Die Freiheit: das letzte Irrationale? — 10.2005
stamer in philosophie.de
Bei der Betrachtung der theoretischen Diskurse, die seit mehr als einem Jahrhundert über den Begriff der Freiheit geführt werden, drängt sich der Eindruck einer offensicht- lichen Paradoxie auf, dass nämlich die Negation der Freiheit oft mit einer Intention betrieben wurde, der es um die Befreiung des Menschen ging . Befreiung ohne Freiheit: Wie sollte das gehen? Ob es sich dabei um die abgewetzte Formel von Karl Marx dreht, das (gesellschaftliche) Sein bestimme das Bewusstsein oder um die höhnische Äußerung von Siegmund Freud, wir würden angesichts der Umtriebe des Unbewussten nicht einmal Herr im eigenen Hause sein: Was sollten all diese Aufklärungen, die den Menschen die Freiheit absprechen, um ihn zu befreien? Denn um Befreiung, um soziale und psychische ging es doch? Was konnte nur in diesen Widersinn führen?
Es bedarf keiner besonderen analytischen Arbeit, um zu sehen, dass sich die beiden zitierten Emanzipationskonzeptionen darum bemühten, im Zeitalter der Verabsolutie- rung der naturwissenschaftlichen Erkenntniskriterien den szientistischen Ansprüchen zu genügen. Ihre Ergebnisse sollten begründet sein, sollten empirisch, bzw. praktisch veri- fizierbar sein, sollten kausale – auch wenn dialektisch kausale – Wirkzusammenhänge aufdecken, Gesetze und Gesetzmäßigkeiten ermitteln. Sie sollten feststellen, dass es so und so ist und nicht: dass es so und so sein kann, aber auch ganz anders. Die Ver- pflichtung auf den Szientismus – auch im Gewande von Dialektik oder Psychoanalyse – bedeutet den Ausschluß der Annahme von Freiheit.
Wenn das der naturwissenschaftlichen Methode immanent ist, die Welt als kausal de- terminierten Zusammenhang zu beschreiben, und die Welt ein solcher ist, was ist dann die Freiheit? Dann ist sie als Negation der durchgehenden Einheit der Welt das eigentlich Irrationale. Denn was die Natur betrifft, ließe sich beruhigend den Erklärungen vieler Naturwissenschaftler folgen: es sei nur noch eine Sache der Zeit, bis auch die Zusammen- hänge erforscht wären, die sich bislang unserer Kenntnis entzögen. Immer mehr Licht komme in die Dinge. Keinesfalls hätte die moderne Physik den durchgehenden Determi- nismus der Natur in Frage gestellt. Die Relativitätstheorie Einsteins sei natürlich keine Lehre davon, dass ihre Ergebnisse relativ seien. Die Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs verstehe sich selbst keineswegs als eine unbestimmte Mutmaßung, sondern als gültige na- turwissenschaftliche Erkenntnis. Die gesamte Natur erweise sich als ein Zusammenhang von Ordnungsstrukturen, auf die die Mathematik erfolgreiche Anwendung findet. Selbst im Chaos gäbe es Ordnung, wie wir wissen, seit die Apfelmännchen entdeckt sind.
Dieser Tendenz, den geschlossenen Ordnungszusammenhang von Natur und Welt zu ergründen, verbindet sich in der Moderne eine zweite, nicht weniger folgenreiche: Alles Geistige wird auf Materielles zurückgeführt; seien dies nun die Gesellschaft und der psychische Apparat oder wie in jüngster Zeit die Gene und das Gehirn. Darin scheint sich Wissenschaft gewissermaßen auszuweisen, dass dem Bewusstsein die Konstitutivität, d.h. die Freiheit abgesprochen wird. Trotz der Evidenzen in der eigenen Alltagserfahrung verfechten gegenwärtig einige Hirnforscher die Behauptung, dass die Freiheit nur eine Illusion sei und gänzlich rückführbar auf neuronale Prozesse im Gehirn. Freiheit könne es gar nicht geben. Das wäre ein Sprung in der Wirklichkeit.
Bis zu Jürgen Habermas geht dieser Trend, auch wenn er besagten Hirnforschern widerspricht. Denn auch dem nachmetaphysischen Denken, dem er sich verschrieben hat, geht es darum, das Denken von seinen „Unabhängigkeitsillusionen“ zu heilen. Der Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie, wenn auch in prag- matischer Ausdeutung, ist die Negation des Ich als der operativen Schaltstelle, die sich Bedingungen – äußere und eigene – vergegenwärtigen kann, um sich nach Werten und Zielvorstellungen zu richten, die durch kritische Reflexion geprüft und angeeignet wurden.
Freiheit ist nicht nur die Einsicht in das Notwendige. Freiheit ist auch die Poten- zialität, die geltende Notwendigkeiten zu sprengen vermag und darüber hinaus selbst Notwendigkeiten in die Welt setzen kann.
Auch wenn Freiheit kaum denkbar ist, ohne Kenntnis der Bedingungen unter denen Entscheidungen zu treffen sind; und auch wenn Entscheidungen prinzipiell im Angesicht von Bedingungen stattfinden – auch freie Entscheidungen –, so machen doch die Bedin- gungen nicht die Entscheidung aus. Die Aufklärung über die Bedingungen der Freiheit hebt die Freiheit selbst nicht aus den Angeln. Die Bedingungen der Freiheit sind nicht mit der Freiheit selbst zu verwechseln.
Freiheit ist und bleibt das nicht Fassbare am Menschen. Wäre sie fassbar, wäre sie nicht die Freiheit. In der Freiheit tritt der Mensch das schöpferische Erbe der Natur an. Daß Freiheit und Vernunft sich fest verbinden, scheint eine langfristige – immer wieder unterschätzte und immer wieder in die Verzweiflung treibende – historische Aufgabe der Gattung zu sein. Wegen der Barbarei, die aus der Freiheit des Menschen hervorging, wofür wir bis in die jüngste Geschichte Beispiele haben, die Freiheit unterbinden zu wollen, wäre ein hoffnungsloser – und auch inhumaner Versuch. Freiheit lässt sich auch nicht auf Vernunft reduzieren. Sie sitzt tiefer im Menschen. Angst vor der Freiheit aus Angst vor der Barbarei, führt nur dazu, das Leben an die Kette zu legen – und das gelingt nicht – und wo es für kurze Zeiträume gelingt, erzeugt es Langeweile und Überdruß. Man muß sich auf die Freiheit schon einlassen und die Rationalität der Freiheit zur Aufgabe des Denkens machen. Durch keine Erkenntnis und durch keine Methode lässt sich die Freiheit verdrängen. Wo sie verdrängt wird, wird sie böse, d.h. erst recht irrational.
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Gerhard Stamer auf philosophie.de