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Hegel

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        Hegel

          ohne Abschied zu nehmen

Vortrag am 4. Februar 2008, Leibniz-Haus, Hannover

Dr. Gerhard Stamer

1.

Die Annäherung an Hegel ist voller Schwierigkeiten. Kaum ein Philosoph hat größere Widersprüche und Ablehnung hervorgerufen als Hegel. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts ist beherrscht von der Abwehr gegen Hegel. Karl Löwith hat die Exponenten dieser Abwehr und Abkehr unter dem Stichwort Hegelsche Linke zusammengefasst. Die bekanntesten sind Ludwig Feuerbach, der 1839 eine „Kritik der Hegelschen Philosophie“ veröffentlichte.  Nicht viel später ist es Karl Marx, der Hegel wieder auf die Füße stellen will.  Dann natürlich auch Kierkegaard. Diese drei Philosophen  haben aber ihre entscheidenden Anregungen aus der Abgrenzung zu Hegel empfangen.  Feuerbach setzt eine sensualistische Position der Liebe gegen Hegels Idealismus. Karl Marx, macht zwar die Dialektik fruchtbar für seine Gesellschaftstheorie, das Movens seiner Theorie ist aber nicht der Geist, sondern die Arbeit. Kierkegaard steigt aus der Philosophie Hegels aus, indem er einen subjektiven, religiösen Idealismus an die Stelle setzt. Daß Schopenhauer nur Haß gegen Hegel hatte, ist bekannt. Daß die Naturwissenschaftler ihn verspotteten, ist ebenfalls bekannt. Daß er als totalitärer Denker gilt, dafür hat Sir Karl Raimund Popper gesorgt, der 1945 das bekannte Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ veröffentlichte, in dem die Kritik zwar vor allem gegen Platon formuliert wird, aber doch auf die gegenwärtigen Formen  des totalitären Denkens zielt, wie er sie bei Hegel und Marx wahrnimmt.

Es ist schwer, an Hegel mit einer authentischen Kritik  heranzukommen. Was ist nicht schon alles an Hegel kritisiert worden! Sein Geschichtsobjektivismus, sein absoluter Idealismus, das Fehlen einer Ethik, die geringe Einschätzung des Individuellen. Und vor allem eines: Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, die dynamischen Kräfte der Moderne, werden von ihm relativ gering eingeschätzt. Keine Frage: Bei Hegel triumphiert die Wissenschaft des Geistes über die von der Natur. Philosophie und Religion sind die höchsten Formen des sich selbst bewussten Geistes. In dieser Hinsicht ist Hegel der Philosoph traditioneller Kontinuität.

2.

Was will man mit solch einem Denker noch anfangen? Warum sich überhaupt noch um ihn kümmern? Ist es überhaupt noch nötig, ihn zu kritisieren? Eigentlich ist er doch schon längst überwunden, ein toter Hund hieß es einmal. Das ist er aber eben noch nicht.  Warum nicht? Weil er  – ich will es auf den Punkt bringen – 2 Positionen vertritt, d.h. ausgearbeitet hat, die den Ansatz für eine Moderne bilden, die noch auf uns zukommt, bzw. in die wir noch kulturell eintreten. In der Hinsicht steht Hegel für die Diskontinuität mit der Historie, wie es Gerhard Ritter, der berühmte Münsteraner Philosoph ausdrückte. In einer globalisierten Gesellschaft der Information und des Wissens sind Hegels Erkenntnisse über das Geistige geradezu unverzichtbar.

Der erste Punkt ist, dass Hegel die enge Verbindung des Denkens mit dem ihm entgegenstehenden Sein konsequent durchspielt – auch wenn er darin zu weit gegangen sein mag, aber er spielt das durch, so dass aus Hegel ein für allemal klar wird, dass Erkenntnis nur funktioniert, weil Denken und Sein sich in einem engen Zusammenspiel befinden. Die Verbindung des erkennenden Subjekts mit der Welt der Objekte, die erkannt werden, diese Subjekt-Objekt-Beziehung macht den Dreh- und Angelpunkt des Denkens von Hegel aus. Unter Voraussetzung der mittelalterlichen Formel, dass die Wahrheit die Übereinstimmung von Begriff und Sache sei, läßt sich sagen, dass Hegel die Erscheinungen der Welt auf die Wahrheit als die Bedingung ihrer Möglichkeit zurückführt. Nicht die Trennung von Subjekt und Objekt, sondern ihre Verbindung ist das allen Erscheinungen zugrunde Liegende. In seinem Denken beginnt er mit der größten denkbaren Diskrepanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten, um sie zur größtmöglichen Identität – als ihren Grund, dem absoluten Wissen  – zurückzuführen.

Der zweite Punkt ist vielleicht noch wichtiger. Hegel denkt

die Rationalität, den Intellekt, das Erkenntnisvermögen – nehmen Sie welchen Begriff auch immer -, er denkt das Geistige als etwas Lebendiges. Und das in einer solchen Konsequenz, dass die Begriffe Bildung und Erfahrung als Kennzeichen lebendiger Bewusstseinsprozesse von Menschen konstitutiv werden für Erkenntnis. Zur lebendigen Erkenntnis gehört auch immer ein Ich, das erkennt. Im lebendigen Ich geht das Denken vor sich. Dieses lebendige Bewusstsein, das ein Ich darstellt,gilt es zu verstehen.  Geist, Logos sind in erster Linie keine Gesetze, die man aufschreiben kann – man kann sie auch aufschreiben, aber dann sind sie tot; – Geist, Logos ist das, was immer in Bewegung ist, er hinterlässt gewissermaßen Spuren, die als Gesetze, die man aufschreiben kann zurückbleiben, aber das ist es nicht, worum es geht, wenn der Geist begriffen werden soll. Gegenstand des Begreifens ist das lebendige Bewusstsein, so wie es sich in uns vollzieht und ereignet, wie es ununterbrochen im Fluss ist, wie es vom Tag unserer Geburt bis zum Tod eine einzige Biographie bildet.

Die ganze Vergangenheit ist als der Prozeß, den das lebendige Bewusstsein gebildet hat, in der Gegenwart präsent, bewusst oder unbewusst, aber wirkungsvoll, Vergessen schützt nicht davor. So ist jede Biographie ein Bildungsprozeß;  und nur dieses lebendige Bewusstsein, das mit der Welt und sich selbst Erfahrung macht, eine Geschichte hat und Etappen der Erfahrung durchläuft, in der sich die Identität eines Menschen bildet, ist der Gegenstand der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“. Das ist nicht die Mathematik, das ist nicht die Technik, das ist nicht die Naturwissenschaft. Das ist als einziges reales Wesen der Mensch. In dem Menschen vollzieht sich dieser Prozeß des lebendigen sich selbst bewussten Geistes, in welchem sich die Welt, die Natur und die Gesellschaft reflektieren. Die Ideen, die religiösen Gedanken und Empfindungen, das Gemisch aus Denken, Fühlen und Wollen, all das gehört zu diesem lebendigen Erfahrungsfluß. Die Methode Hegels ist der Versuch, dieses Prozeßhafte darzustellen. Und weil diese Darstellung der Vernunftbegabung des Menschen unvergleichlich ist, ist Hegel der Philosoph der Gegenwart, wenn wir auch vieles von ihm über Bord werfen.

3.

Hegel kann man nicht kritisieren, ohne ihn erst einmal darzustellen. Das ist eine gewisse Umständlichkeit, aber anders geht es nicht, denn der Denktypus Hegels ist nicht allgemein bekannt.

Bei Kant habe ich vor allem drei Begriffe behandelt: das Ding an sich, die Freiheit und die Natur. Bei Hegel werde ich mich zunächst nur auf einen Begriff konzentrieren, die Dialektik. Anschließend werde ich die methodischen Konsequenzen der Dialektik an drei Begriffen aufzeigen: dem Individuellen, der Natur und dem Endlichen.

Worum dreht es sich in der Dialektik?  Schon Platon hatte Dialektik als Methode angewandt. Häufig wird unter Dialektik – auch heute noch  – nur eine sophistische Form der Argumentation verstanden. Für Kant, dem großen Inspirator von Hegel war Dialektik noch eine „Logik des Scheins“ (A293), das Blendwerk falscher Vernunftschlüsse, um die Grenzen der Erfahrung zu „überfliegen“, (A 296) kurzum ein „Missbrauch der Kategorien“ (A296) des Verstandes. In der Dialektik habe man es „mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun, die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht, und sie als objektive unterschiebt,…“ Daher hat die „Transzendentale Dialektik“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ eine besondere Aufgabe, nämlich „…den Schein transzendentaler Urteile aufzuzeigen, und zugleich zu verhüten, dass er nicht betrüge;…“ (A297) Kant geht also davon aus, dass es „…eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft“ gibt, „nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgendein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt;…“ (A298) Sie werden wissen, dass K ant auf diese Weise dazu kommt, die Beweise der Existenz Gottes zu negieren. Gott ist kein Gegenstand wissenschaftlicher Erfahrung.

Um die Differenz von Hegel und Kant ausmessen zu können, bedarf es eigentlich nur der Erinnerung an dieses konträre Verständnis von Dialektik.

4.

Für Hegel ist die Dialektik keine Logik des Scheins, kein trügerisches Blendwerk, sondern die Methode zur theoretischen Darstellung der Wirklichkeit. Dialektik im Kern ist, wenn man es in abstrakter schematischer Form ausdrückt, die Einheit von Identität und Nichtidentität als Grundstruktur der Wirklichkeit. Das versteht natürlich nur, wer es schon verstanden hat. Was meint Hegel damit? Hegel gibt in Hülle und Fülle Beispiele dafür, aber es handelt sich dabei nicht um Beispiele, sondern um Formen der sich entwickelnden geistigen Wirklichkeit; ich werde jetzt zunächst einmal nur ein Beispiel anführen. Was Sie als erstes gleich vergessen sollten, ist das Schema von These, Antithese und Synthese, diesen Dreischritt, den Hegel wie ein Dreieck etwa oder Zirkel unentwegt anlegen würde, um gedanklich voranzukommen. Es geht nicht um eine äußerliche Methode, die an die Inhalte angelegt würde; ganz im Gegenteil, die Methode ist dem Wesen des Inhalts nicht fremd: Form und Inhalt entsprechen sich nach dem methodischen Verständnis Hegels und durchdringen einander.

Nehmen wir einen allgemeinen Begriff wie den des Staats.  Für Hegel ist der Staat die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (207), er ist „das an und für sich Vernünftige“ (208) Er unterscheidet den Staat grundsätzlich von der Gesellschaft.

„Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, dass es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu  sein.  – Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität , Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate. – Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelnheit, und hier konkret dem Inhalte nach in der Einheit der objektiven Freiheit, d. i. des allgemeinen substantiellen Willens, und der subjektiven Freiheit als des individuellen Willens – und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln. – Diese Idee ist das an und für sich ewige und notwendige Sein des Geistes. –„(208/9)

Im Begriff des Staats hat das Individuum ein ganz anderes Verhältnis zum Gemeinwesen als in der Gesellschaft. Während in der Dimension der Gesellschaft das Interesse der einzelnen als solcher  der letzte Zweck ist, also der Egoismus in der Konsequenz, wird von Hegel der Staat als die Dimension des menschlichen Zusammenlebens bezeichnet, in welcher das einzelne Individuum mit den allgemeinen Zwecken der Gemeinschaft übereinstimmt.  Daß dies dann angesichts der berühmten Auffassung Hegels, dass das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich sei, zu einer Legitimation und Glorifizierung des preußischen Staats führte, ist ein historischer  Nebeneffekt, der die Versöhnung Hegels mit seinen bestehenden Verhältnissen anzeigt, aber mich hier nicht weiter interessiert, weil es in unserem Zusammenhang um die Methode geht, die Konsequenzen nach sich zieht, die für unsere Gegenwart noch gewichtiger sind.  Im Staat also, in dem sich eine Gemeinschaft durch Formen der Öffentlichkeit, der Verwaltung,  Regierung und Partizipation der Bürger  an den allgemeinen Angelegenheiten konstituiert, handelt es sich nach Hegel um die „Vernünftigkeit“, die  sich in der „durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelnheit“  realisiert. Anders ausgedrückt: Die politische Sphäre, die Sphäre des Staatlichen sei diejenige, in welcher die Individuen mit dem Allgemeinen, dem Gemeinwesen, eine Einheit eingehen.  Das ist ohne Frage – auf den ersten Blick – das Ideal einer gelungenen politischen Ordnung: das Gemeinwesen ist Ausdruck einer freiheitlichen Partizipation ihrer Bürger. Mir geht es nun darum, genauer zu betrachten, was dabei gedacht wird.

Dem Staat wird Allgemeinheit zugesprochen, weil er sich auf alle seine Bürger bezieht. Der Begriff Staat unterscheidet sie nicht, sondern fasst sie zusammen. Das gerade verleiht ihm den Charakter des Allgemeinen. Da der Staat nun aber selbst in seinen Erscheinungsweisen, der Regierung oder der Verwaltung, auch den Menschen als das Allgemeine nicht konkret ansichtig wird, ist er eine Sache, die wir denken, in Bezug auf die wir viele Vorkommnisse zusammenfassend denken. Das allgemeine kommt nur als Gedachtes vor. Es ist das Großartige des Geistigen, dies überhaupt zu leisten: eine unendliche Zahl unter sich subsumieren zu können: alle Menschen eines Staats und dazu die institutionellen Einrichtungen. Und neben der Frage, wie dies das Denken überhaupt zu leisten vermag, stellt sich die andere: Was ist denn das Allgemeine wie in dem Begriff des Staats? Es ist nichts über den Menschen Schwebendes, das sie verbindet, also wie ein Netz oder eine Wolke, das sie umschließt; der Begriff des Staates besitzt seine Wirklichkeit nur darin, dass er das Allgemeine der Menschen zum Ausdruck bringt, auf die er sich bezieht: auf sie als Staatsbürger. Er muß etwas mit ihnen zu tun haben. Er bezieht sich auf sie. Nur darum ist er das Allgemeine aller Personen, die er zusammenfasst. Das Allgemeine geht so die engste Verbindung mit dem Realen ein.

Was aber heißt das genereller gesehen? Der Begriff Staat hat seine  Bedeutung nur, weil er mit den Menschen verbunden ist. Würde er nur ein Begriff in unserem Denken sein und nicht der Begriff, der die realen Menschen meint, würde er keine Wirklichkeit besitzen. Ohne aber andererseits gedacht zu werden, würde es ihn gar nicht geben, denn wir sehen immer nur einzelne Menschen, aber nie den Staat selbst, diese Abstraktion, die grenzenlos alle erfasst.

Bei Hegel ist das aller Wirklichkeit zugrundeliegende und in unentwegtem Streit liegende Prinzip der Gegensatz von Widerspruch und Einheit. So ist der Begriff des Staats in seiner Struktur zwiespältig: Er ist als Begriff eine Einheit: der Staat. Aber er bezieht sich auf eine unendliche Anzahl von Individuen, den Staatsbürgern. Würde nur ein einzelnes sein wie die Individuen, auf die er sich bezieht, so hätte er nicht die Funktion, ein Begriff zu sein, der allgemein ist. Würde er dagegen auseinanderfallen in die Vielheit der Individuen, dann würde es ihn gar nicht gebe. Der Begriff des Staats ist also  widersprüchlich. Er ist einer und zugleich allgemein. Wenn ich sage zugleich, so heißt das: er ist die Einheit, in welcher dieser Gegensatz zusammengeschlossen ist. Ich wiederhole die anfangs zitierte Grundstruktur: der Staat ist die Einheit von Identität und Nichtidentität, des einen, mit sich identischen  Begriffs und der Nichtidentität der vielen Individuen, die als einzelne grundsätzlich von ihm verschieden sind.

Diese Struktur weist aber nicht nur der Staat, sondern ein jeder Begriff nach Hegel auf. Jeder Begriff ist jeweils einer, und er bezieht sich auf eine unendliche Zahl von möglichen Gegenständen, die er unter  sich zusammenfasst, die er subsumiert. Aber der Begriff fasst nicht nur zusammen, sondern er dient auch dazu, die einzelnen Gegenstände voneinander zu unterscheiden, sie zu identifizieren. Das Geistige ist also in seiner kleinsten Einheit, in seinem Atom, wenn Sie so wollen, ein Phänomen des Widerspruchs: es fasst das Gegensätzliche zusammen: das Einzelne und das Allgemeine. Dies hat bis heute niemand so deutlich aufgezeigt wie Hegel.

Diese Widerspruchsstruktur deckt Hegel geradezu an allen Phänomenen unserer menschlichen Existenz auf. So am Bewusstsein. Das Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas, ist also es selbst und hat doch immer zugleich den Bezug auf anderes, wäre ohne diesen Bezug geradezu nicht das, was es ausmacht. Oder das Selbstbewusstsein. Dem Selbstbewusstsein gelingt es nur durch die Beziehung auf ein anderes Selbstbewusstsein, durch die Anerkennung seitens eines andern Selbstbewusstseins, das es eben nicht ist, zu einem gesättigten Wert seiner selbst zu gelangen.  Das heißt: Das Selbst wird nur durch ein anderes es selbst. Ein Selbst ist daher es selbst  – als einzelnes nur mit sich identisches gedacht – nicht es selbst, sondern gerade durch ein Selbst, das es nicht ist. So treten wahrlich paradoxe Sätze auf, die aber die Wirklichkeit ausdrücken, wie sie vor Hegel noch nie ausgedrückt wurde. Anerkennung ist ein reziprokes Verhältnis.  Das eine erhält seine Identität durch das andere, ein Grundphänomen unserer menschlichen Kommunikation.

Es gibt eine ganze Reihe von Begriffen in Hegels Philosophie, die einen Widerspruch bezeichnen, der jeweils in einer Einheit vorkommt.  Neben dem Einzelnen und dem Allgemeinen, neben Identität und Nichtidentität, sind solche Gegensatzpaare: die Unmittelbarkeit und die Vermittlung (jedes ist ein einzelnes für sich und ist zugleich nur aus der Beziehung zu anderem zu erklären), das Wesen und der Schein, konkret und abstrakt, Sein und Nichts, Substanz und Subjekt, Form und Inhalt, an sich und für sich, das Wirkliche und das Vernünftige, das Endliche und das Unendliche.

Hegels Philosophie hätte nicht die Bedeutung erlangt, wenn es bei dieser Entdeckung der geistigen Zusammenhänge geblieben wäre.  Entscheidend war, dass er aus dieser Widerspruchsstruktur eine Dynamik ableitete, die eigentlich das ausmacht, was Dialektik heißt.  Widerspruch selbst ist bereits das Motiv der Entwicklung. Bei einem Widerspruch kann es nicht bleiben, so empfinden wir intuitiv. Er bedarf der Lösung. Wie kommt man aus dem Widerspruch heraus?  Zumal der Widerspruch noch in einer Einheit ist, dem einen Menschen, der in einem Zwiespalt steckt und es darin nicht aushält, sondern sich davon befreien möchte. Also wird alles Mögliche getan, um aus dem Widerspruch herauszukommen.

In der Dialektik Hegels wird der Widerspruch der Motor der Bewegung. Die widersprüchliche Wirklichkeit ist auf dem Weg das Stadium zu suchen, in dem es keinen Widerspruch mehr gibt. Auf diese Weise beginnt z.B. die „Phänomenologie  des Geistes“ mit dem äußersten Widerspruch.  Phänomenologie  des Geistes ist die Lehre von den Erscheinungen, die das Bewusstsein durchläuft, um zu der Einheit zu gelangen. Und der Weg führt dort über die Erfahrung der gegebenen Welt mit ihren sinnlich wahrnehmbaren Einzelheiten bis hin zu dem absoluten Wissen, das ich hier nur mit der Identität von subjektivem und objektivem Geist bezeichnen möchte.

Es ist das Besondere an Hegels Dialektik, dass er Prozeß und System zusammenfügt. Das System ist bei Hegel kein starres, es hat Subjektcharakter, es ist ein unentwegtes Sichentäußern in die Welt und ein unentwegtes auf sich Zurückkommen wie in Arbeitsprozessen, in denen man etwas vergegenständlicht, verobjektiviert, es von sich entfremdet und dabei doch selbst auch einen Prozeß durchläuft, in welchem man sich selbst entwickelt und bildet. Auf der Suche nach der Einheit, auf der Suche nach dem Zustand der Widerspruchslosigkeit befindet sich der Geist in Hegels Philosophie triebhaft in Aktion. Das ist die Arbeit der Vernunft. Sie bewältigt die Widersprüche, indem sie zu immer höheren Formen der Synthese gelangt, auf deren Stufen sich aber immer wieder  neue Widersprüche auftun, die erst im absoluten Wissen getilgt sind, wo Bewegung und Ruhe in Harmonie sind. Der Weg ist ein Weg angestrengter Erfahrung, den das menschliche Bewusstsein im historischen Prozeß als Gattung und im biographischen als einzelnes Individuum macht. Erfahrung ist der Zentralbegriff in Hegels „Phänomenologie des Geistes“.

Die Systematik, der wir heute zumeist mit dem Vorbehalt begegnen, sie würde die Wirklichkeit gewaltsam in vorgeprägte Muster zwängen, hat auch ihr Gutes, das an Hegel zu studieren ist: Durch die Beziehung der verschiedenen Bereiche aufeinander treten überhaupt erst bestimmte Fragen auf, die zuvor gar nicht sichtbar waren. Außerdem wird der Einfluß des Ganzen auf das Einzelne, auf die einzelnen Bereiche erst dadurch sichtbar, dass sie in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Die Vorliebe für das Unsystematische ist der Verzicht auf die Reflexion, welchen Einfluß das Ganze auf das Partikulre besitzt. Es kommt nie zu einem zusammenfassenden Überblick.

5.

Ich möchte nun zur Kritik übergehen, wohl wissend – und mich auch schon jetzt dafür entschuldigend -, dass es kaum möglich ist, nach solch kurzer skizzenhafter Darstellung der Gedanken von Hegel zu einer Kritik überzugehen. Die größte Rechtfertigung besteht darin, dass wir heute bei der Überflutung mit Informationen es schaffen müssen, in komprimiertesten Formen das Überlieferte uns vor Augen zu führen, um zu einer Kritik der Gegenwart fähig zu sein.

An 3 Punkten möchte ich in diesem Sinne kritische Lehren aus Hegels Philosophie ziehen, die uns zur Kritik an unserer Gegenwart befähigen können.

Die erste Lehre ließe sich unter dem Stichwort Aufhebung des Individuellen zusammenfassen. Das Individuelle in Hegels Philosophie ist nichts mehr für sich selbst, es geht im Allgemeinen auf. Am deutlichsten tritt das in Hegels Geschichtsphilosophie hervor. Dort heißt es: „Die Geschichte hat vor sich den konkretesten Gegenstand, der alle verschiedenen Seiten der Existenz in sich zusammenfasst; ihr Individuum ist die Weltgeschichte.“ (33) Nicht die einzelnen menschlichen Individuen sind gemeint, sondern der Weltgeist als ganzes wird als Individuum bezeichnet. Das Konkrete ist nicht das einzelne Individuum, wie wir es heute sehen, sondern das abstrakteste, das Ganze, der Weltgeist, der die Geschichte prägt. Die menschlichen Individuen befinden sich in dieser Substanz, die der Weltgeist darstellt. „Kein Individuum kann über diese Substanz hinaus; es kann sich wohl von anderen einzelnen Individuen unterscheiden, aber nicht von dem Volksgeist“ (60), in welchem sich der Weltgeist manifestiert. „Die Individualitäten also verschwinden für uns und gelten uns nur als diejenigen, die das in Wirklichkeit setzen, was der Volksgeist will.“(60) Nicht ohne Erschrecken ist heute dieses Vokabular zu hören. Ich zitiere weiter: „In der philosophischen Betrachtung der Geschichte muß man absehen von solchen Ausdrücken wie: ein Staat wäre nicht zugrunde gegangen, wenn ein Mann dagewesen wäre, der usw. Die Individuen verschwinden vor dem allgemeinen Substanziellen, und dieses bildet sich seine Individuen selbst, die es zu seinem Zwecke nötig hat. Aber die Individuen hindern nicht, dass geschieht, was geschehen muß.“ (60)Man möchte gar nicht daran denken, dass sich auch ein Führer als dieses Substanzielle setzen kann. Aber vielleicht ist es dann ein billiger Trost, dass auch der Volkgeist kein ewiges  Bestehen hat.

„Der besondere Geist eines besonderen Volkes kann untergehen; aber er ist ein Glied in der Kette des Ganges des Weltgeistes, und dieser allgemeine Geist kann nicht untergehen.“ (60)

Bleibend sind nur „…Momente des einen allgemeinen Geistes, der durch sie in der Geschichte sich zu einer sich erfassenden Totalität erhebt und abschließt.“ (75)

Ohne Trost ist das Schicksal der einzelnen Individuen: „Es kann auch sein, dass dem Individuum Unrecht geschieht; aber das geht die Weltgeschichte nichts an, der die Individuen als Mittel in ihrem Fortschreiten dienen.“ So ist es dann kein Wunder, dass vom Glück in diesem System keine große Rede ist:“…aber die Geschichte ist nicht der Boden für das Glück. Die Zeiten des Glücks sind in ihr leere Blätter.“ (92) Hegel versubjektiviert den Weltgeist zu einer Idee, die nach den eigenen Gesetzen durch die Weltgeschichte schreitet. Es ist an sich kaum zu fassen, mit welch einer Selbstverständlichkeit der Vorrang des Allgemeinen vor dem Einzelnen hier gedacht wird. Bei aller Kritik an einem gegenwärtigen Individualismus kann nicht übersehen werden, dass bis heute die großen gesellschaftlichen, politischen Katastrophen aus den Anmaßungen des Allgemeinen gegenüber den Individuen geschehen sind. Oder war der Blick Hegels vollkommen richtig, indem er die Macht des Allgemeinen über die Einzelnen nur zu richtig einschätzte, was überhaupt erst im 20. Jahrhundert sich zum totalen Verhängnis entpuppte. Aber dann wäre unter keinen Aspekten mehr – bei aller Liebe zu Widersprüchen – Hegels Diktum aufrecht zu erhalten, dass dies Wirkliche auch das Vernünftige sei, wie es in seiner Rechtsphilosophie heißt.

Auf der Stufe unserer historischen Erfahrung, in der auch etwas von Reife steckt, lässt sich daher sagen:

Das Individuelle geht nicht in dem auf, was an ihm das Allgemeine ist. Das Individuelle ist gerade dadurch Individuum, dass es nicht im Allgemeinen aufgeht. Das Allgemeine ist nur ein Aspekt des Individuellen. Und die Würde des Menschen hat eine Affinität zu dem Individuellen am Individuellen.

Der 2. Punkt meiner Kritik betrifft Hegels Verhältnis zur Natur. Ich beziehe mich hierbei vornehmlich auf die Ausführungen von Hegel über die Naturphilosophie im Rahmen seiner Enzyklopädie. Er reflektiert darauf, dass sich die Natur in der Vielfalt ihrer Erscheinungen, ihrer  Spezifikationen und Besonderungen nicht bis ins Letzte unter Begriffe zu subsumieren sind. Aber dies sieht Hegel nicht als Mangel der Begriffe an, denen prinzipiell die Abstraktion eignet, sondern als einen Mangel der Natur. Hegel spricht von der „Ohmacht der Natur“,  den Begriffsbestimmungen gemäß zu sein. „Jene Ohnmacht der Natur setzt der Philosophie Grenzen und das Ungehörigste ist, von dem Begriffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen -…“

„Die Gestalten der Natur sind nur Gestalten des Begriffs, jedoch im Elemente der Äußerlichkeit,…“ (Enz. 539)

In Hegels Logik wird die Natur nicht nur als das Äußerliche, sondern als das Andere des Geistes bezeichnet.

„Aber indem der Geist das wahrhafte Etwas, und die Natur daher an ihr selbst nur das ist, was sie gegen den Geist ist, so ist, insofern sie für sich genommen wird, ihre Qualität eben dies, das andere an ihr selbst, das Außer-sich-seiende (in den Bestimmungen des Raums, der Zeit, der Materie) zu sein.“ (L1/134) Die Wertlosigkeit der wirklichen Dinge kann deutlicher nicht ausgedrückt werden:

„Daß die wirklichen Dinge mit der Idee nicht kongruieren, ist die Seite ihrer Endlichkeit, Unwahrheit,…“( Logik2, 410)

Auch hier liest man die Sätze nicht ohne Erschrecken und fragt sich, warum dies die Konsequenzen einer Philosophie sein müssen, die sich der Sache des Geistes angenommen hat wie keine zweite. Hegel hat die Natur zu einer puren Erscheinung des Geistes, der Ratio gemacht. Diesen Übergriff würden wir aus heutiger Sicht mit seinen drohenden katastrophalen Folgen nur durch die Grenzen des Zeithorizonts rechtfertigen können, wenn nicht andererseits gerade in dem, was er zum Ausdruck bringt, die Blindheit der menschlichen Zivilisation zum Ausdruck kommt. Dann aber wäre auch hier nicht davon zu sprechen, dass das Wirkliche das Vernünftige ist. Diesen Satz hätte Hegel fallen lassen müssen, wenn er ihn als Kritik einer zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung gemeint hätte.

Heute sind wir weit entfernt von Hegels Naturvorstellung. Wir fürchten ihre Konsequenzen. Ganz im Gegenteil zu Hegel lässt sich Folgendes sagen:

Wir können die Natur erkennen. Das Denken durchdringt die Natur, aber nicht so, dass es die Natur aufhebt und daß die Strukturen der Natur die des Geistes sind. Das Materielle wird nicht aufgehoben, es bleibt etwas für sich, z. B. die Luft, das Wasser; die Elemente sind nicht aus dem Geist abzuleiten, nicht Eisen, nicht Chlor, nicht Sulfide nicht Schwefelsäure oder irgend eine Lauge.  Die Natur ist vielfältiger als es der Begriff zu fassen vermag. Es ist nicht die Ohmacht der Natur, die sich darin zeigt, sondern die des Geistes, der nur über Abstraktionen zur Natur gelangt – und über Fest-stellungen in Begriffen, die der lebendigen Natur prinzipiell nicht entsprechen.  Die Natur hat eine Eigenheit gegenüber dem Geistigen, obwohl sie sich erkennen und insofern durchdringen lässt.

Für das Verhältnis von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft war Hegels Theorie verheerend angesichts seines großen Einflusses in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Reduktion der Natur auf logische Formen, die letzte Konsequenz von Hegels Denken, negiert die empirisch-mathematische Naturwissenschaft.

 

Der dritte Punkt , auf den ich kritisch eingehen möchte, betrifft die Aufhebung des Endlichen. Die beiden bereits besprochenen Punkte verdichten sich zu der Gesamtaussage, der Aufhebung des Endlichen. Was ist damit gemeint?

Es wird ausreichen, dazu einen berühmten Satz aus der Logik Hegels zu kommentieren. „Der Satz, dass das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus.“ (181) , heißt es dort. Daß das Endliche ideell ist, bedeutet, dass das Endliche imgrunde von der Art des Geistigen sei. Ob die Aufhebung des Individuellen in das Fortschreiten der Idee, ob das Aufheben der Natur in die Logik des Geistes: es sind immer Formen der Aufhebung des Endlichen.  In der Logik argumentiert Hegel mit der Entgegensetzung des Unendlichen und des Endlichen. Es hat tatsächlich eine schlagende Plausibilität, zu denken, dass das Unendliche nicht  der Gegenpol zum Endlichen sein könne, denn das Unendliche kann keine Grenze am Endlichen haben, denn dann wäre es selbst ein Endliches, ein Begrenztes. Das Unendliche kann also konsequent nur so gedacht werden, dass es das Endliche in sich aufnimmt. Dies entfaltet Hegel in allen seinen Werken. Die Logik enthält dafür die krassesten Ausdrücke:

„Das Endliche ist nicht das Reale, sondern das Unendliche.“ , (174) „Das Nichtsein des Endlichen ist das Sein des Absoluten.“(L“/ 62)

Die Demonstration der Aufnahme des Endlichen ins Unendliche ist der argumentative Weg Hegels in der „Phänomenologie des Geistes“. Allein das erste Kapitel „Die sinnliche Gewissheit oder das Diese und das Meinen“ böte Gelegenheit für mehr als eine Stunde, um Hegels Gedanken auf die Schliche zu kommen.  Welcher Begriff auch gewählt wird, bis hin zu den einfachsten: dem Hier, dem Jetzt oder dem Diesen, immer handelt es sich um Ausdrücke eines Allgemeinen.  Hegel kann bravourös zeigen, dass alle Begriffe, über die wir in der Sprache verfügen, allgemeine sind, so dass alles, was wir mit ihnen bezeichnen wollen, selbst ein Allgemeines ist.  Das Einzelne, das ausgedrückt werden soll, ist unerreichbar, alle Begriffe sind allgemein. Im Fortgang durch die ganze „Phänomenologie des Geistes“ wird auf die Weise demonstriert, dass alles, was sich als Einzelnes, als Unmittelbares zeigt, aufgehoben wird in das Allgemeine. Der Prozeß endet im Allgemeinen, das alles aufgehoben hat. Aber es stellt sich natürlich die Frage, was das bedeutet.

Das Endliche geht nicht im Unendlichen auf, so wie man es in einer sprachlichen, rein theoretischen Prozedur vorgeführt werden kann. Nur im Denken ist das möglich. Sartre führt als Beispiel die Borke eines Baums an. Niemals kann der Begriff die Vielfältigkeit der Borke eines Baums zum Ausdruck bringen. Es gibt keine Beschreibung, die dem gleichkäme.  Der Begriff ist immer eine Abstraktion. Der Begriff in seiner Abstraktion bleibt unendlich verschieden von den Gegenständen, auf die er sich in Raum und Zeit bezieht, die er in Raum und Zeit unter sich subsumiert.  

Die Aufhebung, die im Geiste vor sich geht, geht nicht real vor sich. Das Aufheben in der Erfahrung, die wir in unserem Leben machen, ist kein wirkliches Aufheben. Die erfahrungsmäßig aufgehobenen Ereignisse oder Lebensetappen hinterlassen Spuren, Narben oder existieren sogar weiter, auch wenn man nichts mit ihnen mehr zu tun hat. Sie kommen sogar zurück in die Gegenwart wie das Verdrängte, das wiederkehrt.

Die Identität von Vernunft und Wirklichkeit, ausgesprochen in dem berühmten Zitat aus der Rechsphilosophie „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“(14) , diese Identität von Vernunft und Wirklichkeit ist nicht nur der Vernunft nicht angemessen. Die Vernunft geht immer über die Wirklichkeit hinaus; noch ist der Satz der Wirklichkeit angemessen, denn auch die Wirklichkeit geht immer über den Satz hinaus. Diese Identifikation ist außerdem die Negation der Moral, denn sie negiert die in die Zukunft gerichtete Dimension des Sollens, das besteht, selbst wenn die Wirklichkeit eine andere ist. 

6.

Wenn nun das Ganze überblickt wird, welches Resultat ist zu ziehen? Wie kommt man aus der architektonischen Konstruktion von Hegels Gedankengebäude heraus?

 

Erstens ist ein Unterschied zu machen, zwischen den übrigen Wesen und Dingen und dem Menschen. Was für den menschlichen Geist gilt, kann zwar nicht verabsolutiert werden;  d.h. die Physik hat ihre Geltung im Bereich des Anorganischen, die Biologie hat ihre Geltung im Bereich des Organischen. Diese Geltungen bleiben auch für den Menschen bestehen, aber es kommt der Bereich des Ideellen hinzu. Hegel allerdings verabsolutiert den Bereich  des Geistigen. Das Geistige ist zwar kompatibel mit der Welt in Raum und Zeit, aber nicht identisch. Die Natur hat ihre Eigenheit. Die Individuen, so weit sie auch durch das Allgemeine bestimmt werden und  bestimmbar sind, auch sie besitzen ihre Eigenheit.  Auch das Endliche hat seine eigene Würde. Es geht nicht auf im Unendlichen. Was jetzt hier da ist, ist jetzt hier da und kann durch keine Unendlichkeit annulliert oder aufgehoben werden. Das Unendliche mag vielleicht sogar ein Schein sein, aber das Endliche, das jetzt hier passiert,  ist in dem Geschehen der Präsenz – und sei es Täuschung – wesenhaft wirklich. Möglicherweise müssen wir das Endliche im Verhältnis zum Unendlichen ganz anders denken: Vielleicht ist nicht das Endliche der Schein und die Unwahrheit des Unendlichen, in welchem es aufgehoben ist, sondern das Unendliche bedarf des Endlichen zu seinem Erscheinen. Das Unendliche wäre dann selbst nur das Scheinhafte, während das Endliche objektive Realität besäße.  Vielleicht ist auch das Bewusstsein, in dem wir unsere Realität haben die einzige wirkliche, die äußerste manifest gewordene Wirklichkeit, unsere Natur, die nicht zu reduzieren ist, weder auf Gesetze, noch Kausalitäten, noch auf das Unendliche.  Alle Wirklichkeit hängt von unserer Präsenz ab. Alle Wirklichkeit ist in unserer Präsenz gegeben, wenn auch nicht auf sie zu reduzieren. Unser menschliches Bewusstsein, wie es sich in der Gemeinsamkeit unserer Kommunikation ergibt, realisiert die Wirklichkeit, vergegenwärtigt die Wirklichkeit. Unsere Wirklichkeit ist nicht auf irgend etwas zurückzubeziehen oder abzuleiten, sondern alles ist als Vergegenwärtigung in unserem Bewusstsein aufzufassen. Das Endliche ist somit nicht die Schöpfung des Unendlichen: das wäre der pure Wahnsinn. Aber die Endlichkeit unserer Geistigkeit ist der Ort der Präsenz der Welt in ihrer Unendlichkeit. In dieser Präsenz der Welt, in unserem bewussten Sein, wird wie gesagt, auch das Unendliche offenbar, auch in Gestalt der Begriffe und der Gesetze. Das Endliche ist der Ort, an dem die Energie, wenn man es so ausdrücken möchte,  zu Tage tritt, anders: an dem das Licht angeht: wie es aus dem Kupferdraht heraustritt und plötzlich als Licht da ist. Der fließende Strom mag eine Ursache sein, aber er wird präsent im Licht – und ist in dieser Erscheinungsform nicht irgendwie rückführbar. Das Licht bringt eher  hervor, was im Dunkel des fließenden Kupferdrahts vorhandenen war. Das Verhältnis des im Kupferdraht fließenden Stroms zum Licht, das er erzeugt, mag eine Analogie sein für das Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein.

Das Licht ist etwas, das im Draht nicht erscheint. Entsprechend sind die Vorgänge im Gehirn nicht das Bewusstsein, das  denkt und seine Wirklichkeit erlebt. Das bewusste Erleben ist nur im bewussten Erleben vorhanden. In der menschlichen bewussten Wirklichkeit geht gewissermaßen das Licht auf, wenn Sie mir die Metapher gestatten.  Und das Licht ist es selbst und nicht  etwas anderes. Ein ganz neues Denken ist nötig, in welchem die Endlichkeit als Geistiges ernst genommen wird.

Mir scheint, dass die Hegelsche Aufhebung des Endlichen ein äußerst kritisches Theorem ist. Das Unendliche gibt es nicht im räumlich und zeitlich ausgedehnten Kosmos, es hat den Ort seiner Erscheinung im lebendigen Bewusstsein der Menschen. Hegels Weg zur Konkretion im absoluten Wissen ist der Weg in die Abstraktion.  Was theoretisch sich aufheben lässt, läßt sich nicht wirklich aufheben. Auch in der Erfahrung gibt es keine Aufhebung. Es gibt höchstens Entwicklung und Überwindung von Standpunkten. Das Endliche bleibt. Das Absolute ist die Entfremdung vom Endlichen, nicht seine Aufhebung. Der Idealismus hat sich damit selbst negiert, denn auch er hat seine Realität im Endlichen.

Das Endliche ist nicht zu überfliegen. Es gibt auch keine Erhebung des endlichen Menschen zum Unendlichen im Wissen. Der Bezug zum Unendlichen bleibt eine Sache des  Glauben. Die gigantische philosophische Konstruktion Hegels, der Beweis Gottes durch die Aufhebung des Endlichen, gelingt nicht. Das Denken bleibt auf der Erde als ein irdisches Vermögen, das kompatibel mit der Welt und der Natur ist, aber keine Besitzergreifung des Absoluten im Wissen.

Hegel hat entschieden zur Ablehnung der Philosophie und der Geisteswissenschaft von Seiten der Naturwissenschaft beigetragen, indem er den Geist als das Unendliche setzte, für das das Endliche nur Durchgangsstationen bildet. Für die Naturwissenschaft hat das Endliche als das Empirische eine unauflösbare fundamentale Bedeutung. Das ist die Differenz. Wenn der Geist als der Geist des Endlichen verstanden wird, kann er, muß er von der Naturwissenschaft auch anerkannt werden. Hier liegt der Schlüssel zur Überwindung der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft – die, wenn sie geschieht, eine neue Kultur hervorbringt, eine auch den Geist einbeziehende Naturwissenschaft, die der Informationsgesellschaft und der Globalisierung auch angemessen ist und eine Geisteswissenschaft, die sich in der gesellschaftlichen Realität verankert weiß.

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