Statt nun aber Ihren Gedankengang voranzutreiben in die Dimension, aus der plausibel gemacht werden kann, wodurch Überlegungen, Gründe und Argumente ihre konstitutive, eigenständige, unabhängige Geltung erhalten, bekräftigen sie lediglich die Position von Locke:
Meiner Meinung nach spricht also alles dafür, dass bestimmte neuronale Prozesse Prozesse des Überlegens sind, die für Gründe und Argumente empfänglich sind.
Gründe setzen die Befähigung zur Begründung voraus. Worin besteht die? Sie besteht in der Befähigung zur objektivierenden Distanznahme zu den verschiedensten inneren und äußeren Motiven, die auf mich einwirken, um Realität zu erfassen und diese mit meinen Interessen und ideellen Beweggründen in Zusammenhang zu bringen, um daraus eine Entscheidung zu gewinnen. Von dieser komplexen Erkenntnis- und Reflexionsleistung ist zu reden, wenn es um Freiheit geht. Die Entscheidung ist nur die äußere Erscheinung davon. Auch die Katze hält inne und entscheidet sich dann, zum Fressnapf oder auf den Balkon zu gehen. Auf die bloße Entscheidung zu rekurrieren, wie es die Hirnforscher tun und Sie ihnen folgen, ist für die zur Debatte stehende Frage zu kurz gegriffen.
Vom Beginn bis zum Schluß Ihres Essays bleiben Sie befangen in der von den Hirnfor- schern vorgegebenen Dimension der formalen Entscheidung. Sie beginnen mit der Dar- stellung des Experiments von Benjamin Libet, in dem die Entscheidung die wesentliche Rolle spielt und schließen mit Ihrer nun oft wiederholten Behauptung:
Denn wenn freie Entscheidungen die Entscheidungen sind, bei denen man innehalten und überlegen kann, was für und gegen die verschiedenen Handlungsoptionen spricht, und bei denen die Entscheidung danach durch das Ergebnis dieser Überlegung bestimmt wird, dann schließen sich neuronale Determiniertheit und Freiheit keineswegs aus.
Die Wendung „…was für und gegen die verschiedenen Handlungsoptionen spricht,…“ mag den Bereich objektivierender Reflexion andeuten, aber eben nur andeuten, denn hätten Sie aus der objektivierenden Reflexion wirklich die Freiheit ableiten wollen, die einer freien Entscheidung zugrunde liegt, dann hätten Sie auch von vornherein das Ex- periment von Libet, das auf die zeitliche Differenz zwischen bewusstem Entschluß und Gehirnaktivität rekurriert, als irrelevant für den zur Debatte stehenden Sachverhalt abgewiesen.
Die Dimension der Entscheidung ist nicht die, auf der die Freiheit einsehbar gemacht wer- den kann, auch wenn Entscheidungen frei sei können. Sie könnten dem Satz von Marx, daß die herrschenden Gedanken die der herrschenden Klasse seien, nichts entgegensetzen: Die herrschenden Gedanken, so gut sie sich auch als Gründe darstellten, bedeuteten keine Freiheit. Sie führen viele Begriffe an, die in den Bereich der Gründe gehören, aber erklären nicht, wodurch sie konstitutiv sein können, also Freiheit gegenüber Determiniertheit ermöglichen. Sie gelangen nicht zu der Bezeichnung der zusammenhängenden Dimension, nämlich dem Erkenntnisvermögen, um dort zu klären und zu erklären, wie Gründe die Geltung von Begründungen haben können, wie Wahrnehmungen, Erinnerungen und Bedeutungen einen Zusammenhang bilden, der den Menschen prinzipiell heraushebt aus Abläufen, in denen er nur ein determiniertes Durchgangsmoment bildet. Es bedarf der Analyse der Erkenntnis wie sie Kant und Hegel geleistet haben – so unterschiedlich sie auch immer ausgefallen sein mag – um hier ins Klare zu kommen.