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Aufgeklärte Metaphysik — 06.2005

Stamer in philosophie.de

Der Kirchentag von Hannover ist vorüber. Und wer – als Bewohner dieser Stadt – das Glück hatte, dabei zu sein, wird zu mancherlei Fragen gedrängt. Über zweihundert Jahre Säkularisation: und immer noch nicht ist sie an ihr Ende gelangt! So viele junge Menschen tummelten sich in den Tagen in Hannover herum, eben nicht nur ältere regelmäßige Kirchengänger, daß an ein Auslaufen der Religion als Teil der Kultur nicht zu denken ist – selbst in unseren westeuropäischen Breiten nicht; ein Eindruck, der auch in den Tagen vor und nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. zu gewinnen war. Von Gleichgültigkeit in der Öffentlichkeit keine Spur.

Wie ist das in Übereinstimmung zu bringen mit der geschichtsphilosophischen Ein- schätzung prominenter Philosophen und Wissenschaftler, daß wir in eine nachmetaphy- sische Etappe der Geschichte eingetreten wären; und daß Aufklärung eigentlich bedeute, die Metaphysik zu überwinden, überwunden zu haben, und damit auch die Religion als rationale Einstellung zu unserer Lebenswelt?

Was ist los? Wie soll man es deuten? Oder ist die Wahrnehmung, daß die Religion noch lebt falsch? Angenommen, sie ist nicht falsch: Wollen die Menschen nicht aufgeklärt leben? Boykottieren sie gegen besseres Wissen die Aufklärung? Lieben sie den Selbstbe- trug so sehr, daß sie lieber in einer schönen Welt der Märchen leben als in der Realität nackter Wahrheiten? Ist es wirklich so, daß die Menschen die Realität nicht ertragen und sich was vormachen müssen? Ist es so, daß wir nicht anders können, als uns das Opium der Religion immer wieder einzuflößen?

Was ist los? Können wir uns nicht vorstellen, das wirklich etwas dran ist an der Re- ligion und Metaphysik? Warum sollten denn die Recht haben, die von dem Ende der Metaphysik und Religion sprachen und sprechen, besonders wenn sie etwa schon einge- stehen, religiös unmusikalisch zu sein? Ist es denn mehr als ein Mitschwimmen mit der Oberströmung des Zeitlaufs zweier Jahrhunderte, von einer nachmetaphysischen Epoche zu sprechen? Sind denn die Fragen der Metaphysik von den Wissenschaften beantwortet? Was mit der Seele nach dem Tode geschieht? Woher die Ordnung in der Welt kommt? Was denn der Geist sei, der zur Erkenntnis befähigt? Und worin das Wunder der Freiheit beruht? Die Negation dieser Fragen ist noch kein Fortschritt. Das Bewusstsein auf die Fragen einzuengen, die empirisch zu beantworten sind, stellt keine Lösung dar, wenn die darüber hinausgehenden Fragen weiterhin in unseren Köpfen bleiben. Verbotsschilder für Fragen sind kein Zeichen für Aufklärung. Ist angesichts dieser Situation nicht eine ganz besondere kopernikanische Wende wieder einmal fällig? Wäre unter diesen Umständen nicht eine theoretische Einstellungsveränderung angebracht, derart, daß nicht mehr da- von ausgegangen wird, die menschliche Geschichte begänne mit dem Mythos und führe zwangsläufig zur mathematisch und empirisch feststellbaren Welt von Fakten und Wer- ten und in Folge dessen zur Überwindung von Religion und Metaphysik, sondern derart, daß Religion und Metaphysik selbst höchst rationale Gebilde der Erkenntnis sind, ja, daß sie zur Aufklärung unserer ins kosmisch Unendliche gehenden Lebenswelt gehören?

Noch einmal: die Negation von Fragen, die uns nicht gleichgültig sein können, ist keine Aufklärung – selbst wenn diese Fragen unbeantwortbar erscheinen oder es sogar sind.

Höchst rational ist hingegen die Unterscheidung zwischen Fragen, die beantwortbar sind und die nicht beantwortbar sind. Nicht das Eliminieren von Fragen ist aufgeklärt, sondern die Klärung ihres Erkenntnisstatusses. Zu sagen, daß ich etwas nicht weiß, ist rationaler, als nur davon zu reden, was ich weiß und über das übrige zu schweigen. Anders: wir sollten auch über das reden, was wir nicht wissen, aber dennoch in unserem Bewusstsein eine Rolle spielt. Von daher ließe sich fragen, ob die wissenschaftliche Position, die sich auf das Mathematische und Empirische beschränkt, nicht selbst eine Zeiterscheinung mangelnder Aufklärung ist, indem sie die Realität dessen, was für Menschen wichtig aber nicht beantwortbar ist, aus ihren Betrachtungen methodisch ausschließt. Lehrreich wäre so zum Beispiel eine Beschäftigung mit dem Techniker und Mathematiker Leib- niz, warum der bei der Physik nicht stehen blieb, sondern zur Metaphysik überging. Vielleicht wäre es auch sinnvoll, die Motive sich zu vergegenwärtigen, die den Denkern früherer Epochen Anlaß zu einer metaphysischen und religiösen Weltsicht gaben. Man muß ja nicht gleich selbst daran glauben, lässt sich beruhigend hinzufügen: es reicht ja, die Motive zu verstehen. Kritische Vernunft ist nur was wert, wenn sie es auch gegen sich selbst ist. Kritik kann auch Unaufgeschlossenheit sein. Es ist schon interessant, daß – ganz anders als seine Gegner – der kritische Geist die eigne Affinität zur Metaphysik zumeist nicht durchschaut, in welcher es auch um die Überwindung einer bornierten, affirmativen Haltung zum jeweils Bestehenden ging. Auch Kritik hat immer – wie die Metaphysik – ein anderes gewusst, das nicht Gegenwart war, aus dem sie ihren Blick- winkel gewann: Grund genug, etwas länger über das Verhältnis kritischer Vernunft und Metaphysik nachzudenken. Selbst Adorno biegt am Ende seiner Negativen Dialektik in Meditationen zur Metaphysik ein.


Gerhard Stamer auf philosophie.de

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