Die Angst vor dem Geist — 08.2005 — Offener Brief an Ansgar Beckermann
Stamer in philosophie.de
Lieber Ansgar Beckermann,
wir sind uns zur Zeit unseres Studiums begegnet. Vermutlich erinnern Sie sich an die Auseinandersetzung, die ich damals im Rahmen der Studentenbewegung mit Haber- mas hatte. Jetzt wende ich mich an Sie in der Form eines Öffentlichen Briefs, weil mir Ihr Artikel „Neuronale Determiniertheit und Freiheit“, den Sie unlängst in der „In- formation Philosophie“ (Heft 2, Juni 2005) veröffentlichten, von der argumentativen Schwäche gekennzeichnet ist, die in der momentanen Debatte mit einigen prominenten Hirnforschern die Philosophie in die Defensive gebracht hat. Ich nutze die Internetportale www.information-philosophie.de und www.philosophie.de, wo ich monatlich eine Kolum- ne schreibe, um diesen Brief zu veröffentlichen. Die nächste Nummer der Information Philosophie war schon im Druck, so daß ich ihn dort nicht mehr unterbringen konnte.
Den weitaus größten Teil Ihres Essays lassen Sie sich von der Unterscheidung zwischen Inkompatibilisten und Komtabilisten leiten. Zu einer verwirrenden Überraschung trägt es natürlich bei, daß Sie Ihren Essay mit der treffenden Darstellung der inkompatibilis- tischen Position von Neurobiologen und Hirnforschern beginnen, dann aber diese bei der Kennzeichnung der Inkompatibilisten gar nicht mehr im Visier haben. Sie beginnen mit der Frage:
Können wir gleichzeitig neuronal determiniert und frei sein?
Ihre Antwort lautet:
Auf den ersten Blick klingt das wie ein Widerspruch, und so sehen es auch Psychologen und Neurobiologen wie Wolfgang Prinz, Gerhard Roth und Wolf Singer. Ihrer Meinung nach gibt es keinen freien Willen, eben weil alle unsere Entscheidungen neuronal deter- miniert sind.
Sie resümieren die Resultate der bekannten Libet-Experimente:
Wenn wir den Eindruck haben, eine Entscheidung zu treffen, ist diese Entscheidung längst getroffen – von unserem Gehirn. Unser Gehirn entscheidet, nicht wir. Das Be- wusstsein läuft immer hinterher.
Mit einem Zitat von Wolfgang Prinz bringen Sie diese Auffassung auf die prägnante Formel:
„Wir tun nicht, was wir wollen; wir wollen, was wir tun.“
Nun nimmt der Leser natürlich an, Sie würden unter dem dann leitenden Stichwort „Inkompatibilität“ eben die der Hirnforscher thematisieren, die die Unvereinbarkeit von neuronaler Determiniertheit und Freiheit behaupten, wie Sie gerade ausgeführt haben. Aber dem ist nicht so, auch wenn die einleitende Definition noch in diese Richtung zu gehen scheint:
Die Angst vor dem Geist — 08.2005 2 Inkompatibilisten vertreten die These, dass Determinismus und Freiheit unvereinbar sind.
In den folgenden Passagen kennzeichnen Sie dann näher die Inkompatibilisten, die Sie meinen. Die Inkompatibilisten seien, wenn ich die Hauptpunkte der Charakterisierung hervorhebe, folgender Auffassung: In einer Welt, in welcher die Zukunft offen sei, in der es so oder so weitergehen könne, gäbe es ein autonomes Ich, das außerhalb des normalen Weltverlaufs steht und in der Lage ist, von außen in diesen Weltverlauf einzugreifen.
Sie zitieren wieder Wolfgang Prinz:
„Die Idee der Willensfreiheit mutet uns zu, in einem ansonsten determinis- tisch verfassten Bild von der Welt lokale Löcher des Indeterminismus zu ak- zeptieren. Allerdings geht es hier nicht […] lediglich um die Abwesenheit von Determination […], sondern um etwas völlig anderes, wesentlich Radikaleres: um nicht weniger als die Ersetzung der gewöhnlichen kausalen Determination durch eine andere, kausal nicht erklärbare Form von Determination. Diese geht von einem autonomen Subjekt aus, das selbst frei, d.h. nicht determiniert ist.“
Sie schließen diesen Abschnitt Ihrer Ausführungen mit Worten, in denen sie die Über- einstimmung mit Prinz hervorheben:
Prinz hat also Recht mit seiner Kritik am Freiheitsbild des Inkompatibilisten.
Sie kritisieren lediglich, daß er dieses Freiheitsbild für das einzig mögliche hält.
Der unbefangene Leser fragt sich nun: Wen meint Ansgar Beckermann eigentlich, wenn er hier von Inkompatibilisten redet? Es wird kein einziger Name genannt. Meint er Wesen von einem anderen Stern? Aber noch weitere Fragen stellen sich: Warum thematisiert er mit keinem Wort die Inkompatibilität der genannten Hirnforscher, die er eingangs präzise als Inkompatibilisten charakterisiert? Offensichtlich sieht er sich mit den Hirn- forschern in einem Boot, zumindest was diese mysteriösen Wesen von dem anderen Stern betrifft, „die von außerhalb des normalen Weltverlaufs“ kommen. Und bei solchen außerirdischen Gefahren scheint die Differenz zu der inkompatibilistischen Position der Naturwissenschaftler selbstverständlich politisch irrelevant.
Vielleicht handelt es sich aber doch um irdische Gefahren, die Ansgar Beckermann vor Augen hat. Denn es könnte ja sein, daß er Kant meint. Bei Kant – so erinnern wir uns in dieser nachmetaphysischen Zeit – gab es ja im Zusammenhang mit der Begründung von praktischer Vernunft und Freiheit schwierige Begriffe, die ganz und gar in die von Ihnen beschriebene Rubrik der obskuren Inkompatibilsten passen: die Kausalität aus Freiheit, der intelligible Charakter, die übersinnliche Natur. Sollten Sie auf Kant gezielt haben?
Nach einigen Überlegungen muß dieser Verdacht allerdings entschieden verworfen wer- den. Denn in unserer Erinnerung ist auch geblieben, daß Kant eine konsequent kompa- tibilistische Stellung bezog. Er entwickelt nämlich den Übergang von der theoretischen zur praktischen Vernunft als „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit, in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit“, wie es in einer Überschrift heißt. Kant also ein inkompatibilistischer Kompatibilist? Oder umgekehrt? Dies sich zu den- ken übersteigt ohne Frage noch die zungenbrecherischen Schwierigkeiten des sprachlichen Ausdrucks, die die Verbindung der beiden Worte bereitet. Sollten wir in unserer nach- metaphysischen Zeit das Glück haben, uns nicht mehr mit solchen komplizierten Gedan- kenprodukten befassen zu müssen? Denn warum erinnert sich Ansgar Beckermann nicht an Kant, wenn er nun zur Darstellung der kompatibilistischen Position übergeht, die er selbst vertritt? Ist Kant out? Wechseln wir auch in unserer Erinnerung zu den englisch- sprachigen Autoren? Fällt es doch auf, daß bis auf Peter Bieri mit einem trivialen Zitat nur englischsprachige Philosophen in dem Essay genannt werden: Roderick Chrisholm, Thomas Ried, George Edward Moore, Harry Frankfurt und John Locke.
Lieber Ansgar Beckermann,
gerade die Argumentation von Locke, auf die Sie sich zur Begründung Ihres kompatibilis- tischen Standpunkts beziehen, scheint mir nicht das zu leisten, was Sie ihr abgewinnen. Im Zusammenhang mit Locke schreiben Sie:
Und eine Entscheidung ist frei, wenn ich (a) vor der Entscheidung innehalten und über- legen kann, was ich in der gegebenen Situation tun sollte, und wenn (b) in diesem Fall meine Entscheidung durch das Ergebnis dieser Überlegung bestimmt wird.
Was Sie dabei nicht berücksichtigen, ist der Umstand, daß Überlegungen und Gründe, die Sie als Voraussetzungen möglicher freier Entscheidungen anführen, nach den Auffas- sungen der genannten Hirnforscher in der individuellen Sozialisation verinnerlicht wor- den sind und daher im Moment ihrer Anwendung nicht aus Freiheit geschöpft werden, sondern selbst einer Determination entspringen. Überlegungen und Gründe, die sich da- her in bestimmten Situationen gegenüber faktischen äußeren Bedingungen und Zwängen durchsetzen, bedeuten daher keinesfalls, daß die Determination gesprengt ist, sondern nur, daß sich die eine Dimension in dem Zwiespalt, die des inneren Zwanges, als stär- ker erweist als die der gegenwärtigen äußeren Zwänge. Das Innehalten in bestimmten Situationen, von dem Sie sprechen, kann so als Folge einer noch ungelösten Konfron- tation gegenläufiger Determinationen verstanden werden, die einen längeren Zeitraum braucht, bis der Ausschlag mechanisch zu der einen oder anderen Seite ausfällt. Damit daß der Mensch im Widerstreit zwischen den gegenwärtigen und den früheren Hand- lungsmotiven seiner Sozialisation steht, lässt sich jede Freiheitskonzeption aushebeln, die für den Bereich der Gründe nicht eine fundamentale Realität annimmt, die nicht den wechselnden, historischen Bedingungen der Sozialisation untersteht. Aber eine solche Kompetenz des bewussten Ich haben Sie ja bereits preisgegeben; zu sehr würde sie nach einem autonomen Subjekt klingen, das „von außen“ in den Weltlauf eingreift.
Statt nun aber Ihren Gedankengang voranzutreiben in die Dimension, aus der plausibel gemacht werden kann, wodurch Überlegungen, Gründe und Argumente ihre konstitutive, eigenständige, unabhängige Geltung erhalten, bekräftigen sie lediglich die Position von Locke:
Meiner Meinung nach spricht also alles dafür, dass bestimmte neuronale Prozesse Prozesse des Überlegens sind, die für Gründe und Argumente empfänglich sind.
Gründe setzen die Befähigung zur Begründung voraus. Worin besteht die? Sie besteht in der Befähigung zur objektivierenden Distanznahme zu den verschiedensten inneren und äußeren Motiven, die auf mich einwirken, um Realität zu erfassen und diese mit meinen Interessen und ideellen Beweggründen in Zusammenhang zu bringen, um daraus eine Entscheidung zu gewinnen. Von dieser komplexen Erkenntnis- und Reflexionsleistung ist zu reden, wenn es um Freiheit geht. Die Entscheidung ist nur die äußere Erscheinung davon. Auch die Katze hält inne und entscheidet sich dann, zum Fressnapf oder auf den Balkon zu gehen. Auf die bloße Entscheidung zu rekurrieren, wie es die Hirnforscher tun und Sie ihnen folgen, ist für die zur Debatte stehende Frage zu kurz gegriffen.
Vom Beginn bis zum Schluß Ihres Essays bleiben Sie befangen in der von den Hirnfor- schern vorgegebenen Dimension der formalen Entscheidung. Sie beginnen mit der Dar- stellung des Experiments von Benjamin Libet, in dem die Entscheidung die wesentliche Rolle spielt und schließen mit Ihrer nun oft wiederholten Behauptung:
Denn wenn freie Entscheidungen die Entscheidungen sind, bei denen man innehalten und überlegen kann, was für und gegen die verschiedenen Handlungsoptionen spricht, und bei denen die Entscheidung danach durch das Ergebnis dieser Überlegung bestimmt wird, dann schließen sich neuronale Determiniertheit und Freiheit keineswegs aus.
Die Wendung „…was für und gegen die verschiedenen Handlungsoptionen spricht,…“ mag den Bereich objektivierender Reflexion andeuten, aber eben nur andeuten, denn hätten Sie aus der objektivierenden Reflexion wirklich die Freiheit ableiten wollen, die einer freien Entscheidung zugrunde liegt, dann hätten Sie auch von vornherein das Ex- periment von Libet, das auf die zeitliche Differenz zwischen bewusstem Entschluß und Gehirnaktivität rekurriert, als irrelevant für den zur Debatte stehenden Sachverhalt abgewiesen.
Die Dimension der Entscheidung ist nicht die, auf der die Freiheit einsehbar gemacht wer- den kann, auch wenn Entscheidungen frei sei können. Sie könnten dem Satz von Marx, daß die herrschenden Gedanken die der herrschenden Klasse seien, nichts entgegensetzen: Die herrschenden Gedanken, so gut sie sich auch als Gründe darstellten, bedeuteten keine Freiheit. Sie führen viele Begriffe an, die in den Bereich der Gründe gehören, aber erklären nicht, wodurch sie konstitutiv sein können, also Freiheit gegenüber Determiniertheit ermöglichen. Sie gelangen nicht zu der Bezeichnung der zusammenhängenden Dimension, nämlich dem Erkenntnisvermögen, um dort zu klären und zu erklären, wie Gründe die Geltung von Begründungen haben können, wie Wahrnehmungen, Erinnerungen und Bedeutungen einen Zusammenhang bilden, der den Menschen prinzipiell heraushebt aus Abläufen, in denen er nur ein determiniertes Durchgangsmoment bildet. Es bedarf der Analyse der Erkenntnis wie sie Kant und Hegel geleistet haben – so unterschiedlich sie auch immer ausgefallen sein mag – um hier ins Klare zu kommen.
Nur durch eine solche Analyse erhellt, daß der Mensch die Befähigung zum Allgemei- nen besitzt, woraus ihm die Möglichkeit erwächst, sich als gesellschaftliches Wesen zu verstehen, so daß er moralisch handeln kann; daß er die die Befähigung zur Erkenntnis von Allgemeingültigem und Notwendigem besitzt, um die Geltung naturwissenschaftli- cher Gesetze zu erfassen und zu ermitteln; daß er die Fähigkeit zur Universalität besitzt, um die Vorkommnisse in der Welt in ihrer spezifischen Verschiedenheit zu unterscheiden und das ihnen jeweils gemäße Maß anzulegen, um sie technisch zu nutzen; daß er die Fähigkeit hat, im freien Spiel mit Determinationen umzugehen, wodurch die Werke der Ästhetik entstehen.
Diese Fähigkeiten sind es, die die Freiheit des Menschen begründen. Freiheit ist nicht durch den Rekurs auf Entscheidung einsichtig zu machen, sondern durch den Nachweis, worin Gründe ihre Geltung besitzen, die in der Entscheidung zutage treten – und dies bedarf einer Theorie der Erkenntnis, die Sie nicht einmal erwähnen. Durch diesen Dispens von der Erkenntnistheorie schleifen Sie nicht nur die Argumente der Philosophie gegen die inkompatibilistische Position der Hirnforschung ab, sondern brechen auch Ihren eigenen Argumenten die Spitze ab.
Das möchte ich an zwei weiteren Beispielen zeigen, die Sie selbst anführen. In einer längeren Passage gehen Sie auf die Wirkungsweise von Computern ein. Computer ließen sich, wie Sie schreiben, auf verschiedene Weise beschreiben:
auf der einen Seite physikalisch, auf der anderen Seite aber auch theoretisch-funktional. In einem Computer kann derselbe Vorgang sowohl eine bestimmte Bewegung von Elektro- nen durch ein Transistornetz als auch das Berechnen der Summe zweier Zahlen sein.
Der Computer ist einerseits ein elektronisches Gerät, andererseits verrichtet er eine Rechen- bzw. Symbolverarbeitung. Sie schließen daraus folgerichtig, daß die Vorgänge im Gehirn auch auf einer kognitiven Ebene beschreibbar wären, und zwar
– als das Wahrnehmen eines Gesichts, als Abrufen einer Erinnerung oder als die Ent- scheidung, den Arm zu heben.
Und Sie fassen zusammen:
Die Tatsache, dass etwas ein neuronales Prozess ist, schließt keinesfalls aus, dass es sich bei demselben Prozess um einen Prozess des Überlegens handelt – …
Sie attestieren dem Kognitiven eine Existenzmöglichkeit synchron zu den neuronalen Vorgängen im Gehirn. Daß bewusste Vorgänge zeitgleich zu denen im Gehirn – wenn auch mit kurzer Zeitverschiebung zugunsten desselben – vorgehen, erklärt noch in keiner Weise das Zustandekommen der Freiheit. Es schafft höchstens einen Freiraum, Freiheit zu denken. Freiheit aber ist ein aktives und beschreibbares Vermögen der menschlichen Intelligenz, die über spezifische Strukturen und Arbeitsweisen verfügt, die selbst so etwas wie Wissenschaft mitsamt der Hirnforschung allererst möglich machen, worauf Sie mit keinem Wort eingehen.
Zu diesen Strukturen – um hier einen kurzen Abriß zu geben, der den Rahmen eines Briefes nicht sprengt – gehört die fundamentale Fähigkeit unserer Gattung, die Din- ge nicht nur zur Erhaltung unserer Existenz zu nutzen, sondern zu erkennen, was sie sind. Diese Fähigkeit zur Objektivität erweist sich in der ungemein produktiven Leis- tung der Hervorbringung von Theorien, die einen Geltungscharakter besitzen, also nicht nur feststellen, was ist, sondern ausdrücken, als was etwas gilt: als wahr, gut oder schön. Zu diesen Strukturen des bewussten Seins gehört weiter das Subsumtionsverhältnis von Allgemeinem und einzelnem im Begriff, das in der Dimension von Raum und Zeit nicht vorkommt. Auch dazu gehört die Konstitution der Welt durch die synthetisierende Leis- tung des Ich, dann selbstverständlich auch die Strukturen der Logik und der Grammatik. Das alles gibt es nicht im Gehirn, dort tritt alles nur in der „Sprache“ neuronaler Impulse, bzw. elektrischer Prozesse auf.
Was sehen wir im Gehirn? Elektrische Impulse, neuronale Prozesse, wahrscheinlich lässt sich sogar in den neuronalen Netzen lokalisieren, was synchron passiert, wenn wir be- stimmte bewusste Erlebnisse haben. Aber auf der Ebene des Gehirns kommen diese Erlebnisse so wenig vor wie unsere bewussten Empfindungen auf dem Instrument, mit dem eine Sonate gespielt wurde. In den physikalischen Schwingungen der Saiten des Instruments, die diese hervorgebracht haben, sind sie nicht vorhanden.
Also gibt es eine Synchronizität und Kompatibilität zwischen Bewusstsein und Gehirn ohne Kongruenz ihrer Formen und Inhalte. Die „Sprache“ im Gehirn ist eine andere als im Bewusstsein, obwohl sie sich gut verstehen und miteinander verlaufen.
Wenn das Verhältnis von Bewusstsein und Gehirn thematisiert wird, muß die Philosophie aber noch offensiver argumentieren. Es geht nicht nur um die Kompatibilität von Be- wusstsein und Gehirn, sondern um die Ursprünglichkeit und Priorität des Bewußtseins. Das heißt, sich darüber klar zu werden, daß das Bewusstsein, unser bewusstes Sein, der Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Untersuchungen ist, also auch der Hirnforschung. Es ist nicht das Gehirn, das das Ich untersucht, sondern das mit anderen Menschen sich in Kommunikation befindende Ich, das Hirnforschung betreibt. Die Untersuchung ist eingebettet in die zweieinhalbtausendjährige Geschichte der bewussten Begriffs- und Theoriebildung. Das Bewusstsein als Ausgangspunkt der Untersuchung zu überspringen, ist der fundamentale Mangel der Hirnforschung, ja der Naturwissenschaft bis auf wenige Ausnahmen insgesamt – worauf besonders Husserl in seiner Krisenschrift hinweist.
Ohne zu wissen, was das Bewusstsein und seine Erscheinungen sind, ließe sich gar keine sinnvolle Hirnforschung betreiben. Denn immer müssen wir Vorkommnisse im Bewusst- sein haben, wie bestimmte sinnliche Wahrnehmungen, diagnostizierte Erkrankungen, ästhetische Empfindungen, um zu untersuchen, in welcher Weise Prozesse im Gehirn ihnen entsprechen. Im Gehirn selbst sind diese Vorkommnisse nicht zu sehen. Würden sie zu sehen sein, würde Hirnforschung nicht nötig sein; alles was es zu erforschen gäbe, wäre unmittelbar sichtbar. Die Realität der bewussten Erkenntnis ist die Voraussetzung der Naturwissenschaft, nicht umgekehrt.
Das Eingeständnis, daß ohne Gehirn kein Bewusstsein möglich ist, bedeutet weder, daß die Strukturen des Gehirns die des Bewußtseins sind, noch daß das Gehirn der Aus- gangspunkt aller bewussten Vorgänge ist.
Ich hoffe, bislang einsichtig gemacht zu haben, daß weder in der Dimension der Entschei- dung, die unabhängig von der konstitutiven Kraft der Erkenntnis betrachtet wird, die Freiheit erklärbar ist, noch daß die Kompatibilität von Gehirn und Bewusstsein dafür ausreichend ist. Kompatibilität begründet keine kreative Ursprünglichkeit und Eigen- ständigkeit.
Aber der Einwand gegen die Art, in welcher Sie in Übereinstimmung mit den Hirnfor- schern das Thema behandeln, muß noch verschärft werden. Denn nicht aus dem Verhält- nis von Gehirn und Bewusstsein – zumal nicht dem zeitlichen – kann Freiheit einsichtig gemacht werden, sondern nur aus dem Weltverhältnis des Denkens zum Sein. Sie führen selbst das Beispiel mit der Kollegin an. Deren Aufforderung, zu einer wichtigen Sitzung zu kommen, veranlasst Sie schließlich, doch zu der Sitzung zu gehen. Sie schreiben:
Wenn ich darauf hin tatsächlich aufstehe und zur Fakultätskonferenz gehe, ist das wohl am besten dadurch zu erklären, dass die neuronalen Prozesse, die zu meinem Aufstehen führten, auf die Bedeutung dessen, was die Kollegin gesagt hat, reagiert haben – und auch auf das in ihrer Äußerung enthaltene Argument.
Sie konstatieren hier einen Einfluß, bzw. einen Impuls auf ihr bewusstes Verhalten, der von außen auf das Bewusstsein und auch das Gehirn trifft, also nicht aus der unmittelba- ren internen Beziehung zwischen Bewusstsein und Gehirn stammt. Aber sie unterlassen es, die systematischen Konsequenzen daraus zu ziehen, nämlich das Freiheit nur aus dem Weltverhältnis des Denkens zum Sein abgeleitet werden kann, wie es in der gesamten philosophischen Tradition geschah – zumindest in ihren bedeutenden Erscheinungen. Freiheit ist keine Sache des internen Verhältnisses von Bewusstsein und Gehirn, son- dern ein Verhältnis des Menschen – mit Bewusstsein und Gehirn – zur Welt, in der er lebt. Und dieses dialogische Verhältnis zur Welt ist eines, das ursprünglich über das Bewusstsein verläuft.
Wissenschaftliche Erkenntnisse werden durch den bewussten empirischen Umgang mit den Dingen der raum-zeitlichen Welt erworben und in standardisierten Experimenten verifiziert. Gesellschaftliche Zwecksetzungen und architektonische Pläne sind Kombina- tionen von verschiedenen Elementen zu einer Einheit, die in der Außenwelt bewusst vorgenommen werden. Ästhetische Werke sind Kompositionen, die bewusst arrangiert werden. Das Gehirn aber hat kein Außenverhältnis. Das hat nur das bewusste Denken mit den Sinnen. Das Gehirn ohne Bewusstsein ist leer, ließe sich in der Variante eines Kantzitats sagen. Bedeutungen erwachsen durch Kommunikation. Sprache und Symbole gehen aus bewussten, intersubjektiven Akten hervor.
Wissenschaft und Technik sind aus Lernleistungen entsprungen, die in bewussten media- len Formen überliefert wurden. Das Gehirn weiß nichts von Wissenschaft und Technik; erst indem der Mensch im Umgang mit der Welt sie hervorbringt. Politische Strategien und Taktiken, werden durch Kenntnis von Umständen und Verhältnissen durch Analy- sen, eine bewusste Denkarbeit, zustande gebracht. Diagnosen und Therapien des Arztes werden durch bewusste Kenntnisse erstellt. Nur über das Bewusstsein und den mit ihm verbundenen Sinnen hat das Gehirn seinen Weltbezug. Es mag auch einen unbewussten Weltbezug durch die Sinne geben, aber durch den sind nicht die kulturbegründenden Bereiche wie Wissenschaft, Technik, Recht, Religion und Philosophie hervorgebracht worden. Kultur ist eine bewusste Hervorbringung eines durch Intelligenz und Freiheit begründeten Weltverhältnisses.
Zum Abschluß stellt sich die Frage: Warum verspielt der Ansgar Beckermann die Argu- mente der Philosophie gegen die Hirnforschung? Warum bewegt er sich so weit auf die Hirnforschung zu, daß er dabei das Potential seiner Zunft vollkommen entschärft und obendrein an der Realität des menschlichen Seins vorbeigeht? Die durchgehende Inkon- sequenz kann – so scheint es – nur einen Grund haben: Ansgar Beckermann ist nicht von der ursprünglichen Realität des menschlichen Geistes überzeugt. Sind die Argumente von Platon bis Hegel nicht bei ihm angekommen? Der nachmetaphysische Mensch hat sie nicht mehr in seinem Repertoire. Oder sollte die Angst zu groß sein, mit der Annahme der im selbstbewussten Ich gegründeten Erkenntnis eine Realität zu behaupten, die sich nicht von der traditionellen Metaphysik abgrenzen läßt?
Da sich aber über längere Zeit im Zeitalter der technischen Intelligenz die Einsicht in die ursprüngliche Realität der lebendigen Intelligenz nicht verdrängen lässt, werden wir nicht auf ewig die halbherzigen Statements der Philosophie zu den jeweiligen Neuerungen der Naturwissenschaft vernehmen müssen, sondern auch zu der konstitutiven Rolle der Philosophie zurückfinden.
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Gerhard Stamer auf philosophie.de