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In welcher Zeit philosophieren wir?

Nachklang zu Harold Pinters Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an ihn.

Manchmal frage ich mich, ob uns eigentlich richtig klar ist, in welcher Zeit wir philosophieren und leben. Manchmal habe ich das Gefühl, wir Philosophen – mit der großen Tradition des Fachs auf dem Rücken, ein gutes Kamel würde Nietzsche höhnen – haben noch nicht zu brüllen begonnen, sind noch keine Löwen geworden, was wir auch eigentlich noch nie gewesen sind. Oder wollen wir gleich zur Unschuld des Kindes übergehen?

Noch einmal: In welcher Zeit philosophieren wir? Schaffen wir es, unsere Zeit in Gedanken zu fassen, unsere Zeit auf den Begriff zu bringen, selbst wenn wir an unsere Zeit den Maßstab des Unendlichen anlegen? Oder haben wir gar nicht diese Aufgabe? Verheben wir uns an ihr? Sollten wir der Tradition unbeirrbar zugewandt bleiben, um gegen die Ablenkungen der Gegenwart gefeit zu sein und nicht selbst in den Strudel mit hineingezogen zu werden? Sind wir am präsentesten, wenn wir das Unendliche und Zeit- lose in den Katastrophen der Zeitläufe festhalten? Wollen wir den Engel spielen, der mit dem Rücken in die Zukunft fliegt? Oder tauchen wir ein in die Fluten der Gegenwart, um aktuell zu sein? Es ist nicht leicht, in Zeiten des Wandels Philosoph zu sein.

Harold Pinter, der Dichter, kein Philosoph, hat gewissermaßen vom Olymp herunter zu unserer Zeit Stellung genommen. In seiner Nobelpreisrede prangert er die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika unversöhnlich an.

„Wie jeder der hier Anwesenden weiß, lautete die Rechtfertigung für die In- vasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hoch gefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige binnen 45 Minuten abgefeuert werden könnten, mit verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit.“

„Jeder weiß, was in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa während der Nachkriegszeit passierte: die systematische Brutalität, die weit verbreiteten Gräueltaten, die rücksichtslose Unterdrückung eigenständigen Denkens. All dies ist ausdrücklich dokumentiert und belegt worden.“

„Aber ich behaupte hier, dass die Verbrechen der USA im selben Zeitraum nur oberflächlich protokolliert, geschweige denn eingestanden, geschweige denn überhaupt als Verbrechen wahrgenommen worden sind. Ich glaube, dass dies benannt werden muss, und dass die Wahrheit beträchtlichen Einfluss darauf hat, wo die Welt jetzt steht.“

„Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen,… und natürlich Chile. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden. In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts.“

„Was ist aus unserem sittlichen Empfinden geworden? Hatten wir je eines?“

Pinters Rede ist in zweierlei Hinsicht ein Skandal. Sie ist ein Skandal, wenn das stimmt, was er sagt und sie ist ein Skandal, wenn das nicht stimmt, was er sagt. Denn wenn es stimmt, ist unser Erdball der Politik einer verbrecherischen Supermacht ausgesetzt, wenn nicht, dann ist diese Rede eines Nobelpreisträgers die übelste Verleumdung der herrschenden Ordnungsmacht und des Landes der Demokratie, die in der Öffentlichkeit möglich ist. Und sie muß sofort zurückgenommen werden. Sie muß Folgen haben, mindestens ein juristisches Nachspiel, dass ihn zur Rechenschaft zieht, ihn als gemeinen Lügner bloßstellt.

Aber was ist geschehen? Unser Blätterwald geht sehr zurückhaltend mit dieser Rede um. Sonst immer um jeden Skandal bemüht, wird hier nichts ausgeschlachtet. Es sieht so aus, als ignoriere man die Rede oder distanziere sich bloß von ihrer ungehemmten Polemik. Zwar sickert die Rede in der Öffentlichkeit durch, aber sie steht nirgendwo auf der ersten Seite. Sie ist höchstens eine kleine Notiz wert. Was soll man daraus schließen?

Offensichtlich zunächst, dass Harold Pinter nicht in skandalöser Weise Märchen aufgetischt hat, ansonsten hätte man ihn öffentlich gesteinigt. Für relativ harmlose moralische Verfehlungen werden Menschen von den Medien gnadenlos verfolgt. Es muß was dran sein an seiner Anklage. Es ist was dran. Denn das, was er anführt, ist in vielen seriösen Veröffentlichungen – und zwar seit Jahren – zu lesen. Man muß sie nicht zitieren. Sie sind bekannt. Es ist nichts Neues, keine Enthüllung, was Pinter vorbrachte. Nur dass es ein Nobelpreisträger auf der höchsten Stufe kultureller Adelsverleihung sagt, das ist das Neue.

Pinters Rede hat etwas von einem Ausdruck der ungezügelten Emotionalität. Sie schreit etwas heraus, wie Kassandra vor dem Untergang Trojas. Es ist nur ein Schrei. Die absolute Macht ist auf der anderen Seite. An ihr prallt der Schrei wie ungehört ab. An dem Schrei spürt man schon die Verzweiflung der Machtlosigkeit. Er wird nichts bewirken. Das Unheil geht weiter. Das sagt der Schrei, aber immerhin, er sagt es. Und er schreit es.

Warum schreit unsere Presse, warum schreien unsere Medien nicht? Das ist die Frage. Denn wenn Pinter Recht hat, dann muß man schreien oder sehr ruhig werden wie ein Seemann bei harter See. Wenn man weder das eine noch das andere tut, dann ist das, was Pinter tat, peinlich, wie immer wenn jemand plötzlich die unangenehme Wahrheit emotional äußert.

Die Zurückhaltung der Medien angesichts der Rede von Pinter riecht nach Peinlichkeit. Warum Peinlichkeit? Weil er Recht hat, aber die Medien – und der überwiegende Teil der Bevölkerung längst dazu übergegangen sind, den Skandal als Normalität zu empfinden. Die einen sind moderat, die anderen stecken den Kopf in den Sand. Es gibt Leute, die sehen weg, wenn auf der anderen Straßenseite ein Verbrechen geschieht. Und es gibt Zeiten, in denen die Menschen so leben, als würden sie von ihrer Gegenwart wegsehen. Aber Europa ist nur dann stark, wenn es moralisch stark ist. Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Europafrage. Die aktuelle Identität Europas liegt in der Moral. Sie muß erworben werden. Im Wetteifern auf ökonomischer Ebene wird Europa sich verlieren. Im Rückblick wird sie nicht gefunden.

Es geht nicht bloß um die Forderung, dass Guantanamo geschlossen wird – das selbst- verständlich auch! –, es geht um die Forderung, dass gegen die amerikanische Regierung der Prozeß gemacht wird wegen Kriegsverbrechen, denn das ist die einzige logische Kon- sequenz, wenn die Begründung des Krieges erlogen ist. Und diese Forderung lässt sich nicht vom Tisch wischen mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus. Den stärksten Anti- amerikanismus betreibt die gegenwärtige Regierung der USA.

Und wir Philosophen? Wollen wir den kategorischen Imperativ in Zukunft nur noch am Sonntag festlich predigen? Oder ist er das scharfe, unantastbare, keinem Schacher auszuliefernde Kriterium der Menschenrechte und Menschenwürde?

Gerhard Stamer
auf philosophie.de (01.2006)