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Die paradoxe Identität von Politik und Moral bei Karl Marx

Vortrag Dr. Gerhard Stamer
Bamberg Hegelwochen
12. Mai 2011

Meine Damen und Herren,
In diesem Vortrag geht es mir nur um eine These, mehr nicht. Ich möchte Ihnen darstellen, wie es gekommen ist, daß eine Theorie, deren innerster Impuls Moral und Humanität ist, im Verlaufe der Praktizierung, die sich auf diese Theorie berief, in das Gegenteil, in Inhumanität und Barbarei hat umschlagen können. Ich möchte Ihnen dies darstellen und zugleich, daß der Grund für diese Perversion weitgehend darin bestand, daß die Moral in die Politik aufgehoben wurde.

1.
Wenn ich Ihnen das exemplarisch an der Theorie von Marx zeigen möchte, so deshalb, weil, wie ich sagte, diese Theorie einen moralischen Ursprung hat, und zwar in unvergleichlicher Weise sowohl was den Inhalt und die theoretische Systematik betrifft als auch die Weltgeltung, die sie erlangte. Theorien oder Bewegungen, die keinen moralischen Ursprung besaßen, sprechen ein ganz anderes theoretisches Interesse an, nämlich worin der Grund für das Böse besteht. Das ist aber zumindest heute nicht mein Interesse. Daß das Inhumane inhuman ist, ist gewissermaßen eine unproblematische Selbstverständlichkeit. Aber wie das im Kern Moralische in sein Gegenteil umschlagen kann, das ist für eine jede künftige Theorie humaner gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung von höchster Wichtigkeit.
Eines kommt hinzu: Die Theorie von Marx muß als Frucht der Moderne selbst angesehen werden – und zwar ihrer bedeutendsten Strömung, der Aufklärung. Insofern besitzt die Auseinandersetzung mit dem Marxismus bis heute Aktualität. Bis jetzt ist nach meiner Auffassung eine Auseinandersetzung mit Marx noch nicht in der Weise erfolgt, daß daraus hervorgegangen wäre, wie der Kapitalismus zu überwinden ist. Denn das steht meiner Auffassung nach immer noch auf dem Programm. Das sagt aber zugleich, daß eine große Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß nur über die kritische Auseinandersetzung mit Marx eine programmatische Perspektive gewonnen werden kann, die anzeigt, welche Richtung politisch zur Überwindung des Kapitalismus einzuschlagen wäre.

Um die Position, die ich vertrete auf den Punkt zu bringen: Ich meine, daß die Überwindung des Kapitalismus auch die Überwindung des Marxismus erfordert. Die gesamte Theorie von Marx ist selbst ökonomistisch geprägt – wie der so bekämpfte Kapitalismus. Weiterhin bin ich der Überzeugung, daß dies in gewissem Einvernehmen mit der Theorie von Marx selbst vorgenommen werden müßte. Was Marx zu Beginn des „Kapitals“ im Hinblick auf die Methode der Dialektik gegen das Bürgertum vorbrachte, gilt es heute mit gleichem Recht gegen seine dogmatischen Verteidiger und Verfechter vorzubringen.
„In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“
Auch die Theorie von Marx und die Praxis, die sich auf sie beruft, ist eine historische Gestalt und dieser Logik unterworfen. Auch sie muß nach ihrer vergänglichen Seite hin, zur Seite ihrer Negation, begriffen werden.

2.
Meine eigene Argumentation möchte ich mit Gedanken von Jacques Derrida vorbereiten. Derrida, der durchaus kein sozialistischer Parteigänger war, hatte in seinem 1993 veröffentlichten Buch „Marx´ Gespenster“ – auf Deutsch 2004 erschienen – , geschrieben, daß wenn zwar heute der Kommunismus nicht mehr als Gespenst in Europa herum- geistern würde, wie es der erste Satz im Kommunistischen Manifest von 1848 ausdrückte, so doch immerhin Karl Marx selbst keinesfalls von der historischen Bühne verschwunden sei. „Marx´Gespenster“ würden noch aktiv sein. Was meinte er damit? Ich zitiere:
„In dem Augenblick, wo eine neue, weltweite Unordnung ihren Neo-Kapitalismus und ihren Neo-Liberalismus zu installieren versucht, gelingt es keiner Verneinung, sich aller Gespenster von Marx zu entledigen.“
Marx bleibe Aufruhr gegen Elend und Ungerechtigkeit, und auch Aufruhr gegen eine passive Hinnahme von Elend und Ungerechtigkeit. Unter dem Gesichtspunkt des verpflichtenden Erbes, wendet sich Derrida Marx zu und meint,
„- daß wir nämlich das Erbe des Marxismus übernehmen müssen, daß wir das >Lebendigste< davon übernehmen müssen, […]. Dieses Erbe müssen wir reaffirmieren, indem wir es radikal verändern wie eben notwendig. Diese Reaffirmierung hielte sich in der Treue zu etwas, das in dem von Marx ausgegangenen Appell […] nachhallt, und gleichzeitig entspräche sie dem Begriff des Erbes im allgemeinen. Das Erbe ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe.“
Ich wiederhole: Das Erbe ist zu übernehmen, aber es ist radikal zu verändern. Eine Reaffirmation so vorgenommen, würde sich nicht auf das speziell Theoretische richten, um es zu erhalten, sondern auf etwas, das Derrida messianisch nennt.
„Wenn es nun einen Geist des Marxismus gibt, auf den zu verzichten ich niemals bereit wäre, dann ist das nicht nur die kritische Idee oder die fragende Haltung […]. Es ist eher eine gewisse emanzipatorische und messianische Affirmation, eine bestimmte Erfahrung des Versprechens, die man von jeder Dogmatik und sogar von jeder metaphysisch-religiösen Bestimmung, von jedem Messianismus zu befreien versuchen kann.“
Derrida bleibt in dem Sinne modern, als er die messianische Affirmation, die er selbst vertritt, von jeder metaphysischen Bestimmung lösen möchte. Ob dies gelingt, mag als Frage stehen bleiben. Die Konsequenz seiner Argumentation wird darin deutlich, daß er bei aller Treue zu seiner Methode der Dekonstruktion an der Undekonstruierbarkeit der Idee der Gerechtigkeit entschieden festhält.
„Das dekonstruktive Denken, auf das es mir hier ankommt, hat immer an das Irreduzible der Affirmation und damit des Versprechens erinnert, wie auch an das Undekonstruierbare einer bestimmten Idee der Gerechtigkeit […]. Ein solches Denken kann nicht arbeiten, ohne das Prinzip einer radikalen und unabschließbaren (…), unendlichen Kritik zu rechtfertigen. Diese Kritik gehört der Bewegung einer Erfahrung an, die für die absolute Zukunft dessen, was kommen wird, offen ist.“
Bei Derrida bleibt die Argumentation in einer entschlossenen Bereitschaft zur Offenheit für die Zukunft stehen. Durch diese Unbestimmtheit wahrt Derrida auf jeden Fall, daß keine dogmatische Festlegung der Zukunft Fesseln anlegt und den zukünftigen Generationen die Freiheit nimmt. Vielleicht ist das eine Grenze, die es zu bewahren gilt.

Dennoch möchte ich vorsichtig über diese Grenze hinausgehen. In Hegels Logik gibt es den Satz, daß eine Grenze erkennen bereits heiße, über sie hinauszugehen. Vielleicht trifft das nicht auf jeden Fall zu, aber in diesem konkreten gibt es einen Fingerzeig von Ernst Bloch. In seiner Schrift „Geist der Utopie“ sagt er:
„Man kann darum sagen, daß gerade die scharfe Betonung aller (ökonomischen) determinierenden…den Marxismus in die Nähe einer Kritik der reinen Vernunft rückt, zu der noch keine praktische Vernunft geschrieben worden ist.“ (Geist der Utopie, Suhrkamp Taschenenbuch 1964, S. 304)
Zur Praktischen Vernunft Kants überzugehen, würde bedeuten, die Vernunft als konstitutiven, dynamischen Faktor in der menschlichen Gattungsgeschichte anzuerkennen, wie es Kant in der „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ darstellt.“

3.
Ausgangspunkt des kritischen Denkens von Karl Marx wie von Friedrich Engels war die moralische Empörung über das Elend der physisch schwer arbeitenden Bevölkerung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Engels hatte sein berühmtes Buch über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ geschrieben. In Marx´ Fragment über die Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie heißt es in direkter Anlehnung an Kants Morallehre:
„Die Kritik der Religion (die für Marx Feuerbach bereits geleistet hatte) endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…“ ( S. 216)
Es ist nötig, diesen moralischen Ursprung der Kritik hervorzuheben, denn nur dadurch wird die Verkehrung überhaupt deutlich, die in der weiteren pragmatischen Systematisierung der Theorie bei Marx geschieht.
Die Empörung über die Verhältnisse ist zugleich eine Empörung über die Schicht der gebildeten und aufgeklärten idealistischen und romantischen Geister, denen Marx eine typische intellektuelle Beschränktheit vorwirft. Sie würden zwar auch kritisieren, aber ihre Kritik bliebe inkonsequent und imgrunde dem Kritisierten verhaftet, denn:
„Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritk mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen…“
In der „Deutschen Ideologie“ polemisiert Marx unversöhnlich scharf speziell gegen seine früheren berliner Freunde wie Bruno Bauer und Max Stirner, aber auch gegen Ludwig Feuerbach. Die Quintessenz ist bekannt. Sie lautet:
„Die Philosophen habe die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“
Auch wenn er hier bestimmte Personen namhaft angreift, er zielt doch auf die ganze geistige Milieu der Intellektuellen.

4.
In den berühmten Feuerbach-Thesen, in denen auch der soeben zitierte Satz steht, spitzt er seine Auffassung zur Praxis zu.
„Feuerbach mit dem abstrakten Denken (Hegels) nicht zufrieden“
hätte Praxis nur unter erkenntnistheoretischen Aspekten als sinnliche Anschauung gefaßt,
„nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis,…“
Einige Zeilen später:
„In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“
Damit ist schon ein zündendes Programm gegeben: Der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen – und die Praxis als theoretisch begründeter Modus. Die Zuspitzung der Gedanken von Marx ist unverkennbar.

5.
So weit mag man das Ganze noch als ein moralisches Aufbegehren verstehen, aber es verbindet sich mit einer Auffassung von der Gesellschaft, die Marx in der Kritik an der Hegelschen Staatsphilosophie herausarbeitet. Anhand des von Hegel übernommenen Maßstabs für ein gelungenes menschliches Gemeinwesen, nämlich der opferlosen Identität der einzelnen Menschen mit dem Allgemeinen, in dem sie leben, wie es die idealisierende Interpretation um 1800 in der griechischen Polis vorzufinden meinte, übt Marx die grundsätzliche Kritik an Hegel, daß nicht der Staat, nicht die Sphäre der Politik, das fundamentale Band zwischen den Menschen und ihrem Gemeinwesen konstituiere, sondern daß dies der Bereich der Arbeit sei, die Sphäre des Sozialen. Die Gesellschaft, die von Marx in erster Linie durch die menschliche Arbeit hervorgeht, übernimmt den Rang, den bei Hegel der Staat einnahm. Die produktive Tätigkeit, die lebenserhaltende Arbeit tritt an die Stelle von Denken und Sprechen, das Soziale an die Stelle des Politischen, ein gesellschaftlicher Materialismus an die des Idealismus. Methodisch aber sieht Marx die Beziehung zwischen den Individuen und ihrem Gemeinwesen nicht anders als Hegel im dialektischen Schema des Verhältnisses von Allgemeinem und Einzelnem begründet. Die „soziale Qualität“ sei es und nicht die politische, durch die die Individuen mit dem Gemeinwesen, das sie durch ihre Tätigkeit herstellen, verbunden sind.

6.
Dieser Materialismus hat zunächst eine Konsequenz, gegen die es nichts einzuwenden gibt. Der Mensch wird als biologisches Wesen mit seinen primären Bedürfnissen anerkannt.
„Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur.“ (347)
Es ist gewissermaßen eine Rückkehr zum unmittelbar Leiblich-Physischen der menschlichen Existenz, die nun gegen alle früheren idealistischen und auch religiösen Verklärungen etwa der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ihre Anerkennung erhält. Ausdrücklich heißt es:
„Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst.“ (199L)
Das klingt in heutigen Ohren – denke ich – wie etwas durchaus Annehmbares: Der Mensch als Maßstab für die Einrichtung der menschlichen Verhältnisse. Der konservative Ton des Satzes mag dabei gar nicht weiter auffallen, denn tatsächlich ist Zurückführung das Gegenteil einer historischen Auffassung, in welcher auch der Mensch eine Weiterentwicklung vollzieht.
Die Rückführung auf den Menschen bedeutet für Marx zugleich einen Paradigmenwechsel in der Weltauffassung: Die Substanz der Wirklichkeit, die in der traditionellen religiösen Weltdeutung in der Tranzendenz lag, wird jetzt radikal in das Diessseits geholt. Und so verändern sich die Aufgaben:
„Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (L209)
Die Kritik an der Religion, die für Marx durch Ludwig Feuerbach geleistet war, kann sich auf die wirklichen, diesseitigen Lebensverhältnisse richten.

7.
Und nun erfolgt der nächste konsequente Schritt in der theoretischen Entwicklung: Die Entfremdung , die für Marx in der religiösen Weltauffassung lag, nämlich die eigenen Wesenskräfte für Wesenskräfte einer übernatürlichen, absoluten Macht zu halten, wird nun kritisch enthüllt als Entfremdung irdischer Verhältnisse, in denen nämlich die Menschen, also die wirklichen Akteure des Prozesses – für Marx die Arbeiter, die die Werte der Gesellschaft produzieren – ausgebeutet und unterdrückt sind. Marx meint zu durchschauen, daß die wirklichen Konstitutionsverhältnisse, die darauf beruhten, daß die Gesellschaft durch die Arbeit in ihren Zusammenhängen gebildet wird, geradezu verkehrt sind, denn es herrsche das Kapital, das Pivateigentum, die tote Arbeit über die lebendige Arbeitskraft. Das Kapital sei nur die aufgehäufte, geronnene, lebendige Arbeit. Der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang stellt für ihn ein einziges System der Entfremdung dar.
Marx´ Theorie der Entfremdung ist ein umfangreiches Theorem. Mindestens sechs Formen der Entfremdung führt er auf.
·    Die Entfremdung vom Produkt bezeichnet den Tatbestand, daß die Ware, die ein Arbeiter herstellt, nicht mehr in der Verfügungsgewalt des Arbeiters bleibt, sondern in den Besitz des Eigentümers an den Produktionsmitteln übergeht.
·    Die Selbstentfremdung besteht darin, daß die Arbeitskraft des Arbeiters – und d.h. der Arbeiter selbst – zur Ware wird, indem er wie alle Waren auf dem Markt, einen Preis hat und je nach Gebrauch eingestellt oder entlassen wird. Bei einer gesetzlich vollkommen ungeregelten Arbeitszeit von häufig über 12 Stunden pro Tag – und auch Arbeit am Wochenende – wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts oft der Fall war, kann man gut nachvollziehen, wenn Marx sagt, daß der Kauf der Arbeitskraft eines Menschen der Kauf seiner gesamten Energie, d.h. des Lebens eines Menschen sei: „denn was ist Leben (anderes) als Tätigkeit…“ Die Lebenstätigkeit ist unter den Bedingungen keine Tätigkeit im Dienste der Entfaltung des Lebens, was sie auch heute zumeist nicht ist, sondern ein Mittel, um den Lebensunterhalt zu verdienen.
·    Die Entfremdung betrifft auch das Verhältnis zur Natur, denn diese wird unter den industriellen Bedingungen zum bloßen Mittel, sie verliert ihren Eigenwert.
·    Die Entfremdung führt auch zu einer unter den Menschen, denn es bilden sich gravierende soziale Unterschiede in Form von Klassen heraus, die sich gegenüberstehen.
·    Weiter sei auch der Staat ein Phänomen der Entfremdung, da er sich getrennt von dem Gesellschaftlichen, in dem das wirkliche Leben der physisch arbeitenden Bevölkerung stattfindet, als Herrschaftsinstrument in den Händen der herrschenden Klasse befindet und entsprechend genutzt wird.
·    Als Entfremdung müsse letztlich auch – worauf ich schon hinwies – die religiöse Weltsicht mit Einschluß der Philosophie des Weltgeistes von Hegel angesehen werden, in der als historisches Subjekt nicht die wirklichen Menschen fungierten, sondern ein jenseitiges allmächtiges Wesen. Die Menschen hätten ihre eigene Potenz nicht als eigene erkannt und statt dessen ins Jenseits projiziert.

8.
Die Pariser Manuskripte aus dem Jahre 1844 – auch Ökonomisch-Philosophische Manuskripte genannt – bezeichnen den programmatischen Wendepunkt bei Marx. Nachdem die Entfremdung und die Selbst-entfremdung erfaßt sind, wird im Denken von Marx die Aufhebung der Entfremdung zum leitenden Programm für sein gesamtes Werk. Anders gesagt: Der Aufbau der Gesellschaft müsse den wirklichen Konstitutionsbedingungen gemäß sein. Die wirklichen gesellschaftlichen Konstitutionsverhältnisse müßten hergestellt werden. Das ist nun nicht mehr moralischer Protest, sondern eine Einsicht, die sich als wissenschaftlich begreift, hervorgegangen aus einer Analyse der bestehenden Verhältnisse.

So umfangreich und grundsätzlich wie die Entfremdung verstanden wird, so fundamental muß auch im Denken von Marx die Aufhebung der Entfremdung, die praktische Negation der bestehenden Gesellschaft verstanden – und auch praktisch betrieben – werden. Die gesamte Gesellschaft muß verändert, aufgehoben werden. Hier entsteht Marx´ Idee des Kommunismus als der prinzipiellen Alternative.
„Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als
vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen.“
Marx will raus aus allen möglichen Fiktionen der Menschen. Sie sollen sich nichts mehr vormachen, sondern ihre Wirklichkeit erfassen wie sie ist. Als Aufklärung über die Wirklichkeit begreift er seine Tätigkeit.

9.
Was bei der Lektüre der Manuskripte gar nicht ins Auge springen mag, ist der nächste Schritt in der Gedankenfolge von Marx hin zu den Konsequenzen seiner entwickelten Theorie. Die Theorie der Entfremdung und ihrer Aufhebung ist nämlich die Verlagerung des Moralischen in die Gesellschaft und in die Geschichte.
Inwiefern? Wenn – um es alltagssprachlich auszudrücken – das Böse seinen Ursprung nicht mehr in den einzelnen Menschen hat, in so etwas wie der Erbsünde möglicherweise sogar, sondern in der Gesellschaft, die die Menschen böse macht, wie es durch die Entfremdung der Fall ist, dann müssen nicht mehr die Menschen zur Moral erzogen werden, nicht mehr moralisch gebildet werden, sondern die Verhältnisse müssen nach Gesichtspunkten, die der Moral entstammen, verändert werden. Dabei aber wird die Moral in einen Bereich versetzt, aus der sie traditionell nicht hervorging.
Die Praxis zur Aufhebung der Entfremdung, zur Aufhebung der bestehenden Gesellschaft, wird zu einer Aktion in der Sphäre der Öffentlichkeit, des Staates, der Politik, und bleibt nicht mehr gebunden an den Ort, der traditionell für den der Moral gehalten wurde, nämlich dem Inneren der einzelnen Menschen, der Seele, des Gewissens. Das politische Kalkül tritt an die Stelle ethischer Entscheidung.

10.
Marx führt das aus der Entfremdung gewonnene Konzept stringent fort. Er bleibt nicht dabei stehen, die Politik gegenüber der Moral aufzuwerten, um sie miteinander zu verbinden, indem er die Forderung nach einer moralischen Politik erheben würde, nein, er erklärt die Moral zum Sekundären.
„Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“ (Deutsche Ideologie)
Damit ist die Eigenständigkeit und Ursprünglichkeit der Dimension des Moralischen beseitigt. Aber Marx bleibt selbst bei dieser Bedeutungsverminderung der Moral nicht stehen. Denn er sieht in der Moral eine für die befreiende Aktion der Arbeiterklasse schädliche Waffe des Klassenfeinds. Er meint, sie als intellektuelles Herrschaftsmittel entlarven zu können. Ohne Zweifel kann Moral in der Weise genutzt werden, aber dadurch wird Moral nicht prinzipiell zur Ideologie: Das ist nicht ihr Wesen, sondern ihr Mißbrauch.

11.
Die Entmoralisierung, die Marx konsequent betreibt, wird noch einen Schritt weiter getrieben. Das geistige Sein mitsamt der Moral wird nicht nur zum Sekundären, sondern sogar zum Falschen, zur Ideologie. Ich zitiere:
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abge-
hen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, …
Die Moral, ursprünglich Quelle der Emanzipation, hat sich in dieser theoretischen Position ins Gegenteil verkehrt. Sie ist Mittel der Repression.

12.
Die Moral ist allerdings bei Marx nicht verschwunden. Die Logik des historischen Prozesses tritt nun an die Stelle der Moral. Seine Analysen, seine kritischen Untersuchungen der bestehenden Verhältnisse, lehren nicht den Nihilismus oder einen puren Macchiavellismus des Machterhalts. Dann würde man den ganzen Marx nicht begreifen. Seine Theorie bleibt in gewisser Weise hochmoralisch. Aber statt der individuellen Betrachtung und Begründung der Moral hat die Erkenntnis der Entfremdung und die therapeutische Aufhebung der Entfemdung zur Folge, die Moral wie beschrieben als Moral zwar zu negieren, sie aber zugleich als Impetus doch zu erhalten, indem ihr eine objektivistische Interpretation gegeben wird, die ihr einen gesellschaftswissenschaftlichen Status verleiht. Anstatt sie in der unberechenbaren Sphäre des Innern und der Freiheit der Individuen zu belassen, wird sie unterderhand in den gesellschaftlich-historischen Prozeß hineinprojiziert. Aus der moralischen Not von Individuen ist eine theoretische Notwendigkeit geworden.
Mit Notwendigkeit geht die Gesellschaft vom Feudalismus zum Kapitalismus über und von dort zum Sozialismus und schließlich zum Kommunismus. Die Moral wird auf diese Weise zur idealistischen Spekulation einer sich materialistisch verstehenden Theorie. Dadurch, daß die reine Spekulation in ein Objektives verkehrt wird, wird die Geschichte wie verhext; sie wird einem Diktum unterworfen, das gegen alle Empirie die Politik zur Einlösung eines ganz und gar nicht objektiven Schematismus zwingt, solange sie der revolutionären Linie treu bleiben will.

13.
Die Logik des Prozesses wird damit gegenüber der Moral verabsolutiert. Sogar das Unmoralische der Vergangenheit kann gerechtfertigt werden, sofern es einen Fortschritt erbrachte, Fortschritt verstanden als Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte, deren Entwicklung die Basis für die humane Entwicklung der Gesellschaft darstelle. Aus dieser Sicht greift Marx vehement die „Philosophie des Elends“, eine Schrift des französischen Anarchisten Proudhon unter dem Titel „Das Elend der Philosophie“ an, der die Sklaverei verdammt. Für Marx ist er ein lächerlicher Moralist, der die dialektische Entwicklung der Geschichte nicht begriffen hat. Für ihn ist die Sklaverei keine moralische , sondern eine ökonomische Kategorie.
„Die Sklaverei ist eine ökonomische Kategorie wie eine andere…
Die direkte Sklaverei ist der Angelpunkt der bürgerlichen Industrie, ebenso wie die Maschinen etc. Ohne Sklaverei keine Baumwolle; ohne Baumwolle keine moderne Industrie. Nur die Sklaverei hat den Kolonien ihren Wert gegeben; die Kolonien haben den Welthandel geschaffen; und der Welthandel ist die Bedingung der Großindustrie. So ist die Sklaverei eine ökonomische Kategorie von höchster Wichtigkeit.
Ohne die Sklaverei würde Nordamerika, das vorgeschrittenste Land, sich in ein patriarchalisches Land verwandeln. Man streiche Nordamerika von der Weltkarte, und man hat die Anarchie, den vollständigen Verfall des Handels und der modernen Zivilisation.“ (Das Elend der Philosophie, S. 130)
Wer also den ökonomischen Prozeß der Gesellschaft aus einem moralischen Blickwinkel beurteilt und verneint, der verneint den notwendigen historischen Prozeß, in welchem die Entwicklung zur freien Gesellschaft beruht. Wenn man zum Kommunismus kommen will, muß man die Stufen, die zu ihm hinführten akzeptieren, selbst wenn es über die Sklaverei und andere moralische Katastrophen führen sollte. Der historische Prozeß, sofern er den technischen Fortschritt bringt, ist nun paradoxerweise moralisch, die Moral eine Variable des Fortschritts der Produktivkräfte, der Fortschritt eine Sache der Mechanik des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.
„Alle Kollisionen der Geschichte haben also nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform.“ (L392)

Die Objektivität der Geschichte gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft. Im Kapital spricht Marx daher von den
„… Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion…. Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.“

14.
Die Verlagerung der individuellen Moral in die gesellschaftliche Emanzipation führt zwangsläufig zu einer Optik, in welcher die Individuen im großen, objektiven Gang der Geschichte keine konstitutive Rolle mehr spielen. Im Kapital kommen die Kapitalisten nur als „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ vor, die Proletarier gehen nur als Expemplare ihrer Klasse in die Analysen ein. Individualität wird dem Schematismus der Klassentheorie der Gesellschaft geopfert. Marx´materialistische Analyse begreift die Individuen als total von außen bestimmt.
„Diese Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als „Substanz“ und „Wesen des Menschen“ vorgestellt,…“ (368)
„Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist,…“
Das brauche ich nicht zu kommentieren.

15.
Dadurch, daß der historische Prozeß eine moralische Tendenz zugesprochen bekam, wird aus der moralischen Entscheidung von Individuen die Einsicht in die Objektivität der Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses. Freiheit wird nicht bezogen auf Verantwortung und moralische Entscheidung, sondern auf die Einsicht in die Notwendigkeit. Berufen dazu sind die Kommunisten wie es im Kommunistischen Manifest heißt:
„Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“
Aber den Kommunisten ergeht es nicht viel besser als den anderen Individuen, denn als Individuen haben sie keine besondere Stellung. Nicht ihrer persönlichen Freiheit und Moral entspringt das, was sie zu entscheiden haben, sondern lediglich ihrer theoretischen Einsicht in die Notwendigkeit. Ihre individuelle Freiheit ordnet sich ganz und gar der gesellschaftlichen Befreiung unter. Ob daraus dann wirklich eine werden kann, ist die Frage, die meines Erachtens die Geschichte bereits beantwortet hat. Die Theorie von Marx und nicht erst der Marxismus ist die paradoxe Theorie einer gesellschaftlichen Emanzipation ohne individuelle Freiheit.

16.
Ein Fazit aus dem Bisherigen läßt sich in Kürze ziehen. Die Perspektive hat sich bei Marx gewandelt. Die Moral findet ihren Widersacher nicht mehr in dem radikal Bösen des einzelnen Menschen wie z.B. bei Kant, sondern in dem Inhumanen der Gesellschaft, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, in der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Der Ansatzpunkt der Moral ist nicht mehr die Erziehung des Menschengeschlechts wie es Lessing und Schiller, die Klassiker insgesamt gedacht hatten, sondern die Revolution der Gesellschaft. In einem Satz: Die Revolution der Gesellschaft ersetzt die Erziehung des Menschengeschlechts. In dieser Perspektivänderung liegt die Anerkennung der Umstände als eines maßgeblichen Faktors für das Verhalten der Menschen. Der Einfluß der sozialen Umgebung auf das Verhalten der Individuen kommt zur Geltung und wird ausschlaggebend. Die dialektisch polare Argumentation führt methodisch zu einem Entweder-Oder: Nicht mehr das Innere der Menschen mit Gewissen, Schuld, Reue, Sühne und individueller Freiheit bleiben das Ursprüngliche der Moral, sondern das Äußere, das Gesellschaftliche wird zum Ursprünglichen. Da aber die Moral aus dem Innern der Menschen entspringt – und nirgendwo sonst – bedeutet die Negation der inneren Dimension des Menschen die Negation der Moral überhaupt. Paradox ist diese Negation, weil sie geradezu das Gegenteil zu erreichen beabsichtigt: Ihr eigentliches Ziel und ihr fundamentaler Irrtum besteht darin, durch die Transponierung in das Gesellschaftliche der Moral eine objektive Basis in der Geschichte verschaffen zu können.
Aber aus den Unbestimmtheiten, anders ausgedrückt: Aus der Freiheit der Menschen gibt es kein Entweichen, kein Entrinnen. Wo die Freiheit festgeschrieben wird, selbst in bester Absicht, ist die Freiheit schon nicht mehr vorhanden.

17.
Das Gesellschaftliche ist aber kein Niemandsland, in dem keine Individuen wirkten. Die Kommunisten sind es dann, die – wie ausgeführt – nicht mehr nach moralischen Prinzipien, sondern nach der Einsicht in die konkreten Bedingungen des historischen Prozesses ihre Entscheidungen treffen. Die Kommunisten aber nicht als vereinzelte Individuen, sondern als Mitglieder einer Organisation, die den Klassenkampf führt. Die Kommunistische Partei ist es, die jetzt regiert, in der Form von Direktiven, von politischen Beschlüssen, die den Gesichtspunkten der
Durchsetzung der Revolution, der Realisierung des politischen Programms folgen und Moralisches nicht mehr an sich haben müssen. Die revolutionäre Zweckrationalität setzt sich durch, wozu auch der pure Machterhalt gehört. Eine verhehrende Logik ist in Gang gekommen, in welcher der Wille zur Macht zum entscheidenden Kalkül werden kann. Die Perversionen, die daraus real entspringen, brauche ich nicht weiter darzustellen. Wir haben sie erlebt – von Stalin bis zu den Roten Khmer. Und sie sind wirklich Anlaß zur Verzweiflung über eine praktisch gewordene Vernunft. Ich sage Vernunft, denn es ist nicht bloße Willkür, bloße losgelassene Bosheit aus dunklen Emotionen, die sich hier manifestetiert, sondern es sind rationale Erwägungen, denen ursprünglich bestimmte Ideen und Ideale zugrunde lagen. Was nicht verstanden werden muß, ist wie das Böse böse wird. Was aber verstanden werden muß ist, wie das anfänglich Humane in Bestialität umschlagen kann. Dieser Umschlag macht eine der Katastrophen der Moderne aus, die im 20. Jahrhundert zum Bankrott einer sozialen Emanzipationsbewegung geführt hat, die aus der Aufklärung hervorging.

18.
Meine Damen und Herren, vielleicht haben Sie es bemerkt, daß meine Ausführungen eine kaum verzeihliche Einseitigkeit an sich hatten. Ich hatte den Akzent auf die Aufhebung der Moral in die Politik gelegt. Damit möchte ich auf jeden Fall zwei Fehlern nicht Vorschub leisten. Der erste bestünde darin, ein moralisches Leben lobzupreisen, daß sich von der Politik zurückzieht. Um es klar zu sagen: Eine Moral, die sich der Gesellschaft und der Politik nicht stellt, kann für sich keine Moral in Anspruch nehmen. Eine prinzipiell privatistische Moral ist keine. Und weiter gedacht, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Die persönliche Freiheit ersetzt nicht die gesellschaftliche Emanzipation, die Moral nicht die Politik.

Der zweite Fehler bestünde darin, zu übersehen, daß auch die Moral keine ungefährliche Angelegenheit ist: Seit Hegels Kapitel „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ in seiner Phänomenologie des Geistes, wissen wir, wozu der moralische Rigorismus fähig ist, wie er in der Französischen Revolution wütete – und dann später in vielen revolutionären Bewegungen. Der moralische Rigorismus ist mit der Aufhebung der Moral in die Politik nicht verschwunden, er ist nicht aufgehoben, sondern führt sein Unwesen als revolutionärer Doktrinarismus nur noch schlimmer weiter.

Die Konsequenz daraus: Die Moral ist nicht in die Politik aufzuheben, aber auch nicht die Politik in die Moral. Ein Verhältnis, das beiden Dimensionen gerecht würde, bestünde darin, daß die Vernunft als der Ursprung der Freiheit und der Moral im Innern der Menschen mit dem Verstand als dem Ursprung der Einsicht in die äußeren, empirischen Verhältnisse eine Einheit eingeht.

Damit eine solche Verbindung möglich wird, muß die Moral allerdings in ihrer Eigenständigkeit anerkannt werden. Zu sehr hängen die gegenwärtigen Politikverständnisse an einer einseitigen rein aus den äußeren Fakten abgeleiteten Erkenntniseinstellung. Das betrifft also nicht nur Marx und den Marxismus. Politik wird nicht in ihrer historischen Tiefe, d.h. der Verbindung mit der menschlichen Vernunft und Moral durchschaut. Die Konstituierung der Lebenswelt geschieht nicht allein durch die gesellschaftlichen Dimensionen von Naturwissenschaft, Ökonomie, Technik auch wohl der Ökologie, sondern durch die von Recht, Staat, Kunst, Religion und Philosophie. Diese Dimensionen des objektiven Geistes, die sich in der gesamten Geschichte der Gattung Mensch entfaltet haben, sind Manifestationen der inneren menschlichen Anlagen Vernunft, Freiheit und Moral. Sie sind Dimensionen deren Grundlage Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft abhandelt, einer eigenen Form von Rationalität, die nicht einer Logik der Erkenntnis dessen, was ist, folgen, sondern einer Logik dessen, was sein soll und ursprünglich einer Entelechie entspringen, die unserer Gattung naturhaft eingeschrieben ist. Die Vernunft erfüllt sich nicht darin, die gegebene Welt abzuschildern, wie sie ist, sondern die Welt nach dem, was in ihr – in der Vernunft – liegt, hervorzubringen. Die dynamische Triebkraft der Vernunft wird unterschätzt. Der Theorie von Karl Marx fehlt diese ganze Seite der Vernunft als der aus dem Inneren des Menschen kommenden ungeheuren Produktivkraft, die keine Ruhe geben wird, solange die Lebenswelt nicht ihr gemäß gestaltet sein wird.
Die Vernunft ist eine dynamische Kraft. Die Vernunft will sich realisieren: sie will eine vernünftige Welt. Hier ist die Begründung zu finden für den Messianismus von Derrida, den ich eingangs zitierte.
Alle Politik, die diese Kraft mißachtet, errichtet – lassen Sie es mich mit einem alten Wort aus dem Vokabular der 68er sagen – nur Papiertiger. Kein Wunder, daß der Marxismus seine Ziele nicht erreichte.
Marx´ Fehler, wie der aller Politik, die von den äußeren Faktoren wie der Ökonomie ausgeht, besteht darin, das zur Natur gehörige Vernunftwesen der Menschen nicht in Rechnung zu stellen.

Vielleicht wäre es doch angebracht, den Tip von Ernst Bloch aus seiner Schrift „Geist der Utopie“ ernst zu nehmen, den ich auch schon anfangs zitierte, nämlich den Marxismus, der eine Affinität zur Kritik der reinen Vernunft besäße, anzureichern mit einer praktischen Vernunft, die noch geschrieben werden müßte. Das würde dann in einem den Weg weisen zur Überwindung von Kapitalismus und Marxismus, die meines Erachtens an der Zeit ist.

Die paradoxe Identität von Politik und Moral bei Karl Marx
Vortrag Dr. Gerhard Stamer
Bamberg Hegelwochen
12. Mai 2011

Meine Damen und Herren,
In diesem Vortrag geht es mir nur um eine These, mehr nicht. Ich möchte Ihnen darstellen, wie es gekommen ist, daß eine Theorie, deren innerster Impuls Moral und Humanität ist, im Verlaufe der Praktizierung, die sich auf diese Theorie berief, in das Gegenteil, in Inhumanität und Barbarei hat umschlagen können. Ich möchte Ihnen dies darstellen und zugleich, daß der Grund für diese Perversion weitgehend darin bestand, daß die Moral in die Politik aufgehoben wurde.

1.
Wenn ich Ihnen das exemplarisch an der Theorie von Marx zeigen möchte, so deshalb, weil, wie ich sagte, diese Theorie einen moralischen Ursprung hat, und zwar in unvergleichlicher Weise sowohl was den Inhalt und die theoretische Systematik betrifft als auch die Weltgeltung, die sie erlangte. Theorien oder Bewegungen, die keinen moralischen Ursprung besaßen, sprechen ein ganz anderes theoretisches Interesse an, nämlich worin der Grund für das Böse besteht. Das ist aber zumindest heute nicht mein Interesse. Daß das Inhumane inhuman ist, ist gewissermaßen eine unproblematische Selbstverständlichkeit. Aber wie das im Kern Moralische in sein Gegenteil umschlagen kann, das ist für eine jede künftige Theorie humaner gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung von höchster Wichtigkeit.
Eines kommt hinzu: Die Theorie von Marx muß als Frucht der Moderne selbst angesehen werden – und zwar ihrer bedeutendsten Strömung, der Aufklärung. Insofern besitzt die Auseinandersetzung mit dem Marxismus bis heute Aktualität. Bis jetzt ist nach meiner Auffassung eine Auseinandersetzung mit Marx noch nicht in der Weise erfolgt, daß daraus hervorgegangen wäre, wie der Kapitalismus zu überwinden ist. Denn das steht meiner Auffassung nach immer noch auf dem Programm. Das sagt aber zugleich, daß eine große Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß nur über die kritische Auseinandersetzung mit Marx eine programmatische Perspektive gewonnen werden kann, die anzeigt, welche Richtung politisch zur Überwindung des Kapitalismus einzuschlagen wäre.

Um die Position, die ich vertrete auf den Punkt zu bringen: Ich meine, daß die Überwindung des Kapitalismus auch die Überwindung des Marxismus erfordert. Die gesamte Theorie von Marx ist selbst ökonomistisch geprägt – wie der so bekämpfte Kapitalismus. Weiterhin bin ich der Überzeugung, daß dies in gewissem Einvernehmen mit der Theorie von Marx selbst vorgenommen werden müßte. Was Marx zu Beginn des „Kapitals“ im Hinblick auf die Methode der Dialektik gegen das Bürgertum vorbrachte, gilt es heute mit gleichem Recht gegen seine dogmatischen Verteidiger und Verfechter vorzubringen.
„In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“
Auch die Theorie von Marx und die Praxis, die sich auf sie beruft, ist eine historische Gestalt und dieser Logik unterworfen. Auch sie muß nach ihrer vergänglichen Seite hin, zur Seite ihrer Negation, begriffen werden.

2.
Meine eigene Argumentation möchte ich mit Gedanken von Jacques Derrida vorbereiten. Derrida, der durchaus kein sozialistischer Parteigänger war, hatte in seinem 1993 veröffentlichten Buch „Marx´ Gespenster“ – auf Deutsch 2004 erschienen – , geschrieben, daß wenn zwar heute der Kommunismus nicht mehr als Gespenst in Europa herum- geistern würde, wie es der erste Satz im Kommunistischen Manifest von 1848 ausdrückte, so doch immerhin Karl Marx selbst keinesfalls von der historischen Bühne verschwunden sei. „Marx´Gespenster“ würden noch aktiv sein. Was meinte er damit? Ich zitiere:
„In dem Augenblick, wo eine neue, weltweite Unordnung ihren Neo-Kapitalismus und ihren Neo-Liberalismus zu installieren versucht, gelingt es keiner Verneinung, sich aller Gespenster von Marx zu entledigen.“
Marx bleibe Aufruhr gegen Elend und Ungerechtigkeit, und auch Aufruhr gegen eine passive Hinnahme von Elend und Ungerechtigkeit. Unter dem Gesichtspunkt des verpflichtenden Erbes, wendet sich Derrida Marx zu und meint,
„- daß wir nämlich das Erbe des Marxismus übernehmen müssen, daß wir das >Lebendigste< davon übernehmen müssen, […]. Dieses Erbe müssen wir reaffirmieren, indem wir es radikal verändern wie eben notwendig. Diese Reaffirmierung hielte sich in der Treue zu etwas, das in dem von Marx ausgegangenen Appell […] nachhallt, und gleichzeitig entspräche sie dem Begriff des Erbes im allgemeinen. Das Erbe ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe.“
Ich wiederhole: Das Erbe ist zu übernehmen, aber es ist radikal zu verändern. Eine Reaffirmation so vorgenommen, würde sich nicht auf das speziell Theoretische richten, um es zu erhalten, sondern auf etwas, das Derrida messianisch nennt.
„Wenn es nun einen Geist des Marxismus gibt, auf den zu verzichten ich niemals bereit wäre, dann ist das nicht nur die kritische Idee oder die fragende Haltung […]. Es ist eher eine gewisse emanzipatorische und messianische Affirmation, eine bestimmte Erfahrung des Versprechens, die man von jeder Dogmatik und sogar von jeder metaphysisch-religiösen Bestimmung, von jedem Messianismus zu befreien versuchen kann.“
Derrida bleibt in dem Sinne modern, als er die messianische Affirmation, die er selbst vertritt, von jeder metaphysischen Bestimmung lösen möchte. Ob dies gelingt, mag als Frage stehen bleiben. Die Konsequenz seiner Argumentation wird darin deutlich, daß er bei aller Treue zu seiner Methode der Dekonstruktion an der Undekonstruierbarkeit der Idee der Gerechtigkeit entschieden festhält.
„Das dekonstruktive Denken, auf das es mir hier ankommt, hat immer an das Irreduzible der Affirmation und damit des Versprechens erinnert, wie auch an das Undekonstruierbare einer bestimmten Idee der Gerechtigkeit […]. Ein solches Denken kann nicht arbeiten, ohne das Prinzip einer radikalen und unabschließbaren (…), unendlichen Kritik zu rechtfertigen. Diese Kritik gehört der Bewegung einer Erfahrung an, die für die absolute Zukunft dessen, was kommen wird, offen ist.“
Bei Derrida bleibt die Argumentation in einer entschlossenen Bereitschaft zur Offenheit für die Zukunft stehen. Durch diese Unbestimmtheit wahrt Derrida auf jeden Fall, daß keine dogmatische Festlegung der Zukunft Fesseln anlegt und den zukünftigen Generationen die Freiheit nimmt. Vielleicht ist das eine Grenze, die es zu bewahren gilt.

Dennoch möchte ich vorsichtig über diese Grenze hinausgehen. In Hegels Logik gibt es den Satz, daß eine Grenze erkennen bereits heiße, über sie hinauszugehen. Vielleicht trifft das nicht auf jeden Fall zu, aber in diesem konkreten gibt es einen Fingerzeig von Ernst Bloch. In seiner Schrift „Geist der Utopie“ sagt er:
„Man kann darum sagen, daß gerade die scharfe Betonung aller (ökonomischen) determinierenden…den Marxismus in die Nähe einer Kritik der reinen Vernunft rückt, zu der noch keine praktische Vernunft geschrieben worden ist.“ (Geist der Utopie, Suhrkamp Taschenenbuch 1964, S. 304)
Zur Praktischen Vernunft Kants überzugehen, würde bedeuten, die Vernunft als konstitutiven, dynamischen Faktor in der menschlichen Gattungsgeschichte anzuerkennen, wie es Kant in der „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ darstellt.“

3.
Ausgangspunkt des kritischen Denkens von Karl Marx wie von Friedrich Engels war die moralische Empörung über das Elend der physisch schwer arbeitenden Bevölkerung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Engels hatte sein berühmtes Buch über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ geschrieben. In Marx´ Fragment über die Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie heißt es in direkter Anlehnung an Kants Morallehre:
„Die Kritik der Religion (die für Marx Feuerbach bereits geleistet hatte) endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…“ ( S. 216)
Es ist nötig, diesen moralischen Ursprung der Kritik hervorzuheben, denn nur dadurch wird die Verkehrung überhaupt deutlich, die in der weiteren pragmatischen Systematisierung der Theorie bei Marx geschieht.
Die Empörung über die Verhältnisse ist zugleich eine Empörung über die Schicht der gebildeten und aufgeklärten idealistischen und romantischen Geister, denen Marx eine typische intellektuelle Beschränktheit vorwirft. Sie würden zwar auch kritisieren, aber ihre Kritik bliebe inkonsequent und imgrunde dem Kritisierten verhaftet, denn:
„Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritk mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen…“
In der „Deutschen Ideologie“ polemisiert Marx unversöhnlich scharf speziell gegen seine früheren berliner Freunde wie Bruno Bauer und Max Stirner, aber auch gegen Ludwig Feuerbach. Die Quintessenz ist bekannt. Sie lautet:
„Die Philosophen habe die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“
Auch wenn er hier bestimmte Personen namhaft angreift, er zielt doch auf die ganze geistige Milieu der Intellektuellen.

4.
In den berühmten Feuerbach-Thesen, in denen auch der soeben zitierte Satz steht, spitzt er seine Auffassung zur Praxis zu.
„Feuerbach mit dem abstrakten Denken (Hegels) nicht zufrieden“
hätte Praxis nur unter erkenntnistheoretischen Aspekten als sinnliche Anschauung gefaßt,
„nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis,…“
Einige Zeilen später:
„In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“
Damit ist schon ein zündendes Programm gegeben: Der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen – und die Praxis als theoretisch begründeter Modus. Die Zuspitzung der Gedanken von Marx ist unverkennbar.

5.
So weit mag man das Ganze noch als ein moralisches Aufbegehren verstehen, aber es verbindet sich mit einer Auffassung von der Gesellschaft, die Marx in der Kritik an der Hegelschen Staatsphilosophie herausarbeitet. Anhand des von Hegel übernommenen Maßstabs für ein gelungenes menschliches Gemeinwesen, nämlich der opferlosen Identität der einzelnen Menschen mit dem Allgemeinen, in dem sie leben, wie es die idealisierende Interpretation um 1800 in der griechischen Polis vorzufinden meinte, übt Marx die grundsätzliche Kritik an Hegel, daß nicht der Staat, nicht die Sphäre der Politik, das fundamentale Band zwischen den Menschen und ihrem Gemeinwesen konstituiere, sondern daß dies der Bereich der Arbeit sei, die Sphäre des Sozialen. Die Gesellschaft, die von Marx in erster Linie durch die menschliche Arbeit hervorgeht, übernimmt den Rang, den bei Hegel der Staat einnahm. Die produktive Tätigkeit, die lebenserhaltende Arbeit tritt an die Stelle von Denken und Sprechen, das Soziale an die Stelle des Politischen, ein gesellschaftlicher Materialismus an die des Idealismus. Methodisch aber sieht Marx die Beziehung zwischen den Individuen und ihrem Gemeinwesen nicht anders als Hegel im dialektischen Schema des Verhältnisses von Allgemeinem und Einzelnem begründet. Die „soziale Qualität“ sei es und nicht die politische, durch die die Individuen mit dem Gemeinwesen, das sie durch ihre Tätigkeit herstellen, verbunden sind.

6.
Dieser Materialismus hat zunächst eine Konsequenz, gegen die es nichts einzuwenden gibt. Der Mensch wird als biologisches Wesen mit seinen primären Bedürfnissen anerkannt.
„Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur.“ (347)
Es ist gewissermaßen eine Rückkehr zum unmittelbar Leiblich-Physischen der menschlichen Existenz, die nun gegen alle früheren idealistischen und auch religiösen Verklärungen etwa der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ihre Anerkennung erhält. Ausdrücklich heißt es:
„Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst.“ (199L)
Das klingt in heutigen Ohren – denke ich – wie etwas durchaus Annehmbares: Der Mensch als Maßstab für die Einrichtung der menschlichen Verhältnisse. Der konservative Ton des Satzes mag dabei gar nicht weiter auffallen, denn tatsächlich ist Zurückführung das Gegenteil einer historischen Auffassung, in welcher auch der Mensch eine Weiterentwicklung vollzieht.
Die Rückführung auf den Menschen bedeutet für Marx zugleich einen Paradigmenwechsel in der Weltauffassung: Die Substanz der Wirklichkeit, die in der traditionellen religiösen Weltdeutung in der Tranzendenz lag, wird jetzt radikal in das Diessseits geholt. Und so verändern sich die Aufgaben:
„Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (L209)
Die Kritik an der Religion, die für Marx durch Ludwig Feuerbach geleistet war, kann sich auf die wirklichen, diesseitigen Lebensverhältnisse richten.

7.
Und nun erfolgt der nächste konsequente Schritt in der theoretischen Entwicklung: Die Entfremdung , die für Marx in der religiösen Weltauffassung lag, nämlich die eigenen Wesenskräfte für Wesenskräfte einer übernatürlichen, absoluten Macht zu halten, wird nun kritisch enthüllt als Entfremdung irdischer Verhältnisse, in denen nämlich die Menschen, also die wirklichen Akteure des Prozesses – für Marx die Arbeiter, die die Werte der Gesellschaft produzieren – ausgebeutet und unterdrückt sind. Marx meint zu durchschauen, daß die wirklichen Konstitutionsverhältnisse, die darauf beruhten, daß die Gesellschaft durch die Arbeit in ihren Zusammenhängen gebildet wird, geradezu verkehrt sind, denn es herrsche das Kapital, das Pivateigentum, die tote Arbeit über die lebendige Arbeitskraft. Das Kapital sei nur die aufgehäufte, geronnene, lebendige Arbeit. Der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang stellt für ihn ein einziges System der Entfremdung dar.
Marx´ Theorie der Entfremdung ist ein umfangreiches Theorem. Mindestens sechs Formen der Entfremdung führt er auf.
·    Die Entfremdung vom Produkt bezeichnet den Tatbestand, daß die Ware, die ein Arbeiter herstellt, nicht mehr in der Verfügungsgewalt des Arbeiters bleibt, sondern in den Besitz des Eigentümers an den Produktionsmitteln übergeht.
·    Die Selbstentfremdung besteht darin, daß die Arbeitskraft des Arbeiters – und d.h. der Arbeiter selbst – zur Ware wird, indem er wie alle Waren auf dem Markt, einen Preis hat und je nach Gebrauch eingestellt oder entlassen wird. Bei einer gesetzlich vollkommen ungeregelten Arbeitszeit von häufig über 12 Stunden pro Tag – und auch Arbeit am Wochenende – wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts oft der Fall war, kann man gut nachvollziehen, wenn Marx sagt, daß der Kauf der Arbeitskraft eines Menschen der Kauf seiner gesamten Energie, d.h. des Lebens eines Menschen sei: „denn was ist Leben (anderes) als Tätigkeit…“ Die Lebenstätigkeit ist unter den Bedingungen keine Tätigkeit im Dienste der Entfaltung des Lebens, was sie auch heute zumeist nicht ist, sondern ein Mittel, um den Lebensunterhalt zu verdienen.
·    Die Entfremdung betrifft auch das Verhältnis zur Natur, denn diese wird unter den industriellen Bedingungen zum bloßen Mittel, sie verliert ihren Eigenwert.
·    Die Entfremdung führt auch zu einer unter den Menschen, denn es bilden sich gravierende soziale Unterschiede in Form von Klassen heraus, die sich gegenüberstehen.
·    Weiter sei auch der Staat ein Phänomen der Entfremdung, da er sich getrennt von dem Gesellschaftlichen, in dem das wirkliche Leben der physisch arbeitenden Bevölkerung stattfindet, als Herrschaftsinstrument in den Händen der herrschenden Klasse befindet und entsprechend genutzt wird.
·    Als Entfremdung müsse letztlich auch – worauf ich schon hinwies – die religiöse Weltsicht mit Einschluß der Philosophie des Weltgeistes von Hegel angesehen werden, in der als historisches Subjekt nicht die wirklichen Menschen fungierten, sondern ein jenseitiges allmächtiges Wesen. Die Menschen hätten ihre eigene Potenz nicht als eigene erkannt und statt dessen ins Jenseits projiziert.

8.
Die Pariser Manuskripte aus dem Jahre 1844 – auch Ökonomisch-Philosophische Manuskripte genannt – bezeichnen den programmatischen Wendepunkt bei Marx. Nachdem die Entfremdung und die Selbst-entfremdung erfaßt sind, wird im Denken von Marx die Aufhebung der Entfremdung zum leitenden Programm für sein gesamtes Werk. Anders gesagt: Der Aufbau der Gesellschaft müsse den wirklichen Konstitutionsbedingungen gemäß sein. Die wirklichen gesellschaftlichen Konstitutionsverhältnisse müßten hergestellt werden. Das ist nun nicht mehr moralischer Protest, sondern eine Einsicht, die sich als wissenschaftlich begreift, hervorgegangen aus einer Analyse der bestehenden Verhältnisse.

So umfangreich und grundsätzlich wie die Entfremdung verstanden wird, so fundamental muß auch im Denken von Marx die Aufhebung der Entfremdung, die praktische Negation der bestehenden Gesellschaft verstanden – und auch praktisch betrieben – werden. Die gesamte Gesellschaft muß verändert, aufgehoben werden. Hier entsteht Marx´ Idee des Kommunismus als der prinzipiellen Alternative.
„Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als
vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen.“
Marx will raus aus allen möglichen Fiktionen der Menschen. Sie sollen sich nichts mehr vormachen, sondern ihre Wirklichkeit erfassen wie sie ist. Als Aufklärung über die Wirklichkeit begreift er seine Tätigkeit.

9.
Was bei der Lektüre der Manuskripte gar nicht ins Auge springen mag, ist der nächste Schritt in der Gedankenfolge von Marx hin zu den Konsequenzen seiner entwickelten Theorie. Die Theorie der Entfremdung und ihrer Aufhebung ist nämlich die Verlagerung des Moralischen in die Gesellschaft und in die Geschichte.
Inwiefern? Wenn – um es alltagssprachlich auszudrücken – das Böse seinen Ursprung nicht mehr in den einzelnen Menschen hat, in so etwas wie der Erbsünde möglicherweise sogar, sondern in der Gesellschaft, die die Menschen böse macht, wie es durch die Entfremdung der Fall ist, dann müssen nicht mehr die Menschen zur Moral erzogen werden, nicht mehr moralisch gebildet werden, sondern die Verhältnisse müssen nach Gesichtspunkten, die der Moral entstammen, verändert werden. Dabei aber wird die Moral in einen Bereich versetzt, aus der sie traditionell nicht hervorging.
Die Praxis zur Aufhebung der Entfremdung, zur Aufhebung der bestehenden Gesellschaft, wird zu einer Aktion in der Sphäre der Öffentlichkeit, des Staates, der Politik, und bleibt nicht mehr gebunden an den Ort, der traditionell für den der Moral gehalten wurde, nämlich dem Inneren der einzelnen Menschen, der Seele, des Gewissens. Das politische Kalkül tritt an die Stelle ethischer Entscheidung.

10.
Marx führt das aus der Entfremdung gewonnene Konzept stringent fort. Er bleibt nicht dabei stehen, die Politik gegenüber der Moral aufzuwerten, um sie miteinander zu verbinden, indem er die Forderung nach einer moralischen Politik erheben würde, nein, er erklärt die Moral zum Sekundären.
„Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“ (Deutsche Ideologie)
Damit ist die Eigenständigkeit und Ursprünglichkeit der Dimension des Moralischen beseitigt. Aber Marx bleibt selbst bei dieser Bedeutungsverminderung der Moral nicht stehen. Denn er sieht in der Moral eine für die befreiende Aktion der Arbeiterklasse schädliche Waffe des Klassenfeinds. Er meint, sie als intellektuelles Herrschaftsmittel entlarven zu können. Ohne Zweifel kann Moral in der Weise genutzt werden, aber dadurch wird Moral nicht prinzipiell zur Ideologie: Das ist nicht ihr Wesen, sondern ihr Mißbrauch.

11.
Die Entmoralisierung, die Marx konsequent betreibt, wird noch einen Schritt weiter getrieben. Das geistige Sein mitsamt der Moral wird nicht nur zum Sekundären, sondern sogar zum Falschen, zur Ideologie. Ich zitiere:
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abge-
hen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, …
Die Moral, ursprünglich Quelle der Emanzipation, hat sich in dieser theoretischen Position ins Gegenteil verkehrt. Sie ist Mittel der Repression.

12.
Die Moral ist allerdings bei Marx nicht verschwunden. Die Logik des historischen Prozesses tritt nun an die Stelle der Moral. Seine Analysen, seine kritischen Untersuchungen der bestehenden Verhältnisse, lehren nicht den Nihilismus oder einen puren Macchiavellismus des Machterhalts. Dann würde man den ganzen Marx nicht begreifen. Seine Theorie bleibt in gewisser Weise hochmoralisch. Aber statt der individuellen Betrachtung und Begründung der Moral hat die Erkenntnis der Entfremdung und die therapeutische Aufhebung der Entfemdung zur Folge, die Moral wie beschrieben als Moral zwar zu negieren, sie aber zugleich als Impetus doch zu erhalten, indem ihr eine objektivistische Interpretation gegeben wird, die ihr einen gesellschaftswissenschaftlichen Status verleiht. Anstatt sie in der unberechenbaren Sphäre des Innern und der Freiheit der Individuen zu belassen, wird sie unterderhand in den gesellschaftlich-historischen Prozeß hineinprojiziert. Aus der moralischen Not von Individuen ist eine theoretische Notwendigkeit geworden.
Mit Notwendigkeit geht die Gesellschaft vom Feudalismus zum Kapitalismus über und von dort zum Sozialismus und schließlich zum Kommunismus. Die Moral wird auf diese Weise zur idealistischen Spekulation einer sich materialistisch verstehenden Theorie. Dadurch, daß die reine Spekulation in ein Objektives verkehrt wird, wird die Geschichte wie verhext; sie wird einem Diktum unterworfen, das gegen alle Empirie die Politik zur Einlösung eines ganz und gar nicht objektiven Schematismus zwingt, solange sie der revolutionären Linie treu bleiben will.

13.
Die Logik des Prozesses wird damit gegenüber der Moral verabsolutiert. Sogar das Unmoralische der Vergangenheit kann gerechtfertigt werden, sofern es einen Fortschritt erbrachte, Fortschritt verstanden als Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte, deren Entwicklung die Basis für die humane Entwicklung der Gesellschaft darstelle. Aus dieser Sicht greift Marx vehement die „Philosophie des Elends“, eine Schrift des französischen Anarchisten Proudhon unter dem Titel „Das Elend der Philosophie“ an, der die Sklaverei verdammt. Für Marx ist er ein lächerlicher Moralist, der die dialektische Entwicklung der Geschichte nicht begriffen hat. Für ihn ist die Sklaverei keine moralische , sondern eine ökonomische Kategorie.
„Die Sklaverei ist eine ökonomische Kategorie wie eine andere…
Die direkte Sklaverei ist der Angelpunkt der bürgerlichen Industrie, ebenso wie die Maschinen etc. Ohne Sklaverei keine Baumwolle; ohne Baumwolle keine moderne Industrie. Nur die Sklaverei hat den Kolonien ihren Wert gegeben; die Kolonien haben den Welthandel geschaffen; und der Welthandel ist die Bedingung der Großindustrie. So ist die Sklaverei eine ökonomische Kategorie von höchster Wichtigkeit.
Ohne die Sklaverei würde Nordamerika, das vorgeschrittenste Land, sich in ein patriarchalisches Land verwandeln. Man streiche Nordamerika von der Weltkarte, und man hat die Anarchie, den vollständigen Verfall des Handels und der modernen Zivilisation.“ (Das Elend der Philosophie, S. 130)
Wer also den ökonomischen Prozeß der Gesellschaft aus einem moralischen Blickwinkel beurteilt und verneint, der verneint den notwendigen historischen Prozeß, in welchem die Entwicklung zur freien Gesellschaft beruht. Wenn man zum Kommunismus kommen will, muß man die Stufen, die zu ihm hinführten akzeptieren, selbst wenn es über die Sklaverei und andere moralische Katastrophen führen sollte. Der historische Prozeß, sofern er den technischen Fortschritt bringt, ist nun paradoxerweise moralisch, die Moral eine Variable des Fortschritts der Produktivkräfte, der Fortschritt eine Sache der Mechanik des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.
„Alle Kollisionen der Geschichte haben also nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform.“ (L392)

Die Objektivität der Geschichte gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft. Im Kapital spricht Marx daher von den
„… Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion…. Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.“

14.
Die Verlagerung der individuellen Moral in die gesellschaftliche Emanzipation führt zwangsläufig zu einer Optik, in welcher die Individuen im großen, objektiven Gang der Geschichte keine konstitutive Rolle mehr spielen. Im Kapital kommen die Kapitalisten nur als „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ vor, die Proletarier gehen nur als Expemplare ihrer Klasse in die Analysen ein. Individualität wird dem Schematismus der Klassentheorie der Gesellschaft geopfert. Marx´materialistische Analyse begreift die Individuen als total von außen bestimmt.
„Diese Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als „Substanz“ und „Wesen des Menschen“ vorgestellt,…“ (368)
„Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist,…“
Das brauche ich nicht zu kommentieren.

15.
Dadurch, daß der historische Prozeß eine moralische Tendenz zugesprochen bekam, wird aus der moralischen Entscheidung von Individuen die Einsicht in die Objektivität der Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses. Freiheit wird nicht bezogen auf Verantwortung und moralische Entscheidung, sondern auf die Einsicht in die Notwendigkeit. Berufen dazu sind die Kommunisten wie es im Kommunistischen Manifest heißt:
„Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“
Aber den Kommunisten ergeht es nicht viel besser als den anderen Individuen, denn als Individuen haben sie keine besondere Stellung. Nicht ihrer persönlichen Freiheit und Moral entspringt das, was sie zu entscheiden haben, sondern lediglich ihrer theoretischen Einsicht in die Notwendigkeit. Ihre individuelle Freiheit ordnet sich ganz und gar der gesellschaftlichen Befreiung unter. Ob daraus dann wirklich eine werden kann, ist die Frage, die meines Erachtens die Geschichte bereits beantwortet hat. Die Theorie von Marx und nicht erst der Marxismus ist die paradoxe Theorie einer gesellschaftlichen Emanzipation ohne individuelle Freiheit.

16.
Ein Fazit aus dem Bisherigen läßt sich in Kürze ziehen. Die Perspektive hat sich bei Marx gewandelt. Die Moral findet ihren Widersacher nicht mehr in dem radikal Bösen des einzelnen Menschen wie z.B. bei Kant, sondern in dem Inhumanen der Gesellschaft, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, in der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Der Ansatzpunkt der Moral ist nicht mehr die Erziehung des Menschengeschlechts wie es Lessing und Schiller, die Klassiker insgesamt gedacht hatten, sondern die Revolution der Gesellschaft. In einem Satz: Die Revolution der Gesellschaft ersetzt die Erziehung des Menschengeschlechts. In dieser Perspektivänderung liegt die Anerkennung der Umstände als eines maßgeblichen Faktors für das Verhalten der Menschen. Der Einfluß der sozialen Umgebung auf das Verhalten der Individuen kommt zur Geltung und wird ausschlaggebend. Die dialektisch polare Argumentation führt methodisch zu einem Entweder-Oder: Nicht mehr das Innere der Menschen mit Gewissen, Schuld, Reue, Sühne und individueller Freiheit bleiben das Ursprüngliche der Moral, sondern das Äußere, das Gesellschaftliche wird zum Ursprünglichen. Da aber die Moral aus dem Innern der Menschen entspringt – und nirgendwo sonst – bedeutet die Negation der inneren Dimension des Menschen die Negation der Moral überhaupt. Paradox ist diese Negation, weil sie geradezu das Gegenteil zu erreichen beabsichtigt: Ihr eigentliches Ziel und ihr fundamentaler Irrtum besteht darin, durch die Transponierung in das Gesellschaftliche der Moral eine objektive Basis in der Geschichte verschaffen zu können.
Aber aus den Unbestimmtheiten, anders ausgedrückt: Aus der Freiheit der Menschen gibt es kein Entweichen, kein Entrinnen. Wo die Freiheit festgeschrieben wird, selbst in bester Absicht, ist die Freiheit schon nicht mehr vorhanden.

17.
Das Gesellschaftliche ist aber kein Niemandsland, in dem keine Individuen wirkten. Die Kommunisten sind es dann, die – wie ausgeführt – nicht mehr nach moralischen Prinzipien, sondern nach der Einsicht in die konkreten Bedingungen des historischen Prozesses ihre Entscheidungen treffen. Die Kommunisten aber nicht als vereinzelte Individuen, sondern als Mitglieder einer Organisation, die den Klassenkampf führt. Die Kommunistische Partei ist es, die jetzt regiert, in der Form von Direktiven, von politischen Beschlüssen, die den Gesichtspunkten der
Durchsetzung der Revolution, der Realisierung des politischen Programms folgen und Moralisches nicht mehr an sich haben müssen. Die revolutionäre Zweckrationalität setzt sich durch, wozu auch der pure Machterhalt gehört. Eine verhehrende Logik ist in Gang gekommen, in welcher der Wille zur Macht zum entscheidenden Kalkül werden kann. Die Perversionen, die daraus real entspringen, brauche ich nicht weiter darzustellen. Wir haben sie erlebt – von Stalin bis zu den Roten Khmer. Und sie sind wirklich Anlaß zur Verzweiflung über eine praktisch gewordene Vernunft. Ich sage Vernunft, denn es ist nicht bloße Willkür, bloße losgelassene Bosheit aus dunklen Emotionen, die sich hier manifestetiert, sondern es sind rationale Erwägungen, denen ursprünglich bestimmte Ideen und Ideale zugrunde lagen. Was nicht verstanden werden muß, ist wie das Böse böse wird. Was aber verstanden werden muß ist, wie das anfänglich Humane in Bestialität umschlagen kann. Dieser Umschlag macht eine der Katastrophen der Moderne aus, die im 20. Jahrhundert zum Bankrott einer sozialen Emanzipationsbewegung geführt hat, die aus der Aufklärung hervorging.

18.
Meine Damen und Herren, vielleicht haben Sie es bemerkt, daß meine Ausführungen eine kaum verzeihliche Einseitigkeit an sich hatten. Ich hatte den Akzent auf die Aufhebung der Moral in die Politik gelegt. Damit möchte ich auf jeden Fall zwei Fehlern nicht Vorschub leisten. Der erste bestünde darin, ein moralisches Leben lobzupreisen, daß sich von der Politik zurückzieht. Um es klar zu sagen: Eine Moral, die sich der Gesellschaft und der Politik nicht stellt, kann für sich keine Moral in Anspruch nehmen. Eine prinzipiell privatistische Moral ist keine. Und weiter gedacht, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Die persönliche Freiheit ersetzt nicht die gesellschaftliche Emanzipation, die Moral nicht die Politik.

Der zweite Fehler bestünde darin, zu übersehen, daß auch die Moral keine ungefährliche Angelegenheit ist: Seit Hegels Kapitel „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ in seiner Phänomenologie des Geistes, wissen wir, wozu der moralische Rigorismus fähig ist, wie er in der Französischen Revolution wütete – und dann später in vielen revolutionären Bewegungen. Der moralische Rigorismus ist mit der Aufhebung der Moral in die Politik nicht verschwunden, er ist nicht aufgehoben, sondern führt sein Unwesen als revolutionärer Doktrinarismus nur noch schlimmer weiter.

Die Konsequenz daraus: Die Moral ist nicht in die Politik aufzuheben, aber auch nicht die Politik in die Moral. Ein Verhältnis, das beiden Dimensionen gerecht würde, bestünde darin, daß die Vernunft als der Ursprung der Freiheit und der Moral im Innern der Menschen mit dem Verstand als dem Ursprung der Einsicht in die äußeren, empirischen Verhältnisse eine Einheit eingeht.

Damit eine solche Verbindung möglich wird, muß die Moral allerdings in ihrer Eigenständigkeit anerkannt werden. Zu sehr hängen die gegenwärtigen Politikverständnisse an einer einseitigen rein aus den äußeren Fakten abgeleiteten Erkenntniseinstellung. Das betrifft also nicht nur Marx und den Marxismus. Politik wird nicht in ihrer historischen Tiefe, d.h. der Verbindung mit der menschlichen Vernunft und Moral durchschaut. Die Konstituierung der Lebenswelt geschieht nicht allein durch die gesellschaftlichen Dimensionen von Naturwissenschaft, Ökonomie, Technik auch wohl der Ökologie, sondern durch die von Recht, Staat, Kunst, Religion und Philosophie. Diese Dimensionen des objektiven Geistes, die sich in der gesamten Geschichte der Gattung Mensch entfaltet haben, sind Manifestationen der inneren menschlichen Anlagen Vernunft, Freiheit und Moral. Sie sind Dimensionen deren Grundlage Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft abhandelt, einer eigenen Form von Rationalität, die nicht einer Logik der Erkenntnis dessen, was ist, folgen, sondern einer Logik dessen, was sein soll und ursprünglich einer Entelechie entspringen, die unserer Gattung naturhaft eingeschrieben ist. Die Vernunft erfüllt sich nicht darin, die gegebene Welt abzuschildern, wie sie ist, sondern die Welt nach dem, was in ihr – in der Vernunft – liegt, hervorzubringen. Die dynamische Triebkraft der Vernunft wird unterschätzt. Der Theorie von Karl Marx fehlt diese ganze Seite der Vernunft als der aus dem Inneren des Menschen kommenden ungeheuren Produktivkraft, die keine Ruhe geben wird, solange die Lebenswelt nicht ihr gemäß gestaltet sein wird.
Die Vernunft ist eine dynamische Kraft. Die Vernunft will sich realisieren: sie will eine vernünftige Welt. Hier ist die Begründung zu finden für den Messianismus von Derrida, den ich eingangs zitierte.
Alle Politik, die diese Kraft mißachtet, errichtet – lassen Sie es mich mit einem alten Wort aus dem Vokabular der 68er sagen – nur Papiertiger. Kein Wunder, daß der Marxismus seine Ziele nicht erreichte.
Marx´ Fehler, wie der aller Politik, die von den äußeren Faktoren wie der Ökonomie ausgeht, besteht darin, das zur Natur gehörige Vernunftwesen der Menschen nicht in Rechnung zu stellen.

Vielleicht wäre es doch angebracht, den Tip von Ernst Bloch aus seiner Schrift „Geist der Utopie“ ernst zu nehmen, den ich auch schon anfangs zitierte, nämlich den Marxismus, der eine Affinität zur Kritik der reinen Vernunft besäße, anzureichern mit einer praktischen Vernunft, die noch geschrieben werden müßte. Das würde dann in einem den Weg weisen zur Überwindung von Kapitalismus und Marxismus, die meines Erachtens an der Zeit ist.