt sich nicht mehr alles gefallen.
Aber der kann auch noch Kind werden,
wir können auch noch Kind werden, wenn wir Geister sind,
genug Geist haben.
Das ist die Herausforderung:
Wir sollen nicht nur ertragen und nicht nur brüllen und immer nur Nein-sagen!
Zum Kinde werden heißt, so unerfahren sein, so unbefangen, so unangepaßt,
daß wir zum Ja-sagen fähig sind.
Was soll die ganze Kritik,
wenn sie nur dazu dient,
die beschissene Welt immer wieder nur eine beschissene Welt zu nennen,
nachdem das längst schon alle wissen!
Ja-sagen können gegen alle Erfahrung ist das Schwerste!
Man muß eine Frische behalten haben wie das Kind,
das am Anfang steht.
Man sollte schon aufpassen,
nicht ein ewiger, habitueller Nein-sager zu werden,
vor allem dann, wenn das im Gewande ständiger,
sogar berechtigter Kritik geschieht.
Nur wer Ja sagen kann, bringt auch was Neues hervor,
wer nur Nein sagt,
ist auf das Negative negativ fixiert und bleibt daran hängen.
Nietzsche hat auch darin einfach Recht:
Kind sein heißt, daß das Ja-sagen nicht zerstört ist.
Der unheilige Nietzsche spricht vom heiligen Ja-sagen.
Sich das Ja-sagen zu erhalten – ohne blind für die Wirklichkeit zu sein –
ist tatsächlich eine Zauberkraft – um es deutlich zu sagen: eine Kraft –
und wirkt wie eine Sonne, die mit ihrer Wärme Licht und Leben spendet.
Alles überbietet der Satz im zitierten Text, daß das Kind
„ein aus sich rollendes Rad“ sei.
Aus sich rollend, das heißt, nicht aufgezogen, wie eine Uhr mit einer Feder.
Wir Materialisten heute denken natürlich,
daß ein Kind nicht solche Ursprünglichkeit ist.
Es ist das Kind der Eltern – und es ist eine Mixtur der Gene der Eltern.
Aber der Geist hat keine Gene.
Was Geist ist, können wir kaum begreifen.
Da fängt etwas an – der Geist nimmt keinen Raum ein.
Nietzsche sprach von drei Verwandlungen des Geistes.
Zuletzt ist der Geist das Kind.
Selbstverständlich wissen wir, daß sich kein Kamel
in einen Löwen und kein Löwe in ein Kind verwandelt.
Klar, daß es eine Metaphorik ist. Aber eine über den Geist.
Hier, sind wir vielleicht zum Wichtigsten gekommen:
Das Kind hat den Zauber des Geistes.
Völlig falsch zu denken, wir Erwachsenen würden,
angefüllt mit Wissen, den Geist gepachtet haben
und die Kinder müßten ihn erst langsam erwerben.
Völlig falsch: Die Kinder haben ihn schon.
Sie müssen sich natürlich erst mit ihrem Geist orientieren.
Das ist nicht so einfach. Aber sie haben ihn schon.
Und so ursprünglich der Geist da ist, ohne daß wir ihn fassen können,
so ursprünglich treten die Kinder in die Welt,
ohne daß wir sie auf irgend etwas anderes zurückführen können.
Sie sind darum was Unbegreifliches, was Heiliges.
Und Nietzsche spricht daher auch vom heiligen Ja-sagen:
Ein Ankommmen in der Welt und ein Leben wollen,
ein Augen Aufschlagen und Ja sagen: Ja, ich bin da!
Immer wieder fängt die Welt an.
Immer wieder schlägt die Natur in den Kindern die Augen auf.
Immer wieder ist es so, auch wenn die Welt zum Heulen ist.
Daraus entspringt natürlich eine Theaterkonzeption.
- Kinder haben das Leben vor sich; d.h. sie kennen vieles noch nicht. Kinder sind immer wieder ein Anfang. Sie sind immer etwas Neues in einer alten Geschichte, die sie zum Glück immer unterschätzen. Sie sind daher naiver und spontaner als Erwachsene.
- Vor allem haben sie noch nicht gelernt, sich anders zu geben als sie sind
- Sie müssen auch noch nicht für andere sorgen, Verantwortung ist ihnen daher zunächst fremd, Bindung dagegen absolut nötig.
- Wirklich und möglich fließt bei ihnen noch zusammen.
- Sie haben einen größeren Sinn für die Möglichkeit der Veränderung; und wenn sie sich auch dabei täuschen.
- Auch Traum und Wirklichkeit fließen noch ineinander
- Wenn wir Kindertheater machen:
- machen wir nicht nur etwas, damit sie lachen können,
- machen wir nicht nur etwas, damit sie spielen können,
- machen wir nicht nur etwas, damit sie lernen können,
- machen wir nicht nur etwas, damit sie träumen können.
- Theater für Kinder sollte nicht manipulativ sein:
- Sie werden nicht auf die bevorstehende Berufswelt vorbereitet.
- Es handelt sich auch nicht um vorschulische Erziehung.
- Sie sollen ganz Kinder werden, damit sie ganz Mensch werden. So hat es Hölderlin ausgedrückt.
- Sie sollten auch nicht geschützt werden vor der bestehenden Gesellschaft.
- Theater für Kinder sollte nicht politisch sein und auch nicht pädagogisch. Dann ist es immer manipulativ.
- Es sollte Theater für Kinder sein, nicht dafür, was Erwachsene gut für Kinder finden.
- Es sollte sich auf die objektive Situation der Kinder beziehen.
- Das heißt, sie sollten nicht für das kommende Leben leben, sondern das Theater sollte sich auf ihre gegenwärtige Existenz beziehen.
- Kindertheater ist auch nicht Theater von Kindern für Kinder, da betrügen die Erwachsenen die Kinder; hinter dem Kindertheater stecken immer die Erwachsenen.
- Das heißt nicht, daß den Kinder keine eigene Initiative überlassen wird, im Gegenteil: Sie werden dazu nicht mit Ach und Krach animiert, aber es wird ihnen Raum dafür gelassen.
- Sie sollen die Offenheit ihres Lebens spüren – Kindheit ist noch offen – und sie sollen ihre Offenheit praktisch zur Geltung bringen.
- Ihre Abhängigkeit soll ihnen aber auch nicht verborgen bleiben.
- Die Erwachsenen sollten Kinder als Kinder in ihrem perfekten Sosein, wozu die Unvollkommenheit gehört, einfach anerkennen.
- Dabei müssen die Erwachsenen sich nicht verstecken. Sie können, sollen und müssen mit den Kindern in Kommunikation treten, sie aber in ihrer Eigenständigkeit dabei anerkennen.
- Unter keinen Umständen sie verniedlichen.
- Sich weder unterlegen noch überlegen fühlen. Authentisch aus der eigenen Situation mit Kindern in Kontakt treten.
- Das Spiel ist der Dreh- und Angelpunkt, wo sich Erwachsene und Kinder treffen: das Theater ist der legitime Raum des intuitiv vereinbarten Spiels.
- Das Spiel ist eine eigene und vertiefte Art, sich an das Menschsein zu erinnern, nicht nur zu erinnern, sondern es rituell in der Gegenwart zu praktizieren.