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Was ist Philosophische Praxis? — 12.2005

Stamer in philosophie.de

Ein Gespenst geht um, nicht in Europa, aber in der Philosophie. Was ist philosophi- sche Praxis, wenn sie groß geschrieben wird: Philosophische Praxis? Etwas anderes als praktische Philosophie?

Viele wissen es, dass dies eine Richtung in der Philosophie ist, die von Gerd Achenbach Anfang der 80er Jahre initiiert wurde und Beratungen anbot, vornehmlich mit einem außeruniversitären Verständnis. Eine Gesellschaft wurde gegründet, die sich zunächst „Gesellschaft für Philosophische Praxis“ (GPP) nannte, dann später wegen der zahlrei- chen internationalen Kontakte „Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis“ (IGPP). Der Initiator hat vor zwei Jahren den Vorstand verlassen. Seither hat die Gesell- schaft einen offeneren Charakter und unverkennbar eine programmatische Entwicklung genommen. Zur Beratung ist die Bildung als ein zweiter Bereich der Praxis hinzugetre- ten. Nicht dass Bildung zuvor in der IGPP nicht betrieben wurde, aber sie bestimmte nicht das Selbstverständnis der Philosophischen Praktiker.

Philosophische Praxis – inzwischen auch von vielen Dozenten an der Universität nicht nur anerkannt, sondern auch gefördert, wenn nicht sogar selbst betrieben – weitet sich immer mehr aus zu einer ernst zu nehmenden Alternative zu der traditionellen univer- sitären philosophischen Ausbildung und Forschung. Das ist nicht verwunderlich, denn einerseits erhält sie ständig Zulauf von Studenten, die ihr Studium absolviert haben, aber keine Tätigkeit an der Universität finden; andererseits erweist sich die Gesellschaft in vielen Bereichen geradezu als philosophiebedürftig.

Philosophen sind kompetent:

  • in der Begründung von Werten,
  • in der Analyse fachübergreifender, komplexer Gegenwartsfragen und -probleme,
  • in der Reflexion auf politische Probleme der modernen Wissenschaft und Technik,
  • in der Gesamtdeutung der historischen Situation,
  • in der Aktualisierung theoretisch systematisierter historischer Erfahrung,
  • in der Beratung überökonomischer Zusammenhänge in der Wirtschaft, sowie in der Politik und in anderen Disziplinen,
  • in der Hilfe zur persönlichen Identitätsfindung, im Gespräch über Sinnfragen,
  • in der Ausbildung eines kritischen Bewusstseins, das Distanz zum Zeitgeist ermög-licht.Dies ist eine Zusammenstellung, die keinen systematischen oder abschließenden An- spruch erhebt, aber sichtbar macht, wie breit das Angebot ist, das von Philosophen ausgehen kann und ausgeht. Es zeigt, welche Aufgaben Philosophen übernehmen kön- nen.

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Vor dieser Entwicklung kann die universitäre Philosophie die Augen nicht verschlie- ßen. Sie wird sich den gesellschaftlichen Aufgaben stellen müssen. Auch wenn natürlich die alten Bahnen eingefahren sind, macht sich doch längst auch an den Universitäten ein verstärktes Interesse an den Tätigkeiten von Philosophen außerhalb der Universität bemerkbar. Zum Beispiel wirken an dem von mir geleiteten Institut REFLEX Dozenten der Universität seit über einem Jahr im Beirat mit. An mehreren Vortragsreihen, zu denen ich einlud, nahmen namhafte akademische Experten teil. Auch der Beirat der IG- PP setzt sich aus bekannten Professoren zusammen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Man muß nicht offene Türen einrennen wollen.

In dieser Situation ist die Philosophie an der Universität gefordert. Ihr kommt jetzt auch die Aufgabe zu, Studenten auf ihre außeruniversitäre Tätigkeit vorzubereiten. Und dies mindestens in dreierlei Hinsicht:

  • Studenten müssen die Fähigkeit erwerben, philosophische Texte nicht nur sich selbst anzueignen und zu interpretieren, sondern sie müssen Menschen, die nicht Philosophie studiert haben, sie vermitteln können.
  • Es muß die Fähigkeit erworben werden, philosophische Texte nicht nur zu inter- pretieren, sondern sie auch auf die gesellschaftliche Gegenwartssituation beziehen zu können.
  • Es muß Philosophie in einer Form vermittelt, bzw. gelehrt werden, dass bei der praktischen Inanspruchnahme in den verschiedenen Praxisfeldern außerhalb der Universität die theoretischen Grundlagen nicht verloren gehen; anders: dass die Philosophie als vita contemplativa und ihre theoretische Seite nicht vor die Hunde geht.Diese notwendig gewordene Erweiterung der Aufgabenbestimmung an der Universität wird dazu beitragen, die Bedeutung der Philosophie in der Öffentlichkeit zu verstärken, so dass sie die Orientierung stiftende Rolle erlangt, die keine andere Disziplin auszufüllen vermag.—
    Gerhard Stamer auf philosophie.de