Gerhard Stamer in philosophie.de
Das Zeitgeschehen überrollt geschichtlich erarbeite Fragestellungen und Problemstel- lungen. Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert kann man den Eindruck gewinnen, als wenn die politischen Katastrophen und die technischen Erneurungen Turbulenzen er- zeugten hätten, die die Menschheit nicht haben zur Besinnung kommen lassen. Die im- mer neue Gegenwart hat mit ihren wechselnden Konstellationen die Menschen in Atem gehalten. Immer neue Theoriekonstrukte haben einander abgelöst. Oft ist dabei der Fa- den zum Alten gerissen; oft zum Schaden des Neuen, das die Komplexität des Alten nicht halten konnte; oft zum Schaden des Alten, das nicht mehr rekonstruiert und ver- standen werden konnte. Eine Situation ergibt sich, in der alles gesagt werden kann, was einem einfällt: Sinnloses steht neben Sinnvollem mit gleicher Berechtigung. Alles sind Erzählungen, mehr oder minder wahr.
Ein Beispiel. Ludwig Wittgenstein und Edmund Husserl kommen aus verschiedenen Theoriezusammenhängen zu einem ähnlichen Ergebnis mit fundamentaler Plausibilität, aber der Lauf der Zeit geht darüber hinweg, so wie über die Jahreszeiten, die sich einander ablösen.
Wittgenstein kommt in seinem Tractatus logico-philosophicus, 1918 geschrieben, zu folgendem Resümee: „Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Für die Philosophie zieht er daraus eine radikale Konsequenz: „Die richtige Methode der Phi- losophie wäre eigentlich die: nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –,…“ Der Philo- sophie verbliebe allein eine Kontrollaufgabe: „Die Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft. Sie soll des Denkbare abgrenzen und damit das Undenk- bare.“ Das Undenkbare und Unsagbare ist aber für Wittgenstein nicht gleich nichts, denn: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Die Philosophie ist in dieser Bestimmung negiert: als Mystik hat sie die Sprache verloren, denn das Mystische zeigt sich nur, als pure Kontollinstanz hat sie kein eigenes Gebiet mehr.
Was für Wittgenstein ein Resultat ist, gilt Husserl als Ausgangspunkt für die Be- gründung seiner transzendentalen Phänomenologie, aus der er in den 30er Jahren eine umfassende Kritik der modernen Gesellschaft ableitet. Er scheidet zunächst wie Witt- genstein Wissenschaft und menschliche Lebenswelt. Während Wittgenstein aber in sei- nem Traktat auf die „logische Klärung der Gedanken“ aus ist und die systematische, logische Fundierung der Wissenschaft intendiert, was zur Eliminierung der menschlichen Lebenswelt aus der Wissenschaft führt, sieht Husserl in genau diesem Anspruch der Wis- senschaft sowohl eine Naivität, als auch eine gefährliche Überfremdung der menschlichen Lebenswelt. Naiv sei die Wissenschaft, weil sie verwurzelt ist in der vorwissenschaftlichen Lebenswelt, aus der entspringt. „Das Wissen von der objektiv-wissenschaftlichen Welt gründet in der Evidenz der Lebenswelt.“ Gefährlich sei sie, weil sie der ursprünglichen vorwissenschaftlichen Lebenswelt die Wahrheitsfähigkeit abspricht, wie es Wittgensteins Satz ausdrückt, daß wir unsere Lebensprobleme nicht einmal berührt hätten, auch wenn alle wissenschaftlichen Fragen beantwortet wären.
Wittgenstein negiert am Maßstab wissenschaftlicher Logik die menschliche Lebenswelt
als wahrheitsfähig, Husserl hingegen negiert am Maßstab der ursprünglichen Evidenz der Lebenswelt die Wissenschaft. Beide haben in einem fundamentalen Sinne Recht. Wissenschaft und menschliche Lebenswelt fallen auseinander. Die Wissenschaft scheitert an der menschlichen Lebenswelt, die menschliche Lebenswelt findet in der Wissenschaft keinen Ausdruck ihrer selbst. Das sollte nun länger kein Tabu sein!
Wo aber führt es hin, wenn diese Identität aufgegeben wird? Bei Wittgenstein, der die Wissenschaft als das Primäre setzt, zum Schweigen in der Mystik und zur Auflösung der Philosophie. Bei Husserl, der die Lebenswelt als das Primäre setzt, nicht zur Negation der Wissenschaft als Wissenschaft, sondern zu der Anstrengung, eine Rationalität der vorwissenschaftlichen Lebenswelt zu begründen. Im Blick auf die europäische Geschichte spricht er (1935) von einem Versagen einer rationalen Kultur. „Der Grund des Versagens einer rationalen Kultur liegt aber – … – nicht im Wesen des Rationalismus selbst, sondern allein in seiner V e r ä u ß e r l i c h u n g, in seiner Versponnenheit in ’Naturalismus’ und ’Objektivismus’.“
Wenn die Forderung nach einer Rationalität berechtigt und vernünftig ist, die eine unserer Lebenswirklichkeit ist, d.h. in der wir zu einem Verständnis unserer selbst ge- langen können, und wenn diese Bemühung nicht in eine Soziologisierung der Philosophie führen soll – wie bei Habermas –: wie sähe das Projekt aus?
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