Symposium im Rahmen des Max-Weber-Programms der Studienstiftung des deutschen Volkes, 4. Juli 2008, Bamberg
Dr. Gerhard Stamer
Weitere Referenten: Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, der gegenwärtige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie sowie sein Vorgänger Carl Friedrich Gethmann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
zunächst möchte ich mich für die Einladung zu diesem Symposium bedanken. Ich sehe es als besondere Anerkennung an, daß ich als Vertreter eines außeruniversitären Instituts zu diesem Symposium eingeladen wurde. Andererseits zeigt die Einladung, daß es ein politisch-philosophisches Handeln außerhalb der Universität gibt – und daß dies von der Studienstiftung wahrgenommen wird.
Meine Absicht ist es nicht, mit diesem Vortrag eine allgemeine Theorie der politischen Philosophie vorzutragen. Was ich stattdessen vorhabe ist, einen Bericht abzugeben über ein Basisprojekt der Philosophie, über das Institut für Praktische Philosophie REFLEX, das ich 1994 gründete und das in diesem Jahr 15 Jahre besteht. Ich sehe diese philosophische Basisarbeit für eine sehr wichtige Form politischen Handelns an. Und das ist ja unser Thema.
Als erstes möchte ich die Ausgangskonstellation für die Gründung des Instituts beschreiben – und ich scheue mich nicht, diese Konstelletion als eine historische zu bezeichnen.
Von 1964 bis 1969 hatte ich in Frankfurt studiert und das Marxverständnis der Frankfurter Schule weitgehend zu dem eigenen gemacht. 1969 brach ich das Studium als Dotorand von Jürgen Habermas ab und war von 1970 ab mehrere Jahre Schiffbauer auf der Werft Blohm & Voß in Hamburg. Als Kritiker der Gewerkschaft bin ich sogar in den Betriebsrat gewählt worden. 1978 nahm ich das Studium in Hannover wieder auf. Meine Dissertation bei Oskar Negt thematisierte den Sozialdemokraten Eduard Bernstein, der die Forderung aufgestellt hatte „Zurück zu Kant!“ In dieser Arbeit vollzog ich einen persönlichen Paradigmenwechsel. Ich gewann die Überzeugung, daß eine Theorie gesellschaftlicher Veränderung in einem humanen Sinn nicht materialistisch auf der Basis von Bedürfnissen, Arbeit und objektivem Geschichtsverlauf begründet werden könne, sondern nur idealistisch auf der Basis von Vernunft, Freiheit und offenem historischem
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Horizont. Die Praktische Vernunft Kants wurde für mich zum Ausgangspunkt aller weiterer Überlegungen zur politischen Philosophie.
Für mich als einen Aktivisten der 68er Bewegung wurde es zur zentralen Frage nach dem Scheitern aller sozialistischer Projekte und nach der theoretischen Überwindung des Materialismus: Wie kann eine neue Form der Politik aussehen, die dabei bleibt, den Kapitalismus als Gesellschaftsform, in welcher die Ökonomie über den Menschen herrscht, abzulehnen, die sich aber zugleich grundsätzlich von dem Marxismus verabschiedet hat?
Entschuldigen Sie, daß ich hier so weit auf das Biographische eingegangen bin, aber zum Verständnis des Ansatzes, mit dem REFLEX gegründet wurde, sind diese Ausführungen notwendig. Denn die gesamte Arbeit von REFLEX bestand und besteht daher nicht nur darin, beliebige Kurse und Veranstaltungen durchzuführen, um Philosophie in aller Breite in die Öffentlichkeit zu tragen, sondern in der systematischen Bemühung, einen neuen Begriff von Politik zu erarbeiten. Das blieb durchgehend die interne Seite, ein Lernprozeß des Lehrenden, der seine Teilnehmer in dieses engagierte Philosophieren hineinzog. Daß REFLEX heute noch besteht, hat nach meiner Einschätzung den Grund, daß hinter allem dieses leidenschaftliche Konzept steht. Dieses Suchen, diese Offenheit, aber eben nicht ins Blaue, sondern ausgehend von einer klar bestimmbaren historischen Konstellation, macht bis heute die Attraktivität für alle Teilnehmer aus – welcher Couleur auch immer, wenn ich mich nicht täusche. Es ist ein Arbeiten an der Gegenwart.
Das Institut REFLEX ist als gemeinnütziger Verein gegründet worden. Finanzielle Rücklagen, ein ansehnliches Erbe oder sonstige Zuwendungen gab es nicht. Die ersten Jahre wurde ich durch eine AB- Maßnahme finanziert. Die Räumlichkeiten stellte ein befreundeter Rechtsanwalt in seiner Praxis generös zur Verfügung.
Als Zielsetzung wurde in der Satzung bestimmt, daß REFLEX für die Vergrößerung des Einflusses der Philosophie in der Öffentlichkeit sorgen wolle.
Seit seinem Beginn trat REFLEX mit einem Programm an die Öffentlichkeit, das regelmäßig zwei- oder dreimonatlich erschien. Das Angebot des Programms beinhaltet bis heute eine solide Textarbeit an klassischen Texten, wie sie auch an der Universität vermittelt wird. Drei, manchmal auch vier Kurse laufen durchschnittlich pro Woche. Die Arbeit ist immer sehr intensiv. Mit einer Gruppe von 10 Teilnehmern sitze ich beispielsweise seit 2 Jahren an Hegels Phänomenologie des Geistes.
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Wie lesen sie von Seite zu Seite. Voraussichtlich im Herbst werden wir beim absoluten Wissen angekommen sein.
Eine wichtige Rolle spielen die Studienreisen, die wir durchführen. Seit 1994 sind es jetzt rund 50, die wir durchgeführt haben – vor allem zu traditionellen Orten der Philosophie wie Jena, wo sich um 1800 die Klassiker Goethe und Schiller, die idealistischen Philosophen und die Romantiker trafen. Eine Reise führte uns nach Kues, zu Nicolaus Cusanus. In Italien, dem klassischen Elea, wo ein weites Areal von Ausgrabungen das frühe Stadtbild freigelegt hat, war ich mehrere Jahre hindurch. Ich hatte 1990 eine Monographie über Parmenides geschrieben. In Griechenland zogen wir auf den Spuren von Hölderlins Hyperion durch die Peloppones. In Cordoba stand die mittelalterliche arabische Philosophie von Avicebron, Maimonides und Averroes auf dem Programm. Zu Thales und Anaximander in der heutigen Türkei war ich vor drei Jahren mit einer riesigen Gruppe von über zwanzig Teilnehmern. Regelmäßig im Winter geht es nach Sylt, im Sommer nach Isenthal, einem kleinen Ort in den Schweizer Alpen.
Diese Reisen werden stets öffentlich ausgeschrieben. Sie führen zu intensiven Bekanntschaften unter den Teilnehmern, so daß sich über die Jahre ein fester Kern von Sympathisanten herausgebildet hat. Vor allem durch diese Reise ist ein soziales Netz um REFLEX entstanden, das durch ehrenamtliche Tätigkeit, auch ansehnliche Spenden, das Institut trägt. Bei der Gründung von REFLEX hatte ich diesen Aspekt der Tätigkeit überhaupt nicht im Blick, jetzt weiß ich, wie wichtig er ist.
Eine Entscheidung, die ich bei der Gründung allerdings bewußt traf, war die Konzentration auf einen festen Standort. Dies führte zu einem sich immer mehr vernetzenden Zusammenhang von Personen und Institutionen, die REFLEX zu einem bekannten urbanen Zentrum machte, das heute zur kulturellen Szenerie der Stadt gehört.
Wenn REFLEX erstens eine Philosophieschule ist, so ist es zweitens ein städtisches Zentrum der Philosophie, allseits bekannt.
Wir sprechen hier zu dem Thema „Philosophie und politisches Handeln“. Ich möchte in diesem Vortrag nicht in eine grundsätzliche, theoretische Debatte einbiegen, um zum Beispiel das Handeln vom Herstellen und von der Arbeit zu unterscheiden wie es Hannah Arendt in „Vita aktiva“ tut. Sicherlich interessant, die Aktivitätsform des spezifisch Philosophischen zu erörtern. Ich möchte es dabei belassen, daß politisches Handeln in den Worten von Hannah Arendt auf den öffentlichen Raum gerichtet ist, auf das Gemeinsame einer Polis, aber
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auch auf die gegenwärtigen großräumigen politischen und kulturellen Einheiten.
Worauf ich hinaus möchte, das ist die Bürde, die dem Philosophen auferlegt wird, wenn er auch noch politisch sein soll. Der philosophische Gelehrte hat oft gerade in der Abwendung von den alltäglichen politischen Wechselfällen das Grundsätzliche gesucht: das Wesen, die Substanz, das Allgemeine, das Ewige. Das Pragmatische ist nicht unbedingt die Sache des Gelehrten. Wer aber politisch wirken will, muß sich pragmatisch auf kurze Zeitverhältnisse einlassen, sogar auf Kräfteverhältnisse. Unter den Bedingungen des Bologna-Prozesses, die jetzt an den Hochschulen zu beunruhigenden Umstrukturierungen führen, sind Forschung und Lehre bedroht. Die Verteidigung qualifizierter Forschung und Lehre scheint die vordringliche Aufgabe zu sein, aber gerade nur durch ein politisches Handeln kann der drohende Qualitätsverlust von Forschung und Lehre verhindert werden. Politisches Handeln ist aber nicht einfach identisch mit Forschung und Lehre. Die Anforderungen wachsen, das Selbstverständnis der eigenen Tätigkeit gerät ins Wanken.
Wer also politisches Handeln von Philosophen fordert, muß zugleich Bereitschaft zu einem Pragmatismus fordern. Ich weiß nicht, ob die Ausgerichtetheit auf Forschung und Lehre an den Hochschulen und das dazugehörige traditionelle akademische Milieu dazu geeignet sind. Der Ansatz hingegen, der dem Institut REFLEX als außeruniversitärer Einrichung zu Grunde liegt, war von Beginn an auf eine qualifizierte Popularisierung der Philosophie ausgerichtet und – noch wichtiger! – auf pragmatische Initiativen und Projekte.
Das beste Beispiel die Weltausstellung in Hannover im Jahre 2000. Weder das Philosophische Seminar noch das Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik an der Universität hatte erkannt, das sich hier eine bedeutsame Gelegenheit zu politischem Handeln bietet. Ganz anders das Institut REFLEX aus seiner außeruniversitären Perspektive. Gerade darin, Gelegenheiten für öffentliche Interventionen zu erkennen und zu nutzen, besteht das A und O einer innovativen politischen Wirksamkeit der Philosophie. Drei Veranstaltungen führte REFLEX zu der Expo 2000 durch.
Die erste Veranstaltung war ein überaus gut besuchter Vortrag im Leibniz-Haus in Hannover, der das Motto der Weltausstellung „Mensch- Natur-Technik“ thematisierte, in dem ich das spezifisch Anthropologische gegenüber Natur und Technik herausarbeitete. Dies erwies sich als durchaus nötig, denn auf der Weltausstellung selbst wurde auf großen Lettern im Pavillon der Chemie verkündet: Du bist Chemie!
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Der zweite Vortrag war eine Multimediashow mit einer der führenden High-Tech-Firmen der Bundesrepublik. Eingeladen zu dem Vortrag hatte mich der Förderverein Expo 2000, eine Initiative der Unternehmer- verbände Niedersachsens. Mein Vortrag trug die Überschruft „Urbanität und Universalität“und war darauf angelegt zu zeigen, daß wenn es um die Darstellung von Welt ginge, der eigentliche Exponent die Stadt Hannover selbst sei mit ihrem unendlichen internationalen Beziehungsgeflächt, nicht aber das Expogelände und was dort stehen würde. Ich machte Ausführungen über die Industriemesse, die seit Jahrzehnten in Hannover stattfand, über die Evangelisch-lutherische Kirche, die hier ihr Zentrum hat, bis zur Städtepartnerschaft mit Hiroshima, nur um einiges zu nennen. Dann sprach ich Leibniz an und entfaltete die Idee der Universalität, die ich auf die Stadt bezog und als Urbanität deutete. Ich schloß mit den Worten: „Vielleicht wäre dies der intime Auftrag der Expo, das städtische Leben zu dem Bewußtsein seiner Universalität zu verhelfen; die Offenheit des Menschen für die Welt – für alle anderen Menschen – an diesem Ort zu bekunden.“
Ich erntete rückhaltlosen Beifall, aber die Idee, die Stadt zum Exponat zu machen, verhalte als wäre sie nie geäußert worden.
Der dritte Vortrag war der Eröffnungsvortrag zu einer der Expo gewidmeten Veranstaltungsreihe des Bundes Deutscher Architekten Niedersachsen. Der Titel: „Die Struktur des Raumes und die urbane Gemeinschaft. Philosophische Betrachtungen zum Thema Stadt und Städtebau“. Mein Vortrag zielte darauf ab, die Stadt nicht nur als räumliches Gebilde von Häusern und Straßen anzusehen, sondern als Netz lebendiger gemeinschaftlicher Beziehungen, die sich in Traditionen, Festen, Geschichten atmosphärisch zu einem bestimmten Charakter verdichten. In Hannover zu einem relativ langweiligen. Das aber sagte ich nicht.
Ich werde fortfahren mit der Charakterisierung einiger Vorträge zu denen ich eingeladen wurde. Es geht mir dabei nicht darum, meine eigene Vielseitigkeit unter Beweis zu stellen oder die Fähigkeit, Wissen organisieren zu können, beides muß man fraglos besitzen. Worum es mir geht, ist kurz zu zeigen, von wie vielen verschiedenen Stellen, die Philosophie abgerufen wird und zu welchen Zwecken. Philosophie wird gebraucht. So einfach ist das.
Der Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik der Uni Hannover lud mich zu meiner Überraschung zu einem sommerlichen Festvortrag ein. Ich betitelte ihn:
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„Warum der Techniker Gottfried Wilhelm Leibniz auch im Zeitalter der Globalisierung Philosophie betreiben würde – oder – warum alle Techniker das heute auch noch tun sollten.“ Ich hatte den Eindruck, dem Vortrag wurde durchaus Respekt gezollt. Aber am Schluß als mir der Dekan die Hand schüttelte und dazu sagte: „Solch einen Vortrag habe ich seit meiner Studienzeit nicht mehr gehört.“, war ich sicher, zum Fest nicht viel beigetragen zu haben.
Auf einer Kooperationsveranstaltung mit dem Behindertenbeauftragten des Landes Niedersachsen zum Thema Menschenleben – Menschenwürde referierte ich über
„Brauchen wir noch die Würde, wenn wir die Gene entziffert haben?“ Der Referent geriet in erhebliche Schwierigkeiten, die anwesenden Behinderten von der Kantischen Position zu überzeugen, daß die Würde eng mit der Freiheit des Menschen verbunden wäre. Dennoch war der Vortrag ein Erfolg, denn er landete über kritische Bioenergetiker in einer Kommission des Bundestags.
Einen Riesenerfolg hatte ich dagegen sofort auf einem Seminar Umwelthygiene der Weltgesundheitsorganisation, das in Hannover stattfand, zum Thema „Tiere als Infektionsquelle für den Menschen? – Fakten – Emotionen.“ Ich referierte über „Wahrnehmung von Problemen in der Wohlstandsgesellschaft“. Mein Fazit lautete: „In dem Zusammenhang, den wir heute hier behandelt haben, scheint mir das Richtige ohne große Schwierigkeiten formulierbar: Worauf es ankäme wäre:
- zu erkennen, daß die Tiere ein gesundes Leben führen müssen, wenn sie gesund bleiben sollen, d.h. wenn ihr Fleisch für Menschen bekömmlich sein soll,
- zu erkennen, wie weit wir es sind, die die Tiere krank machen. Wir müssen unser Verhalten ändern, wenn wir die Infektionen seitens der Tiere eindämmen wollen.
Allgemein ausgedrückt ist dies die Forderung nach der Beendigung uneingeschränkter Naturbeherrschung.“ Ich hatte den Eindruck, nichts Besonderes gesagt zu haben, aber der Vortrag wurde dann auch in einschlägigen Zeitschriften der Tierärzte abgedruckt und ich erhielt weitere Einladungen zum Thema, sogar aus Bayern.
Die Handwerkskammer Hannover lud mich zu einer Veranstaltung des in Hannover bekannten Photographen Joachim Giesel ein. „Die Leidenschaft zur Vergegenwärtigung“ nannte ich den Vortrag. Und ich führte aus, daß bei aller neuen Technik das Festhalten eines Augenblicks
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weiterhin seinen Zauber behalten wird. Die anwesenden Photographen gingen beruhigt nach Hause und ich bekomme seither die schönsten Photos, wenn ich sie brauche.
„Wie Risiken zu Chancen werden“ hieß ein Vortrag, den ich im Auftrag der Stadtsparkasse Hannover hielt. Ich wollte die Theorie der Risikogesellschaft von Ulrich Beck weiter denken. Ich hielt das, was ich referierte für ziemlich moderat. Aber ich war viel zu sehr auf Marx eingegangen. Und vor der riesigen Klientel der Sparkasse fühlte ich mich einsam wie nie zuvor.Vielleicht aber hatte ich auch die Situation vollkommen falsch eingeschätzt. Denn mein Vortrag wurde auf Kosten der Sparkasse als hübsche Broschüre gedruckt und REFLEX erhält auch immer noch Förderungen für das eine oder andere Projekt.
Die letzten Vorträge, auf die ich eingehen möchte, hielt ich in Hanau auf Einladung der Stiftung der Heraeus-Werke. Durch persönliche Kontakte zu Hannover war man auf mich gekommen.
„Europa; das Zentrum der Welt oder der untergehende Kontinent?“ war der Titel. Zuvor hatte ich bereits über „Wann wird die Religion gefährlich?“ referiert. Der erste Vortrag war eine Antwort auf die abfällige Bemerkung des US-Verteidigungsministers Rumsfeld, der vom „alten Europa“ sprach so als hätte es die Zähne verloren. Der andere Vortrag war inspiriert durch die beiderseitige religiöse Position der radikalen Islamisten und der ebenso radikalen Bush-Kameraderie. Es ließ sich alles gut an, aber dann wurde eine große Podiumsdiskussion organisiert, an der auch der Lokalmatador Singer teilnahm. Natürlich kamen wir auf die Hirnforschung zu sprechen und als ich bemerkte, daß man das Bewußtsein im Gehirn nicht finden würde und Begriffe keine Synapsen seien, solange man auch forschen werde, was Leibniz schon wußte, war der Spaß zu Ende und ich in Hanau nicht mehr gesehen.
Alle meine Vorträge habe ich in einem Band herausgegeben. Das Vorwort dazu sagt am besten, warum ich hier auf sie eingegangen bin. Ich zitiere:
„Die Philosophie hat es immer damit zu tun, den in ihrer Tradition einmal erreichten Stand der Reflexion zu erhalten. Es ist eine ständige Bemühung, die Einsicht in die Komplexität des Menschen und seiner Lebenswelt, die in den großen Werken der Philosophiegeschichte vorliegt, zu bewahren. Aber darin kann sich die Philosophie in einer Zeit starken Wandels nicht beschränken. Es gilt, die neuen Vorkommnisse der Gesellschaft und der Kultur mit dem in der Geschichte erreichten Stand der Reflexion zu konfrontieren, um sie zu verstehen. Hier verbindet sich die vita contemplativa mit der vita activa.
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Die in diesem Buch zusammengestellten Vorträge sind vornehmlich aus einer solchen Intention entstanden. Ob es sich um Städtebau handelt, um Arbeitslosigkeit oder Photographie, die Philosophie hat eine Blickweite und -schärfe, dass sie sich zu allen Themen und Fragen, die sich im Leben der Menschen und ihrem Verhältnis zur Welt stellen, profund zu äußern vermag. Philosophie realisiert sich als weltzugewandte Vernunftleistung, die Wirklichkeit zu bewältigen. Darin, den Primat praktischer Vernunft einzulösen, wie ihn Immanuel Kant formuliert hat, hat sie ihre höchste Aufgabe.“
Es kommt eine erstaunliche Liste zustande, wenn man sich die genannten Institutionen noch einmal vor Augen führt, von denen die Einladungen kamen:
Die Unternehmerverbände, der Bundesverband deutscher Architekte, der Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik der Universität, der Behindertenbeauftragte des Landes Niedersachsen, die Weltgesundheitsorganisation, die Handwerkskammer Hannover, die Stadtsparkasse Hannover, die Stiftung eines Großunternehmens.
Ich möchte dazu etwas hinzufügen: Wie auch immer die Vorträge ankamen, völlig egal, sie sind Beispiele für das Interesse an Philosophie und sie zeigen, daß hier ein großes, bis jetzt noch nicht genutztes Feld für die Philosophie liegt – außerhalb des akademischen Bereichs.
Anknüpfend hieran möchte ich auf eine weitere Dimension von Philosophie eingehen, die außerhalb der Universität besteht. Ich nenne sie die Erscheinung der existenziellen Alltagsphilosophie. Das heißt, Philosophie existiert nicht nur als Schulphilosophie und Weltweisheit – Kant hatte diese Unterscheidung getroffen -, Philosophie ist auch ein Tatbestand in der Lebenswelt vernunftbegabter Wesen überhaupt.
Um diese Dimension einzufangen, habe ich etwa zwei Jahre lang monatliche Gesprächskreise mit verschiedenen sozialen Gruppen im Regionalfunk radioflora durchgeführt, die viel Vorbereitung kosteten. Ich begann mit Schülern, setzte sie fort mit Krankenschwestern einer Intensivstation; dann folgten Pastoren, Künstler, Ärzte, Iraner usw., schließlich auch Obdachlose und Drogenabhängige. Meine Eingangsfrage lautete immer: Was hat ihre Tätigkeit mit der Philosophie zu tun? Und was ihr Leben? Nirgendwann habe ich die Verwurzelung der Philosophie in der Alltagswelt stärker erfahren als in diesen Gesprächen.
Worauf ich nicht weiter eingehen möchte, was ich nur kurz streifen möchte, ist die zunehmende Professionalisierung von REFLEX in den
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letzten Jahren, zu der sowohl die Gründung der Stiftung Philosophie zur Zeit gehört, als auch die Einrichtung einer Buchreihe beim LIT-Verlag. Drei Bände sind inzwischen erschienen. Die Stiftung hat nach ihrer Gründung aus dem Umfeld von REFLEX rund € 100.000 zusammgebracht, dann aber stagnierte die Enwicklung. Es gibt niemanden, der die Stiftung aktiv betreibt.
Zur Professionalisierung mag auch die Wandlung in Bezug zum Internet gehören. Diente die eigene Homepage früher nur zur Bekanntgabe des Programms von REFLEX, so änderte sich die Einstellung zu diesem Medium grundsätzlich, als Christian Illies mich bat, Kolumnen in der von ihm damals ( ich weiß nicht, ob auch noch heute) betreuten Website philosophie.de zu schreiben. Das tat ich ein gutes Jahr und dann begann ich auf der eigenen Website aktiv zu werden. Heute setze ich alle Vorträge per DVD ins Internet; so auch den von Prof Gethmann, als er in Hannover über Europa als Vernunftprojekt sprach. Auch das zweitägige Symposium, auf das ich noch zu sprechen komme, ist auf unserer Internetplattform zu hören und zu sehen. Was mich betrifft, so schreibe ich jetzt sogar auch blogs, wenn ich Zeit finde.
Die Entwicklung von REFLEX in den letzten 3, 4 Jahren möchte ich an Hand von drei Initiativen kennzeichnen.
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Das erste ist das Festival der Philosophie, das vom 29. Mai bis zum 1. Juni 2008 in Hannover stattfand. Aus dem unmittelbaren Freundeskreis von REFLEX war die Idee entsprungen, ein philosophisches Festival auch in Hannover zu organisieren wie in der italienischen Stadt Modena.
Auf dem über Jahre vorbereiteten Boden einer bekannten urbanen Philosophie durch REFLEX wurde die Veranstaltung ein grandioser Erfolg. Durchaus mit Skepsis hatten wir das Thema gewählt: „Die Seele: Metapher oder Wirklichkeit?“ Sollte sich die Philosophie wieder einmal erweisen als Versuch längst Antiquiertes zum Leben erwecken zu wollen! Es geistern ja genug Vorurteile herum. Der Flyer zur Veranstaltung umschrieb fragend das heikle Thema:.
„Der Schwerpunkt des ebenso umfangreichen wie vielfältigen Programms ist dem Thema „Seele“ gewidmet. Was verbinden wir damit? Sehnsucht nach etwas Vergangenem? Hoffnung, daß etwas Verlorenes wiederkehrt? Die Seele ist etws allgegenwärtiges. Sie wohnt uns inne, umgibt uns und läßt uns nicht los. Das Festival wird die Philosophie aus ihrem akademischem Raum in den städtischen Raum, die Öffentlichkeit und damit zum Bürger tragen. Die Philosophen werden unter die Bürger gehen, um die Gesellschaft mit Ideen in Bewegung zu setzen und sich sogleich von den Beiträgen der Bürger zu neuen Ideen anregen zu lassen.“
Tatsächlich ging unsere Rechnung auf. Das Thema wurde angenommen. Auf der Eröffnungsveranstaltung im riesigen Foyer des Rathauses waren 700 Personen. Prof. Nida-Rümelin, der den Eröffnungsvortrag hielt, wird sich an die Drängelei in der riesigen Halle noch gut erinnern können. In einer Flut von verschiedensten Veranstaltungen, von rein wissenschftlichen bis zu kulinarischen, ernsteren und weniger ernsten wurde die Veranstaltung ein Riesenerfolg. Die Gremien der Stadt haben bereits beschlossen, daß ein weiteres philosophisches Festival stattfinden soll.
Die zweite Initiative, die hervorzuheben ist, ist der Leibniz-Tag. Im Jahre 2006 entsprang in einem Gespräch bei REFLEX die Idee, einen Leibniz- Tag in Hannover ins Leben zu rufen. Die Idee stieß bei einigen Direktoren von städtischen und Landeseinrichtungen auf positive Resonanz. Der Leibniz-Tag war geboren. Seither wird er von REFLEX organisiert und findet unter der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters Stephan Weil statt. Es ist allen, die sich für das Image der Stadt einsetzen klar: Leibniz ehren heißt, das Profil Hannovers schärfen. Beste qualifizierte Werbung.
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Die ganzen Jahre hindurch hatten wir exzellente Leibniz-Kenner als Festredner: Prof. Dr. Schmidt-Biggemann, Prof. Dr. Hans Poser, beide Berlin, in diesem Jahr Prof. Dr. Thomas Leinkauf, Universität Münster. Das Motto des diesjährigen Leibniz-Tages lautete: „Die universale Harmonie. Leibniz ́ optimistische Weltsicht“.
Der Leibniz-Tag war immer auf die Jugend ausgerichtet. Dieses Jahr durch ein Preisausschreiben. Die besten Einsendungen von Schülergruppen zur Frage „Wie ist es bei allem Elend zu verstehen, daß Leibniz die bestehende Welt für „die beste aller möglichen“ hält, sollten prämiiert werden.
Die Zahl der Antworten – 70 – übertraf unsere Erwartungen. Die Prämie für die besten drei ist eine Wochenendreise nach Leipzig, der Geburtstadt von Leibniz.
Ebenfalls war jeder Leibniz-Tag eine musikalische Attraktion durch die Barockmusik, die von der Hannoveraner Hochschule für Musik und Theater dargeboten wurde. Besonders hervorzuheben ist in diesem Jahr, daß die Hannoversche Allgemeine Zeitung als Kooperationspartner gewonnen werden konnte. Mehrere Artikel und Aufrufe sind bereits im Vorfeld in der Hannoverschan Allgemeinen erschienen. Erst mit dieser starken Präsenz in der lokalen Presse hat der Leibniz-Tag die öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, die ihn zu einem städtischen Ereignis macht. REFLEX hat durch die Gründung und mehrjährige Ausrichtung dieses Feiertags nun fast den Status einer städtischen Einrichtung erworben, ohne eine zu sein.
Die dritte und letzte Initiative, die ich vorstellen möchte, ist das Projekt „Die Einheit der Wissenschaften“ im Blick auf den Bologna-Prozeß. Ein Symposium im November vergangenen Jahres war die erste Etappe zu seiner Realisierung. Es wurde von der Volkswagenstiftung gefördert. Ausgangspunkt des ganzen Unternehmens war die Frage nach der gegenwärtigen Gültigkeit der These, die von Aristoteles stammt, daß
die Philosophie nicht eine neben anderen Wissenschaften ist, sondern die Grundwissenschaft für alle. Methodisch sollte dies nicht von den Philosophen in traditioneller Manier argumentativ behauptet werden, sondern es sollte von Vertrerern anderer Disziplinen eingebracht werden, welche Rolle die Philosophie gegenwärtig in ihren Fächern spielt und ob die Philosophie nach wie vor die Disziplin ist, in welcher die Reflexion auf die Einheit der Wissenschaften ihren legitimen Ort besitzt. Das Symposium war ein großer Erfolg.
Wir befinden uns jetzt in der zweiten Etappe des Projekts. In einer von der Mercator-Stiftung und der Volkswagenstiftung neu aufgelegten Förderinitiative „Bologna – Zukunft der Lehre“ könnte daraus ein
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philosophisches Zentrum für Lehr- und Lernforschung sowie Curriculumforschung“ hervorgehen. Mehr möchte ich dazu nicht darstellen. Es würde den hier gesetzten Rahmen sprengen.
Daß sich REFLEX dieser Thematik mit höchster bildungspolitischer Brisanz angenommen hat, können Sie als Zeichen dafür werten, daß außeruniversitäre Philosophie ihren Bestand nicht durch Abgrenzung von der Universität hat.
Ich komme zum Schluß.
Was, meine Damen und Herren, habe ich beabsichtigt mit dem Bericht über REFLEX? Ich habe geworben dafür, daß wir mit der Philosophie nicht nur in der Universität bleiben. Dort soll sie weiterhin qualifizierte Forschung und Lehre betreiben. Ich habe geworben dafür, philosophische Zentren außerhalb der Hochschulen in den Städten zu errichten. Die Philosophie muß wieder auf den Marktplatz. Sie ist nicht nur Theorie, um Theorie zu machen, sondern Theorie zur Gestaltung des Lebens. Die Philosophie muß sich der Lebenswelt aussetzen, hier hat sie sich den lebendigen Fragen zu stellen, nicht nur denen der Textinterpretation im Seminar, wohl wissend, das Texte und das Wissen über Texte sehr nützlich sind; anders: daß es ohne sie gar nicht geht.
Es geht um die Errichtung von urbanen philosophischen Zentren, wofür REFLEX ein Pilotprojekt ist. Wir sollten organisatorische und institutionelle Konsequenzen ziehen aus dem lebensweltlichen Ansatz der Philosophie. Die Philosophie ginge damit programmatisch über den bisherigen Rahmen von Forschung und Bildung hinaus. Sicherlich ist in diesem Zusammenhang auch viel Diskussion, viel Selbstkritik unter den Philosophen nötig, aber wo geht es vorwärts ohne Diskussion und Selbstkritik? Es geht schlicht darum, das große Erbe, das wir Philosophen übernommen haben in einer sehr kritisch zu beurteilenden Gegenwart lebendig zu machen, so daß es der Gesellschaft dient.
Das im vergangenen November durchgeführte Symposium, von dem ich sprach, hat mich darin belehrt, daß dies von den Philosophen erwartet wird. Wenn die Philosophie nur ihre Geschichte verwaltet, verkennt sie ihre eigene gesellschaftliche Bedeutung.
Die Philosophie darf sich nicht von der Lebenswelt entfernen, so daß sie anstatt zum Konkreten zu kommen sich in die Weiten der Generalisierungen verliert: sei dies der Wille zur Macht, das Sein und das Seinsgeschick, sei es die Kritik, die nur noch die Revolution als Konsequenz sehen kann oder sei es die Verzweiflung, die nach Auschwitz kein Gedicht mehr gelten lassen will.
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Wir müssen raus aus den Abstraktionen hin zum Konkreten der Lebenswelt. Dort verlieren wir uns nicht, dort gewinnen wir uns, denn dort ist die Wirklichkeit, um deren Bewältigung es geht.
Ich bin überzeugt davon, daß ein Aufbruch in der Philosophie erforderlich und an der Zeit ist. Solange die Philosophie ihren Ort an der Universität hat, wird sie theorielastig sein, mit der Tendenz zur Lebensferne. Sie muß sich einen Ort außerhalb der Universität schaffen. Sie muß sokratisch werden.
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