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Vom Nutzen und Nachteil der Philosophie für die Gesellschaft — 05.2005 1

Stamer in phiolosophie.de

Die Philosophie soll raus aus dem Elfenbeinturm. Sie soll ihren Nutzen für die Ge- sellschaft erweisen. Wie zu allen Zeiten wird ihr vorgeworfen, sie habe die Welt nur verschieden interpretiert. Und tatsächlich: Was springt denn rein ökonomisch aus den philosophischen Gedanken heraus? Die Philosophie rechnet sich nicht. Zum Glück wan- delt sich das Bewusstsein der Philosophen. Sie wollen praktisch werden. Praktische Phi- losophie ist en vogue. Philosophen werden nicht nur Lehrer und Journalisten wie früher, sie werden heute Unternehmensberater, Eheberater, Supervisoren, Mediatoren, Direk- toren von Stiftungen und so weiter. Wirtschaftsethik und Ethikkommissionen bis hin zur Regierung haben Konjunktur. Führungsakademien und Seniorenuniversitäten sprie- ßen aus dem Boden. Fachbereiche „philosophy and economics“ werden an Universitäten eingerichtet. Eine internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis reüssiert.

Es gibt keinen Zweifel: die Philosophie dient der Gesellschaft. Auch die Philosophie- studenten beginnen, sich am Markt zu orientieren: Welchen Beruf ergreife ich, wenn ich keine Stelle an der Uni bekomme, was wahrscheinlich ist? Wie schneide ich mein Studium auf eine zukünftige Berufsausübung zu? Hätte ich nicht doch gleich etwas Praktischeres studieren sollen wie Betriebswirtschaft, Jura oder Medizin? Halt! mag da jemand rufen, der bereits Geld mit der Philosophie verdient: Ist dieser Anspruch auf Praktikabilität, die vollkommene Reduzierung auf ihren Gebrauchswert, der Philosophie nicht eigentlich we- sensfremd? War Philosophie nicht immer eine vita contemplativa? Stand die Philosophie seit Platon nicht immer in kritischer Distanz zu den aktuellen politischen und gesell- schaftlichen Verhältnissen? Hat sie nicht immer Ideen in die Welt gesetzt, die praktisch nicht zu realisieren waren, was ihr zu allen Zeiten den Ruf eintrug, weltfremd zu sein? War Philosophie nicht immer mit ihren Ideen, Idealen und Utopien wie ein Blinkfeuer am Horizont, dass in allen Wirren und Zwängen der Gegenwart Orientierung gab? Sicher, das Blinkfeuer war fern, es hat dem Seemann nicht sagen können, wie er das Schiff in den Wind stellt, aber es gab doch die Richtung an. Konkrete Hilfe bei der Arbeit leistete das Blinkfeuer nie: Aber was, wenn es hieran gemessen würde? Wenn es missachtet und abgeschafft würde, weil nur gelten solle, was unmittelbar in der gegenwärtigen Arbeit zum Einsatz kommt? Wäre das Defizit kompensierbar?

Die Philosophie hat die Welt des Seins stets mit der Welt des Sollens konfrontiert. Sie hat in der Gegenwart an die Zukunft erinnert, sie hat angesichts der Wirklichkeit die Möglichkeit zu Bewusstsein gebracht und angesichts der Notwendigkeit die Freiheit. Sie hat nachgewiesen, dass die Zukunft, die Möglichkeit und die Freiheit a priori zur spezifischen Realität des Menschseins gehören.

Wenn die Gefahr besteht, das Blinkfeuer außer Kraft zu setzen: Was ist dann die Aufgabe der Philosophie? Ohne Perspektive und Richtung mitzuwuseln? Dann kann die Aufgabe der Philosophie nur die sein, das Blinkfeuer wieder zu errichten und seine Be- deutung klar zu machen. Ohne dies zu tun, kann sie sich beispielsweise in der Kritik in einer Weise verlieren, dass sie nur noch das Grau in Grau des Bestehenden abschildert, ohne – wie unter dem Bann eines Bilderverbots – jemals zur Darstellung des Eigenen zu gelangen. In kritischer Absicht würde sie kontraproduktiv das Bestehende verabsolutieren. Oder sie könnte sich darauf einlassen, tüchtig beratend mitzumischen – bis sie endlich Anerkennung gewinnt.

Aber wozu wäre sie imstande, ohne Blinkfeuer zu sein? Würde sie mit ihrer traditionel- len Argumentationskompetenz bei Entlassungen die Unumgänglichkeit dieses Vorgangs den Betroffenen vor Augen führen, um sie zur konfliktfreien Einwilligung zu bewegen? Würde sie Erklärungen entwickeln, wie zur Verteidigung der Menschenrechte die Rüs- tungsproduktion wegen der Ausrottung des Terrorismus nicht eingestellt werden könnte? Würde sie alles daransetzen, um die Umweltzerstörung auf ein erträgliches Maß zu re- duzieren? Würde sie mehr sein als das fünfte Rad am Wagen? Würde sie mehr sein, als eine rhetorische, verharmlosende Verbrämung bei der Durchsetzung von vermeintli- chen Sachzwängen? Würde sie mehr sein, als Argumentationshilfe zur Legitimation und Akzeptanz von Entscheidungen, die die Globalisierung allem Anschein nach fordert?

In Zeiten der Dunkelheit hat Philosophie das Blinkfeuer am Leuchten zu halten. Den- ker in dürftiger Zeiten sollten nicht mitwuseln, so gut sie es meinen, sie sollten Philoso- phie machen. Sie sollten der Verführung des Mitwirkens widerstehen. Unter dem schönen Titel der Beratung wuchert schnell die Korruption.

Was also soll er tun, der Philosoph? Was heißt, Philosophie machen? Das heißt in erster Linie, überhaupt die Philosophie in dieser Hektik technisch-wirtschaftlicher Entwicklung, die wir Globalisierung nennen, als Disziplin der Besinnung am Leben zu erhalten. Die Frage am Leben zu erhalten, was der Mensch denn eigentlich ist. Die Frage am Leben zu erhalten, ob es denn doch eine kosmische Ordnung gibt, von der die Religionen reden? Ob es denn doch Ideen gibt, wie die Gerechtigkeit, den Frieden und die Freiheit, die zum Wesen eines vernunftbegabten Wesens gehören, wie es der Mensch ist.

Als vita contemplativa hat die Philosophie großen gesellschaftlichen Nutzen – heute wie zu allen Zeiten.

Gerhard Stamer

auf philosophie.de

Wenn es schon eine Dialektik der Aufklärung gibt: warum nicht auch eine Dialektik der Metaphysik? — 04.2005

Stamer in philosophie.de

Als Adorno und Horkheimer zu ihrem Buch „Dialektik der Aufklärung“, das sie 1944 in Amerika geschrieben hatten, 1969 ein Vorwort zur Neuausgabe verfassten, sahen sie sich in ihrer Gegenwartsdiagnose bestätigt. Sie sprachen von „Übergang zur verwalteten Welt“ und von totaler Integration der Menschen, die sich „über Diktaturen und Kriege“ zu vollziehen drohe. Ihr Fazit: „Die Prognose des damit verbundenen Umschlags von Aufklärung in Positivismus, den Mythos dessen, was der Fall ist, schließlich die Identität von Intelligenz und Geistfeindschaft hat überwältigend sich bestätigt.“

Wenn denn an der Dialektik der Aufklärung irgendetwas dran sein sollte, was ich hier gar nicht diskutieren möchte, dann wäre natürlich zumindest der Verdacht naheliegend, daß auch ihr Gegenpart, die Metaphysik, in eine solche Bewegung geraten könnte.

Metaphysik: was war denn das? Und wie wurde sie von den Aufklärern verstanden? Metaphysik setzte unbewiesene und unbeweisbare Spekulationen, wie das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele als Realität voraus. Sie forderte von den Wissenschaf- ten die Anerkennung dieser Spekulationen als Substanz der Wirklichkeit. Sie behinderte den Fortschritt, indem sie die Realität unter dem Aspekt der Ewigkeit und nicht der Geschichtlichkeit betrachtete. In ihrer Verbindung mit der Religion und deren institu- tioneller und gesellschaftlicher Machtausübung verteidigte sie ihre Dogmen und förderte Irrationalismus und Obskurantismus. Sie band die Menschen in Haltungen der kontem- plativen Hinnahme von ungerechten Verhältnissen ein, anstatt sie zur Praxis zu erwecken. Sie begünstigte Unterwürfigkeit und verfemte Emanzipation. Sie glorifizierte das Elend, indem sie diese Welt als die schönste aller möglichen ausgab, anstatt sie der berechtigten Kritik zu unterziehen. Sie baute totalitäre politische Systeme in unsere Köpfe ein und war ein Feind der offenen Gesellschaft, der modernen Demokratie und ihres Pluralismus. Und so weiter.

Wenn das Metaphysik war oder zumindest mit Metaphysik zusammenhing: Welche Dialektik hätte diese Metaphysik vollziehen sollen? Welche ließe sich erwarten? Für welche gibt es Anzeichen?

Adorno und Horkheimer hatten die Geistfeindschaft als ein Zeichen der Dialektik an- gesehen, der die Aufklärung unterworfen war. Sollte die Negation der Metaphysik die Negation des Geistes bedeuten, was auch immer sie sonst bedeutete? Sollte die Meta- physik so mit dem Geist verschwistert sein, daß, wenn man sie überwindet, zugleich den Geist aufgibt? Hat sich denn nicht gerade mit der Aufklärung die Rationalität durchge- setzt? Könnte Rationalität geistlose Intelligenz sein, die „Identität von Intelligenz und Geistfeindschaft“? Ein Monstrum? Jedenfalls war Metaphysik von ihrem Anfang an Leh- re vom Geist: ob als Nous bei Anaxagoras oder als Logos bei Heraklit. Von Platon bis Hegel wird der Geist in den größten metaphysischen Theoremen als das innerste Struk- turprinzip der Wirklichkeit begriffen. Geist nicht nur als Hilfsmittel, die Realität zu erkennen, sondern Geist als das Medium, durch das Erkenntnis der Realität möglich ist, indem in ihm eine Kompatibilität von Denken und Sein, von Subjekt und Objekt der Erkenntnis gewährleistet ist. Bis zu Habermas hin schüttelt sich der Antimetaphysiker angesichts der Unfaßlichkeit des Geistes. Lieber naturwissenschaftliche Faßlichkeit des Erkannten, auch wenn dabei die Kompatibilität von Denken und Sein und von Subjekt und Objekt aus der Reflexion systematisch ausgegrenzt wird!

Sollte die Fassungslosigkeit angesichts der Unfaßlichkeit des Geistes paradoxerweise die Selbsterkenntnis des Geistes verwehren? Sollte die Angst vor der Grenzenlosigkeit des Geistes und der damit verbundenen Offenheit der Metaphysik das erhoffte Heilmittel sein, um das Irdische zu bestehen? Sollte die Philosophie daher so blaß gegenüber der Hirnforschung dreinschauen, weil sie sich nicht mehr die metaphysische Realität des Geistes zu behaupten traut? Oder zwingt die Hirnforschung mit ihrem Generalangriff auf die Autonomie des Menschen die Philosophie – und nicht nur die Philosophie – zu der Dialektik, den Geist auch heute noch als fundamentale Wirklichkeit zu erkennen und anzuerkennen, so unfassbar er auch sei? Wann wird der Umschlag kommen?

Gerhard Stamer
auf philosophie.de

Warum Kant die „Kritik der reinen Vernunft“ hätte anders schreiben müssen. — 03.2005

Stamer in philosophie.de

Kant hätte mit der Freiheit beginnen müssen. Warum? Weil er selbst es so sagt. An vielen Stellen der „Kritik der reinen Vernunft“ wird das deutlich. Er billigt dem Verstand Spontaneität gegenüber der Sinnlichkeit zu. Der Verstand sei das Vermögen, Vorstellun- gen selbst hervorzubringen, er sei die Spontaneität der Erkenntnis. Die Verbindung des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung bezeichnet er als einen „Aktus der Spon- taneität“. Die Verbindung von Vorstellungen zu einem Objekt, die nur vom Subjekt der Erkenntnis selbst verrichtet werden könne, sei ein „Aktus der Selbsttätigkeit“. Die Syn- thesen, die das Erkenntnisvermögen leistet, sind Leistungen des Verstandes. Das Ich, wie es im §25 der Ausgabe B heißt, wird als sich selbst bestimmendes charakterisiert. „Das, Ich denke, drückt den Aktus aus, mein Dasein zu bestimmen.“ Als Bestimmtes, das selbst eine Erscheinung in der Zeit ist, bin ich ein empirisches Wesen, wie alle anderen Dinge der Welt. Aber als Bestimmendes, als Subjekt im vollen Sinn, „kann ich mein Dasein, als eines selbsttätigen Wesens, nicht bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Spontaneität meines Denkens, d.i. des Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt immer nur sinnlich, d.i. als das Dasein einer Erscheinung, bestimmbar. Doch macht diese Spontaneität, daß ich mich Intelligenz nenne.“

Es bleibt eine Frage, warum Kant die Spontaneität des Verstandes nicht als Freiheit gedeutet hat. Schon in der Vorrede zur Ausgabe B drängt sich diese Frage auf. Er zitiert die Naturforscher wie Galilei: „Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt.“ Der Metaphysik empfiehlt er, doch einmal zu versuchen, ob sie nicht besser vorankäme, wenn man annähme, „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten…“. Später heißt es noch deutlicher, daß der Verstand der Natur die Gesetze vorschreibe.

Und dennoch spricht Kant dem Verstand, der theoretischen Vernunft nicht die Frei- heit zu. Er reserviert diese für die praktische Vernunft. Für ihn beweist sich Freiheit letztendlich nicht in der Erkenntnis dessen, was ist, sondern im Hervorbringen dessen, was moralisch sein soll. Er koppelt die Freiheit an die Moral, obwohl er die theoretische Vernunft mit den Charakteristika der Freiheit beschreibt. Das hat Folgen. Er bewahrt die naturwissenschaftliche Theorie vor dem Abgrund der Freiheit, anders: vor den Kom- plikationen, die mit der Freiheit auftreten. Freiheit sei „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen…“. Die Freiheit sprengt die Kausalität der Natur. Man kann auch sagen: Kant macht die Naturwissenschaft klinisch rein, er hält die Freiheit von ihr ab. In der Tradition des Selbstverständnisses von Naturwissenschaft, auf die Kant erhebli- chen Einfluß – bis heute – hat, konnte sich aufgrund der systematischen Unterscheidung zwischen einer theoretischen Vernunft, die es prinzipiell mit den notwendigen, kausa- len, physikalischen Prozessen zu tun hat, und einer praktischen Vernunft, zu der die Hervorbringungen aus Freiheit, Kultur genannt, gehören, eine Kluft bilden, die der Na- turwissenschaft erlaubte, ihr Tätigkeit unter Nichteinbeziehung von Subjekt und Freiheit zu betrachten.

Hätte am Anfang der „Kritik der reinen Vernunft“ die Freiheit gestanden, wie es nach Kants eigenen Ausführungen richtig gewesen wäre, und hätte Kants Philosophie auch dann den Einfluß ausgeübt, der ihr in den vergangenen zwei Jahrhunderten zukam, dann hätte sich die Naturwissenschaft inhaltlich mit der Freiheit herumschlagen müssen. Dann wäre nicht die Kausalität der Natur der Ausgangspunkt aller Naturwissenschaft geworden, sondern die „Kausalität aus Freiheit“, von der Kant auch spricht. Und es wäre kaum möglich gewesen, die moralische Vernunft, die sich auf die Freiheit als ihre Voraussetzung beruft, aus dem Reich der Wissenschaft auszuschließen, bzw. ihr einen Status minderer Begründung zuzuweisen. Denn entweder wäre die Naturwissenschaft selbst diesem Status anheimgefallen, oder sie hätte der Moral als eine ihr ursprünglich verwandte Freiheitsaktivität gleiche Geltung zusprechen müssen wie sich selbst. Das müsste sich nicht dadurch ändern, daß der praktischen Vernunft als einem Sollen eine qualitativ andere Form der Freiheit zuzusprechen wäre als der theoretischen Vernunft, die erkennt, was ist.

Irgendwann wird die Naturwissenschaft die Freiheit auch als die eigene Voraussetzung anerkennen müssen, zumal es momentan die Naturwissenschaft ist und die ihr folgende Technik, worin die Freiheit des Menschen sich am deutlichsten – und auf Kosten der praktischen Vernunft – manifestiert. Aber anders als ein dogmatisch-kritischer Geist es ahnen mag, der darin nur den Schrecken fortschreitender Entfremdung erblicken kann, wird die eigene Dynamik dem forschenden Geist der Naturwissenschaft selbst zum Ge- genstand werden müssen. Und dann hält die Freiheit Einzug in die Naturwissenschaft, nicht irgendwie als Unbestimmtheit, sondern als Realität des Geistes. Nicht auszuden- ken, was dann passiert.


Gerhard Stamer auf philosophie.de

Wissenschaftliche Objektivität und menschliche Realität — 02.2005

Gerhard Stamer in philosophie.de

Das Zeitgeschehen überrollt geschichtlich erarbeite Fragestellungen und Problemstel- lungen. Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert kann man den Eindruck gewinnen, als wenn die politischen Katastrophen und die technischen Erneurungen Turbulenzen er- zeugten hätten, die die Menschheit nicht haben zur Besinnung kommen lassen. Die im- mer neue Gegenwart hat mit ihren wechselnden Konstellationen die Menschen in Atem gehalten. Immer neue Theoriekonstrukte haben einander abgelöst. Oft ist dabei der Fa- den zum Alten gerissen; oft zum Schaden des Neuen, das die Komplexität des Alten nicht halten konnte; oft zum Schaden des Alten, das nicht mehr rekonstruiert und ver- standen werden konnte. Eine Situation ergibt sich, in der alles gesagt werden kann, was einem einfällt: Sinnloses steht neben Sinnvollem mit gleicher Berechtigung. Alles sind Erzählungen, mehr oder minder wahr.

Ein Beispiel. Ludwig Wittgenstein und Edmund Husserl kommen aus verschiedenen Theoriezusammenhängen zu einem ähnlichen Ergebnis mit fundamentaler Plausibilität, aber der Lauf der Zeit geht darüber hinweg, so wie über die Jahreszeiten, die sich einander ablösen.

Wittgenstein kommt in seinem Tractatus logico-philosophicus, 1918 geschrieben, zu folgendem Resümee: „Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Für die Philosophie zieht er daraus eine radikale Konsequenz: „Die richtige Methode der Phi- losophie wäre eigentlich die: nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –,…“ Der Philo- sophie verbliebe allein eine Kontrollaufgabe: „Die Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft. Sie soll des Denkbare abgrenzen und damit das Undenk- bare.“ Das Undenkbare und Unsagbare ist aber für Wittgenstein nicht gleich nichts, denn: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Die Philosophie ist in dieser Bestimmung negiert: als Mystik hat sie die Sprache verloren, denn das Mystische zeigt sich nur, als pure Kontollinstanz hat sie kein eigenes Gebiet mehr.

Was für Wittgenstein ein Resultat ist, gilt Husserl als Ausgangspunkt für die Be- gründung seiner transzendentalen Phänomenologie, aus der er in den 30er Jahren eine umfassende Kritik der modernen Gesellschaft ableitet. Er scheidet zunächst wie Witt- genstein Wissenschaft und menschliche Lebenswelt. Während Wittgenstein aber in sei- nem Traktat auf die „logische Klärung der Gedanken“ aus ist und die systematische, logische Fundierung der Wissenschaft intendiert, was zur Eliminierung der menschlichen Lebenswelt aus der Wissenschaft führt, sieht Husserl in genau diesem Anspruch der Wis- senschaft sowohl eine Naivität, als auch eine gefährliche Überfremdung der menschlichen Lebenswelt. Naiv sei die Wissenschaft, weil sie verwurzelt ist in der vorwissenschaftlichen Lebenswelt, aus der entspringt. „Das Wissen von der objektiv-wissenschaftlichen Welt gründet in der Evidenz der Lebenswelt.“ Gefährlich sei sie, weil sie der ursprünglichen vorwissenschaftlichen Lebenswelt die Wahrheitsfähigkeit abspricht, wie es Wittgensteins Satz ausdrückt, daß wir unsere Lebensprobleme nicht einmal berührt hätten, auch wenn alle wissenschaftlichen Fragen beantwortet wären.
Wittgenstein negiert am Maßstab wissenschaftlicher Logik die menschliche Lebenswelt

als wahrheitsfähig, Husserl hingegen negiert am Maßstab der ursprünglichen Evidenz der Lebenswelt die Wissenschaft. Beide haben in einem fundamentalen Sinne Recht. Wissenschaft und menschliche Lebenswelt fallen auseinander. Die Wissenschaft scheitert an der menschlichen Lebenswelt, die menschliche Lebenswelt findet in der Wissenschaft keinen Ausdruck ihrer selbst. Das sollte nun länger kein Tabu sein!

Wo aber führt es hin, wenn diese Identität aufgegeben wird? Bei Wittgenstein, der die Wissenschaft als das Primäre setzt, zum Schweigen in der Mystik und zur Auflösung der Philosophie. Bei Husserl, der die Lebenswelt als das Primäre setzt, nicht zur Negation der Wissenschaft als Wissenschaft, sondern zu der Anstrengung, eine Rationalität der vorwissenschaftlichen Lebenswelt zu begründen. Im Blick auf die europäische Geschichte spricht er (1935) von einem Versagen einer rationalen Kultur. „Der Grund des Versagens einer rationalen Kultur liegt aber – … – nicht im Wesen des Rationalismus selbst, sondern allein in seiner V e r ä u ß e r l i c h u n g, in seiner Versponnenheit in ’Naturalismus’ und ’Objektivismus’.“

Wenn die Forderung nach einer Rationalität berechtigt und vernünftig ist, die eine unserer Lebenswirklichkeit ist, d.h. in der wir zu einem Verständnis unserer selbst ge- langen können, und wenn diese Bemühung nicht in eine Soziologisierung der Philosophie führen soll – wie bei Habermas –: wie sähe das Projekt aus?


Gerhard Stamer auf philosophie.de

Philosophie der Präsenz — 01.2005

Gerhard Stamer in philosophie.de

Seit gut zwei Jahrhunderten versuchen sich wissenschaftliche Disziplinen von der Phi- losophie zu emanzipieren. Es ist wie bei den Kindern: der Bogen wird dabei immer überspannt. Keine dieser Disziplinen hat es versäumt, mit der Attitüde des nun endlich stattfindenden Durchbruchs zur ungeschminkten Wahrheit das traditionelle Gedanken- gut als antiquiert und nun glücklicherweise überwunden zu schmähen und mit Hohn her- abzusetzen. In immer neuen Varianten wird in bilderstürmerischem Eifer der Versuch unternommen, gerade das, was offensichtlich das Besondere des Menschen ausmacht, ihm abzusprechen, nämlich seine mit Bewusstsein verbundene Fähigkeit, zu denken und sich in Freiheit selbst zu bestimmen. Alle diese Richtungen sind sich darin einig, den Idealismus überwunden zu haben, der in dieser Selbsterkenntnis des Menschen besteht, die seit Parmenides und Heraklit die Philosophie in Gang gebracht hat. Ob es am An- fang der Gesellschaftswissenschaft bei Karl Marx heißt, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, ob es im Zuge der Etablierung der modernen psychologischen Therapiekul- tur bei Sigmund Freud unter Hinweis auf das Unbewusste heißt, der Mensch sei nicht einmal Herr im eigenen Hause, ob seit Wittgenstein ein Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie vollzogen sei; und ob jetzt von der Hirnforschung das bewusste Sein des Menschen und die Freiheit als Schein entlarvt sei: immer scheint es sich in einem Gestus radikaler Aufklärung um eine Überwindung der Selbsttäuschung des Menschen zu handeln, der sich aufgrund seiner Denkfähigkeit eine – wie auch immer näher zu erklärende – Möglichkeit der Selbstbestimmung als fundamentale Daseinsform zuspricht.

Eine gewisse Selbstverständlichkeit hat sich im Zeitgeist aufgrund dieser breiten und mit vielen theoretischen Hervorbringungen ausgestatteten Front niedergeschlagen, im bewussten Sein des Menschen etwas Sekundäres zu sehen, etwas, das mit der traditio- nellen Überhöhung des Menschen in religiösen Selbstdeutungen zusammenhängt. Mag es in früheren Zeiten eine grandiose Überhöhung des Menschen in Vorstellungen der Gotte- sebenbildlichkeit gegeben haben, gegenwärtig scheint der größte Triumph menschlicher Erkenntnis darin zu bestehen, den Menschen mit irgendwelchen Kleintieren gleichzu- setzen, denn so verschieden seien deren Gene nicht von denen der Menschen. Frühere Zeiten mochten den Menschen die Krone der Schöpfung auf den Kopf gepresst haben, ob sie passte oder nicht, heute scheint es darum zu gehen, dem Menschen nicht nur die Krone vom Kopf zu reißen, sondern diesen selbst, d.h. die Fähigkeit des Denkens zur Selbstbestimmung unter bestehenden Bedingungen.

Die Philosophen haben ihren Teil dazu beigetragen, bis in die neueste Zeit hinein. Ad- orno setzt alles daran, „mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen“, Heidegger übergibt die Freiheit des Menschen an die Übermächtigkeit des Seinsgeschicks, das sich vollzieht. Noch bei Habermas ist diese Tendenz zu spüren. Nur nicht in den Verdacht des Idealismus geraten! So versichert auch er in seinem Vor- trag anlässlich der Verleihung des Kyoto-Preises im November 2004, in dem er gegen die reduktionistischen Deutungen der Hirnforschung Einspruch erhebt, daß das Ich „sozial konstruiert“ sei. Soziale Konstruktion des Ich ist eine geschickte Umschreibung für die Negation der Selbstbestimmung des Ich. Sie bedeutet, daß die Gesellschaft durch Sozialisation die Menschen zu dem bestimmt, was sie sind. Eine reflektive Vernunft, die Distanz zu den Bedingungen ihrer eigenen Existenz und denen der bestehenden Lebens- welt herstellen kann, ist nur unter Anerkennung der Bewußtseinsphilosophie denkbar, die Habermas aber für das Paradigma einer pragmatischen Sprachphilosophie längst aufgegeben hat.

Kein Wunder, wenn nun die Hirnforschung ein freies Feld vorfindet, um in den Deu- tungen ihrer prätentiösesten Vertreter zum Gegenschlag gegen die Aufklärung, aber auch gegen die theologischen Auffassungen der Freiheit des Menschen und seiner Sonderstel- lung in der uns bekannten Welt auszuholen. „Keiner kann anders, als er ist. Verschaltun- gen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden.“ Das ist die Überschrift eines Artikels von Wolf Singer, dem Dirktor am Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in der Frankfurter Allgemeinen. Das von den Gedanken Wolf Singers inspirierte hochge- sponserte Kulturprojekt „Frankfurter Positionen“ auf dem dieser auch den Eröffnungs- vortrag 2003 hielt, lautete konsequent: „Warum nicht würfeln?“ Nicht die Bewältigung der komplexen Wirklichkeit mit Vernunft ist also der Weisheit letzter Schluss, sondern das Chaos – den Zufall – zur eigenen Methode zu machen. Unverkennbar handelt es sich um den wissenschaftlich getarnten Zynismus dessen, der nicht durchblickt und klüglich den Verzicht auf den Durchblick zur überlegenen rationalen Einstellung stilisiert. Dieser Fatalismus der Vernunft in der Epoche globalisierter Zusammenhänge – man mag dar- über denken, was man will, warum er denn auch in der Homepage von Angela Merkel verbreitet wird – ist im Kern das Eingeständnis und die Rechtfertigung der Konzeptlo- sigkeit angesichts der Gegenwart – und in Folge dessen die Preisgabe des konstruktiven politischen Gestaltungswillens, dem das Bild einer humanen Zukunft zugrunde liegt.

Dieser Selbstaufgabe der Vernunft ist die Philosophie der Präsenz entgegen zu setzen. Mag in früheren Zeiten eine idealistische Metaphysik die Substanz der Realität in das Jenseits verlegt haben, so wird in der heutigen materialistischen Metaphysik die Substanz in das Jenseits der biophysischen Vorgänge des Gehirns verlegt. Metaphysik ist beides, denn die Realität des Menschen, der Ort seines Daseins, ist sein bewusstes Erleben. In seinem bewussten Erleben gibt es Argumente und treten Fakten auf, die auf die Existenz Gottes schließen lassen oder auf die Basisfunktion des Gehirns für alle mentalen Vorgänge. Ohne bewusstes Erleben gäbe es keine Frage nach dem Verhältnis des Gehirns zum Bewusstsein, gäbe es keine Hirnforschung. Ohne zu wissen, was Bewusstsein ist, würden wir gar nicht wissen, was wir im Gehirn suchen sollten. Die Realität des Menschen besteht dort, wo er anwesend ist. In seinem bewussten Erleben ist der Mensch da. Diese Präsenz ist seine Realität. Das bewusste Erleben ist das Ursprüngliche der menschlichen Seinsform. Es kommt darauf an, es zu begreifen. Es auf anderes zurückführen zu wollen, ist der Verzicht darauf, es zu begreifen. Es als Schein zu erklären, bedeutet im Kern die Negation seiner wesenhaften Existenzform: das menschliche Sein sei eben nur ein Schein. Und es ist die Absage daran, mit Bewusstsein in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können. Ein Hohn auf alle humanen Bemühungen. Es ist die Selbstpreisgabe im Zeitalter der Globalisierung.
Es wäre der bare Unsinn, dass der Mensch gerade zu dem historischen Zeitpunkt, in dem sich das Netz der menschlichen Produktivität – eine Leistung seiner Erkenntniskräf- te – um den ganzen Planeten zieht, sich selbst als ohnmächtig und verantwortungslos interpretieren möchte.

Gerhard Stamer auf philosophie.de