Philosophie der Präsenz — 01.2005
Gerhard Stamer in philosophie.de
Seit gut zwei Jahrhunderten versuchen sich wissenschaftliche Disziplinen von der Phi- losophie zu emanzipieren. Es ist wie bei den Kindern: der Bogen wird dabei immer überspannt. Keine dieser Disziplinen hat es versäumt, mit der Attitüde des nun endlich stattfindenden Durchbruchs zur ungeschminkten Wahrheit das traditionelle Gedanken- gut als antiquiert und nun glücklicherweise überwunden zu schmähen und mit Hohn her- abzusetzen. In immer neuen Varianten wird in bilderstürmerischem Eifer der Versuch unternommen, gerade das, was offensichtlich das Besondere des Menschen ausmacht, ihm abzusprechen, nämlich seine mit Bewusstsein verbundene Fähigkeit, zu denken und sich in Freiheit selbst zu bestimmen. Alle diese Richtungen sind sich darin einig, den Idealismus überwunden zu haben, der in dieser Selbsterkenntnis des Menschen besteht, die seit Parmenides und Heraklit die Philosophie in Gang gebracht hat. Ob es am An- fang der Gesellschaftswissenschaft bei Karl Marx heißt, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, ob es im Zuge der Etablierung der modernen psychologischen Therapiekul- tur bei Sigmund Freud unter Hinweis auf das Unbewusste heißt, der Mensch sei nicht einmal Herr im eigenen Hause, ob seit Wittgenstein ein Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie vollzogen sei; und ob jetzt von der Hirnforschung das bewusste Sein des Menschen und die Freiheit als Schein entlarvt sei: immer scheint es sich in einem Gestus radikaler Aufklärung um eine Überwindung der Selbsttäuschung des Menschen zu handeln, der sich aufgrund seiner Denkfähigkeit eine – wie auch immer näher zu erklärende – Möglichkeit der Selbstbestimmung als fundamentale Daseinsform zuspricht.
Eine gewisse Selbstverständlichkeit hat sich im Zeitgeist aufgrund dieser breiten und mit vielen theoretischen Hervorbringungen ausgestatteten Front niedergeschlagen, im bewussten Sein des Menschen etwas Sekundäres zu sehen, etwas, das mit der traditio- nellen Überhöhung des Menschen in religiösen Selbstdeutungen zusammenhängt. Mag es in früheren Zeiten eine grandiose Überhöhung des Menschen in Vorstellungen der Gotte- sebenbildlichkeit gegeben haben, gegenwärtig scheint der größte Triumph menschlicher Erkenntnis darin zu bestehen, den Menschen mit irgendwelchen Kleintieren gleichzu- setzen, denn so verschieden seien deren Gene nicht von denen der Menschen. Frühere Zeiten mochten den Menschen die Krone der Schöpfung auf den Kopf gepresst haben, ob sie passte oder nicht, heute scheint es darum zu gehen, dem Menschen nicht nur die Krone vom Kopf zu reißen, sondern diesen selbst, d.h. die Fähigkeit des Denkens zur Selbstbestimmung unter bestehenden Bedingungen.
Die Philosophen haben ihren Teil dazu beigetragen, bis in die neueste Zeit hinein. Ad- orno setzt alles daran, „mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen“, Heidegger übergibt die Freiheit des Menschen an die Übermächtigkeit des Seinsgeschicks, das sich vollzieht. Noch bei Habermas ist diese Tendenz zu spüren. Nur nicht in den Verdacht des Idealismus geraten! So versichert auch er in seinem Vor- trag anlässlich der Verleihung des Kyoto-Preises im November 2004, in dem er gegen die reduktionistischen Deutungen der Hirnforschung Einspruch erhebt, daß das Ich „sozial konstruiert“ sei. Soziale Konstruktion des Ich ist eine geschickte Umschreibung für die Negation der Selbstbestimmung des Ich. Sie bedeutet, daß die Gesellschaft durch Sozialisation die Menschen zu dem bestimmt, was sie sind. Eine reflektive Vernunft, die Distanz zu den Bedingungen ihrer eigenen Existenz und denen der bestehenden Lebens- welt herstellen kann, ist nur unter Anerkennung der Bewußtseinsphilosophie denkbar, die Habermas aber für das Paradigma einer pragmatischen Sprachphilosophie längst aufgegeben hat.
Kein Wunder, wenn nun die Hirnforschung ein freies Feld vorfindet, um in den Deu- tungen ihrer prätentiösesten Vertreter zum Gegenschlag gegen die Aufklärung, aber auch gegen die theologischen Auffassungen der Freiheit des Menschen und seiner Sonderstel- lung in der uns bekannten Welt auszuholen. „Keiner kann anders, als er ist. Verschaltun- gen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden.“ Das ist die Überschrift eines Artikels von Wolf Singer, dem Dirktor am Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in der Frankfurter Allgemeinen. Das von den Gedanken Wolf Singers inspirierte hochge- sponserte Kulturprojekt „Frankfurter Positionen“ auf dem dieser auch den Eröffnungs- vortrag 2003 hielt, lautete konsequent: „Warum nicht würfeln?“ Nicht die Bewältigung der komplexen Wirklichkeit mit Vernunft ist also der Weisheit letzter Schluss, sondern das Chaos – den Zufall – zur eigenen Methode zu machen. Unverkennbar handelt es sich um den wissenschaftlich getarnten Zynismus dessen, der nicht durchblickt und klüglich den Verzicht auf den Durchblick zur überlegenen rationalen Einstellung stilisiert. Dieser Fatalismus der Vernunft in der Epoche globalisierter Zusammenhänge – man mag dar- über denken, was man will, warum er denn auch in der Homepage von Angela Merkel verbreitet wird – ist im Kern das Eingeständnis und die Rechtfertigung der Konzeptlo- sigkeit angesichts der Gegenwart – und in Folge dessen die Preisgabe des konstruktiven politischen Gestaltungswillens, dem das Bild einer humanen Zukunft zugrunde liegt.
Dieser Selbstaufgabe der Vernunft ist die Philosophie der Präsenz entgegen zu setzen. Mag in früheren Zeiten eine idealistische Metaphysik die Substanz der Realität in das Jenseits verlegt haben, so wird in der heutigen materialistischen Metaphysik die Substanz in das Jenseits der biophysischen Vorgänge des Gehirns verlegt. Metaphysik ist beides, denn die Realität des Menschen, der Ort seines Daseins, ist sein bewusstes Erleben. In seinem bewussten Erleben gibt es Argumente und treten Fakten auf, die auf die Existenz Gottes schließen lassen oder auf die Basisfunktion des Gehirns für alle mentalen Vorgänge. Ohne bewusstes Erleben gäbe es keine Frage nach dem Verhältnis des Gehirns zum Bewusstsein, gäbe es keine Hirnforschung. Ohne zu wissen, was Bewusstsein ist, würden wir gar nicht wissen, was wir im Gehirn suchen sollten. Die Realität des Menschen besteht dort, wo er anwesend ist. In seinem bewussten Erleben ist der Mensch da. Diese Präsenz ist seine Realität. Das bewusste Erleben ist das Ursprüngliche der menschlichen Seinsform. Es kommt darauf an, es zu begreifen. Es auf anderes zurückführen zu wollen, ist der Verzicht darauf, es zu begreifen. Es als Schein zu erklären, bedeutet im Kern die Negation seiner wesenhaften Existenzform: das menschliche Sein sei eben nur ein Schein. Und es ist die Absage daran, mit Bewusstsein in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können. Ein Hohn auf alle humanen Bemühungen. Es ist die Selbstpreisgabe im Zeitalter der Globalisierung.
Es wäre der bare Unsinn, dass der Mensch gerade zu dem historischen Zeitpunkt, in dem sich das Netz der menschlichen Produktivität – eine Leistung seiner Erkenntniskräf- te – um den ganzen Planeten zieht, sich selbst als ohnmächtig und verantwortungslos interpretieren möchte.
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Gerhard Stamer auf philosophie.de