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Die Philosophie der Gabe. Gaben ohne Gegengabe?

Dr. Gerhard Stamer

Vortrag auf dem Symposium Konzepte der Gabe in der Gegenwartskunst

vom 10.  bis 13. Juni 2010 im ZIF Bielefeld

Veranstalter: FH Bielefeld und Hochschule für Kunst und Design Halle/Saale

Meine Damen und Herren,

zunächst möchte ich mich für die Einladung bedanken, auf diesem exzellenten Symposium aus dem Blickwinkel der Philosophie einen einleitenden Vortrag halten zu können. Ich weiß nicht, ob meine Ausführungen unmittelbar die Intention des Symposiums treffen. „Die Veranstaltung möchte Konzepte der Gabe und des Gabentauschs für den kunsttheoretischen Diskurs der Gegenwart erschließen.“ So heißt es im Programm. Ich werde versuchen,  die thematische Breite, in welcher dieser Diskurs geführt wird darzustellen, und besonders den zeitgeschichtlichen Hintergrund, aus dem sie ihre aktuelle Brisanz bezieht.

1.

Vielfalt des sprachlichen Gebrauchs

Das Verb Geben, von dem das Substantiv die Gabe abgeleitet ist, ist zunächst ein einfaches Wort wie viele andere des Alltags, wie z.B. tragen, arbeiten, handeln, sprechen, sich treffen, sich unterhalten, planen, verbinden, besuchen usw. Sie brauchen nur daran denken, wie oft sie das Wort gebrauchen , ohne ihm eine besondere Bedeutung beizulegen.Geben scheint auch ein Wort zu sein, daß nicht nur für einen ganz spezifischen Sachverhalt, für eine bestimmte Tätigkeit gebraucht wird, sondern ein relativ breites Bedeutungssprektrum besitzt, wenn man an die Redewendungen denkt, in denen es vorkommt. Beispiele ließen sich en masse anführen:

Wir geben jemandem die Hand; das haben wir heute  morgen wahrscheinlich schon einige Male getan. Gerade eben hatte man mir ein Zeichen gegeben, daß ich jetzt anfangen soll. Die Veranstalter hatten en wir auch einen Ratschlag gegeben, worüber ich reden soll, damit es keine Überschneidungen gibt.

So fließt unentwegt der Gebrauch des Wortes geben in unser Sprechen ein, ohne daß wir darauf achten oder uns dessen bewußt sind. Ein Befehl wird gegeben. Man gibt jemandem sein Wort. Ein Kuß wird gegeben.Die Brust wird gegeben. Ein Korb beim Tanzen oder sogar der Laufpaß. Und so weiter. Dabei habe ich nicht die Fülle an Bedeutungen angesprochen, in denen geben in Verbindungen mit Vorsilben steht. Nur kurz einige Beispiele:

Jemand gibt denTon an.. Das ist dann meistens ein Angeber.

Eine Sendung wird übergeben.Nicht zu verwechseln damit, daß man sich manchmal übergeben muß.

Eintrittskarten für eine Veranstaltung sind bereits vergeben.  Einem Beschuldigten wird unter Umständen auch vergeben. Alle Mühe war bereits vergeblich. Ein Brief wurde aufgegeben, ein Plan auch, was aber doch etwas anderes bedeutet. So läßt sich mit der Doppel- und Vieldeutigkeit dieser Ableitungen des Wortes Geben lange spielen. Dazu haben wir jetzt keine Zeit.

Wenn das Thema nicht zu wörtlich genommen wird,  wäre auch das Schenken als eine Art und Weise des Gebens  einzubeziehen. Dann aber gehörte auch eine in den letzten Jahrzehnten mit der Entwicklung der Technik verbundene Form der Gabe zum    Umkreis des hier Angesprochenen, nämlich die Organspende.

Auf einen Gebrauch des unverdächtigen Verbs Geben möchte ich Sie aber noch aufmerksam machen. Wie gesagt, es gibt viele Anwendungen davon. Ist Ihnen aufgefallen, daß ich auch eben eine Form unseres Wortes Geben gebraucht habe? Ich habe gesegt: Es gibt. „Es gibt“ in der dritten Person Einzahl kommt in unserem Reden fast so oft vor wie das „Ist“ ebenfalls in der dritten Person Singular. Was es alles gibt! Das ist nahezu unbegrenzt und fließt in unser Reden ein wie das Konstatieren des Selbstverständlichsten. Im Französichen fällt andauernd für es gibt die allgemeinste und beiläufigste Floskel il y a, im Spanischen hay. Daß es etwas gibt, ist ja  auch das Selbstverständlichste.  All das Seiende um uns herum gibt es. Wir sind gewissermaßen umgeben, umstellt von dem, was es gibt.  Gibt es überhaupt etwas, das es nicht gibt? Eine bedenkenswerte Frage. Der Philosoph Schelling hatte deshalb zu Recht tiefsinnig gefragt, warum es denn überhaupt etwas gibt und nicht nichts. 

Plötzlich sind wir von dem alltäglichsten Gebrauch des unverfänglichen Wortes Geben in geheimnisvolle philosophische Tiefen  geraten. Wofür steht das Wort geben? Nur dafür, daß ich Dir oder Ihnen etwas gebe, das dann Du bzw. Sie nehmen, entgegennehmen? Mir liegt nichts daran, die Bedeutung dieses Wortes zu verrätseln. Ich möchte es auch nicht mit sophistischen Argumenten auf irgendeinen Hintersinn zurückführen. Meine Absicht ist es allein, die Bedeutungsvielfalt, das ganze Spektrum seiner Bedeutung zu umreißen. Geben, es gibt, hat offensichtlich keine einfache Bedeutung wie ein Puzzleteilchen, das an eine Stelle paßt, sondern ist ein schillerndes Phänomen in der Ganzheit einer lebendigen Sprache, die  wir alle zusammen unentwegt in Fluß halten.

 2.

Die Gabe als Kategorie des Handelns

Als sprachliches Phänomen können wir Geben wie jedes andere Verb konjugieren, in Verbindung mit Substantiven bilden wir Sätze, und wir können es – wie bereits geschehen – mit Vorsilben versehen. Zugleich aber erkennen wir, wenn wir auf die Situationen achten, in denen es vorkommt, denen es Sinn verleiht – ich könnte auch gibt sagen -, daß es Funktionen ausübt im Umgang unter uns.  Es ist kein Vorkommnis auf einer isolierten Sprachebene zum Zwecke  der reinen Verständigung, sondern ist eingebettet in Handlungsabläufe, in denen es einen ganz praktischen Sinn hat. Es gibt  – Sie bemerken, daß ich auch hier wieder von dem Verb Geben Gebrauch mache – Handlungen, in denen es eine praktische Bedeutung besitzt, wie wenn ein Gärtner seinem Kollegen zuruft: Gib mir mal die Harke! Oder ein Koch: Gib mir doch mal die Schöpfkelle! Worte sind gewissermaßen Fäden und Knoten in unserem kommunikativen, sozialem Beziehungsgefüge. In ihnen drücken sich auch unsere vielfältigen Bezüge und Bezugsformen aus. Sie machen auch deutlich, wie komplex der Zusammenhang unserer  Verhältnisse und unserer Kommunikation ist, wie bewegt unsere Lebenswelt ist. Deshalb liegt es mir nun fern, den Begriff Geben auf eine einzige Bedeutung hin zu reduzieren. Die Wahrheit des Begriffs Geben liegt nicht in der Zuspitzung auf eine ausgezeichnete oder absolute Bedeutung, sondern in der Vielfalt seiner Verwendungen. Das macht deutlich, in welcher Weise ich an mein Thema herangehen werde. Es markiert auch eine kritische Einstellung zu den Versuchen, das Wort Geben eng auf eine Bedeutung hin festzulegen, auf die eine oder andere Weise eindeutig zu identifizieren.

3.

Marcell Mauss

Dies drücke ich insbesondere in Bezug auf eine Debatte aus, die in Frankreich schon seit langer Zeit sehr intensiv geführt wird. In dieser interdisziplinären Debatte, in die sozialwissenschaftliche, ethnologische, philosophische, theologische und ästhetische Aspekte eingegangen sind, hat das Geben als besondere Kategorie geradezu eine paradigmatische Bedeutung erlangt. Den Referenzpunkt und Ausgangspunkt für nahezu alle Experten, die an dieser Diskussion teilnahmen, stellt das 1924/25 erstmalig erschienene Werk des französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss dar: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übrigens in der 2. Auflage 1994 auf Deutsch erschienen. Das Werk ist Teil einer umfangreichen Untersuchung, die Mauss über den „Bereich des Vertragsrechts“ und das „System der wirtschaftlichen Leistungen“ zwischen den Gruppierungen sogenannter primitiver bzw. archaischer Gesellschaften anstellte, vor allem in Polynesien, Melanesien und Nordwestafrika. Der Potlatch der frühen Völker an der amerikanischen Nordwestküste ist das bekannteste System des Gabentauschs.Mauss stellte einen „großen Komplex außerordentlich vielschichtiger Tatsachen“ fest. „Alles, was das eigentliche soziale Leben der Gesellschaften ausmacht, die den unseren vorausgegangen sind – … –  ist darin verwoben. In diesen …sozialen Phänomenen kommen alle Arten der Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck: religiöse, rechtliche und moralische – Politik und Familie fallen hier zusammen.“ Die Ästhetik spielt natürlich auch eine Rolle. Mauss spricht in Bezug auf diese sozialen Phänomene von dem „System der totalen Leistungen“.

Er hatte erkannt, daß das Geschenk, die Gabe in diesen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielt. Seine Ausgangsfrage lautet: „Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, daß in den rückständigen oder archaischen Geselslchaften das empfangene Geschenk obligatorisch erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewikt, daß der Empfänger sie erwidert?“ Mauss stellte bei seinen Forschungen fest, daß sich alles – „Clans, Heiraten, Initiationen, schamanische Sitzungen und die Kulte der großen Götter, der Totems und der kollektiven oder individuellen Vorfahren“ – sich zu „einem  unentwirrbaren Netz von Riten, rechtlichen und  wirtschaftlichenLeistungen“ verknüpft, „wodurch die politischen Ränge innerhalb der Männerbünde, des Stammes oder der Stammeskonföde-rationen,…bestimmt werden.“ Er führte weiter aus: „Bemerkenswert bei diesen Stämmen ist jedoch das Prinzip der Rivalität und des Antagonismus, das all diese Praktiken beherrscht. Man geht bis zum offenen Kampf, bis zur Tötung der Häuptlinge und Adligen, die sich so gegenübertreten. Und andererseits geht man bis zur rein verschwenderischen Zerstörung der angehäuften Reichtümer, um dem rivalisierenden Häuptling, der zugleich ein Verwandter (…) sein kann, den Rang abzulaufen. Totale Leistung liegt in dem Sinne vor, daß wirklich der ganze Clan durch die Vermittlung seines Häuptlings“ symbolisch einsteht für alle seine Mitglieder, mit allem, was er besitzt, und für alles, was er tut. Mauss stellte einen engen Zusammenhang von Pflichten fest: Die Pflicht zu geben, die Pflicht, Geschenke anzunehmen und die Pflicht Geschenke zu erwidern. Der entscheidende Punkt bei all diesen Transaktion, die unentwegt vor sich gehen, besteht darin, daß es sich hier um eine „Verquickung von geistigen Bindungen handelt…“ Alle diese Vorgänge brächten nur ein soziales System und eine bestimmte Mentalität hervor und reproduzierten es, „als gäbe es einen immerwährenden Austausch einer Sachen und Menschen  umfassenden geistigen Materie…“ S. 29

Die an einer theologischen  Habilitation in Frankfurt am Main arbeitende Veronika Hoffmann faßt die Schrift von Mauss folgendermaßen zusammen:

„Die Gabe umfasst und integriert alle Dimensionen des sozialen Lebens und alle Institutionen: Religion, Recht, Ökonomie, Verwandtschaft etc., und spielt eine entscheidende Rolle für die Idetntität und das Funktionieren des Gemeinschaftswesens.

Ihre enorme Bedeutung erlangt Mauss´ Studie aber nicht zuletzt daher, dass er von diesen ethnologisch orientierten Beobachtungen aus und über sie hinaus zu der Auffassung gelangt, dass es sich bei der Gabe um ein universelles Phänomen handle: Wenn sie auch in modernen Gesellschaften nicht mehr dieselbe öffentliche Rolle spiele wie in traditionellen, so lebe sie doch in weniger sichtbaren, aber für das Zusammenleben dennoch bedeutsamen Formen fort.“

4.

Der Gegenwartsbezug der Debatte 

Durch diesen Bezug auf die Gegenwart erhält die Debatte über die Gabe ihre Brisanz. Es geht dabei um fundamentale Fragen des Aufbaus der Gesellschaft überhaupt, aber auch um mögliche Ansätze für eine Gesellschaftskritik. Unausgesprochen – aber doch unverkennbar  – scheinen Varianten der Kritik an der bestehenden Gesellschaft durchgespielt zu werden. Kaum eine andere wissenschaftliche Debatte ist geeigneter, um darzustellen, wie die Einstellung zur Gegenwart die Interpretation historischer Vorkommnisse bestimmt. Dreh- und Angelpunkt ist in der Debatte das Verhältnis der Gabe zum Tausch.

Seit Karl Marx in seinem epochalen Werk „Das Kapital“ den Tauschwert als elementare Kategorie der kapitalistischen Wirtschaftsordnung herausstellte, avancierte der Tausch zu einem zentralen Prinzip der soziologischen Diskussion.

Marx hatte den Tauschwert dem Gebrauchswert gegenübergestellt. Die Gebrauchswerte würden gemäß seiner Analyse in der modernen Gesellschaft, die er die bürgerliche oder den Kapitalismus nannte, zu Erscheinungsformen des Tauschwertes, in dem alles zur Quantität geriet, ausgedrückt in Geld und dem jeweils entsprechenden Preis. Der Tauschwert bestimmte sich nach Marx nicht durch den Gebrauchswert, sondern durch die „gesellschaftlich notwendige Arbeit“, die nötig war, um eine Ware zu produzieren, die also auf die Weise in seine Herstellung einging. Das heißt, über die Sphäre unseres direkten Gebrauchs der Dinge legte sich eine Gallerte von Werten, die alles in eine umrechenbare geldwerthafte Quantität verwandelte, die den Tausch von allem mit allem auf der Basis des Preises möglich machte. Diese ökonomische Sphäre, die sich durch die Produktion, den Tausch auf dem Markt und der Konsumtion durch die Konsumenten herausgebildet hat, mitsamt dem Verhältnis zwischen den Produzenten der Waren und den Unternehmern als den Besitzern der Produktionsmittel, die die Produzenten anstellten, bildete in dieser Analyse einen  durchgehend geschlossenen Zusammenhang, der zudem auf einem fundamentalen ungerechten Tausch basierte. Im Austausch zwischen Kapital und Arbeit bliebe der Mehrwert, der sich in der Produktion bildete, stets auf Seiten des Kapitals, was Marx dazu führte, seine politökonomischen Analyse zu der bekannten Revolutionstheorie zuzuspitzen.

Die Frage stellt sich natürlich, ob der ökonomische Zusammenhang die Wirklichkeit der Welt darstellt. Ist der Zusammenhang, den der Kapitalismus bildet, die wahre, geschlossene Struktur der gesellschaftlichen Beziehungen? Anders: Sind alle Verhältnisse unter den Menschen der Ökonomie unterworfen? Welche gibt es sonst noch? Welche Relevanz besitzen diese?

Dies ist genau der Punkt auf den Mauss´ Untersuchungen hinauslaufen. Gibt es nicht außer den ökonomisierten Beziehungen unter den Menschen noch andere wie in den frühen anarchischen Gesellschaften? Und bilden diese nicht einen Untergrund auf dem alle Ökonomie aufliegt? Oder anders: Sollten oder könnten wir nicht zurückkehren zu gesellschaftlichen Verhältnissen, die nicht über den Markt und die Ökonomie verlaufen? Eben durch das Geben und Nehmen, durch das Schenken, durch das Vergeben und so weiter, also durch konkreten Bezug von Mensch zu Mensch? Wobei natürlich sofort die weitere Frage aufzuwerfen ist, ob das denn überhaupt möglich wäre, ob die entwickelte, ausgeweitete, globale  Gesellschaft überhaupt auf abstrakte Vermittlungsformen wie die Ökonomie verzichten könnte.

Gewissermaßen vor dieser zumeist unausgesprochenen – oder sogar manchmal gar nicht gesehehenen Folie, wie ich den eindruck habe – spielt sich die Debatte über die Gabe ab. Mauss selbst tastet sich mit seinen Untersuchungen archaischer Gesellschaftsformen an eine Konzeption zum Verständnis der Gegenwartsgesellschaft heran. Daß diese Intention von ihm gerade in den vergangenen 20 Jahren eine enorme Konjunktur bekam, spricht dafür, daß angesichts der Globalisierung der Welt und der „neuen Unübersichtlichkeit“, von der Jürgen Habermas spricht, neue Gedanken an der Zeit zu sein scheinen. Zum Beispiel: Spielt nicht die Gabe, wie sie von Künstlern durch ihre Werke der Gesellschaft gegeben wird oder in der Liebe und der Freundschaft von Mensch zu Mensch, möglicherweise eine fundamentalere Rolle als bisher unter ökonomischen Gesichtspunkten eingeschätzt wurde, bzw. als sich unter ökonomischen Bedingungen hat entfalten können? So sind plötzlich viele Fragen mit einem Male aufgeworfen und eine Diskussion gerät in Bewegung.

Ich möchter Ihnen jetzt eine Reihe von Veröffentlichungen namhafter Experten der Thematik im kurzen Überblick vorstellen.

5.

Der Soziologe Alain Callé, vertritt in seiner im Jahre 2000 erschienenen Schrift „Anthropologie der Gabe“ die Position, daß die Rolle der Gabe in der modernen Ökologie nicht verschwunden sei, sondern in den menschlichen Primär-beziehungen fortlebe. Die moderne Gesellschaft bestehe vorrangig weder aus den Makrostrukturen von Ökonomie und Politik, sondern beruhe auf den Gabeprozessen. In den Worten der bereits zitierten Veronika Hoffmann: „Im Zirkulieren von Dingen, Personen und Ereignissen wird (nach Caillé) soziale Ordnung aufgebaut und erhalten.“  Im Resumee des von Caillé zitierten Buchs heißt es:

„Eines erscheint uns…sicher: Die heutige Welt wird dem endgültigen Chaos nur entgehen klönnen, wenn sie angesichts der durchdringenden Macht der universellen Warenwelt weiterhin auf staatliche Regulierungen zurückgreifen, und wenn sie zugleich dem Markt und den Staaten eine internationale, für eine globale Demokratie kämpfende Zivilgesellschaft gegenüberstellen kann. Gabe und Demokratie würden durch ein neues Verhältnis zueinander gewinnen. Ist die Globalisierung des Geistes der Gabe und der Demokratie denkbar und möglich? Wie kann man dazu beitragen? Das sind die wesentlichen und konkreten Herausforderungen für eine Anthropolgie der Gabe.“ (S. 212)

Hier wird also in einer Beziehung auf Mauss und der Kategorie der Gabe eine Zivilgesellschaft gedacht, also ein Verhältnis der Menschen untereinander, daß in erster Linie weder vom Ökonomischen noch vom Politisachen bestimmt wird, sondern auf direkten menschlichen Bezügen, Bezügen des direkten Umgangs, basiert.

6.

Marcell Hénaff schlägt mit seinem Buch „Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie“, 2002 auf Französisch erschienen,  in dieselbe Kerbe. Hénaff geht auf Platons ablehnende Haltung zum Geld zurück und auf später in der Geschichte auftetende ähnliche Einstellungen und fragt: Woher kommt die Verurteilung des Geldes?

„Man nimmt an, daß die Tätigkeiten und Hervorbringungen des Geistes zu einem anderen Typus des Austauschs als der Markt gehören; sie unterstehen dem sogenannten symbolischen Austausch, der nicht – wie die Anthropologie uns lehrt – danach trachtet, Güter zu erwerben oder anzuhäufen, sondern mit ihrer Hilfe zwischen Personen und Gruppen Bande der Anerkennung zu knüpfen. Kurz, es handelt sich um Beziehung von Gabe und Gegengabe.

Die Entlohnung des Schriftstellers, des Künstlers oder des Wissenschaftlers wurde lange als dieser Beziehung zugehörig verstanden; darin unterschied sie sich zutiefst von den anderen Formen der Bezahlung. Lange wurde ihr ausschließlich der Terminus Honorar vorbehalten; der so erworbene Reichtum fiel in den Bereich der dem Talent geschuldeten Entschädigung, wie das Geschenk, mit dem ein erhaltenes Geschenk erwidert wird. Diese ganze Problematik der Gabe, der seit dem berühmten Essay von Marcel Mauss die aufmerksamkeit der Anthropologie galt, ermöglicht es, diese Geschichte zu erhellen. Die bei besonderen Gelegenheiten (Festen, Begegnungen, Hochzeiten) ausgetauschten Güter haben keinerlei ökonomische Bedeutung und spielen auch keine ökonomische Rolle; sie sind dazu bestimmt, einander anzuerkennen, zu ehren, zu verbinden; sie werden während der Feier verzehrt oder gehen wieder in den Kreislauf der Gaben ein. Sie bekunden Großzügigkeit, Wohlwollen, verleihen Ansehen und gewährleisten Beziehungen, können jedoch nicht in eigennüttziger Weise behalten oder investiert werden, ohne daß die Anerkennung zerbricht. Sie befinden sich strikt außerhalb der Kreislaufs des Nützlichen und Profitablen.“ S. 36

Maurice Godelier, auf den ich auch noch später eingehen werde, fragt in seinem beachtenswerten Werk „Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte“, München 1999: „“Welcher Platz bleibt in unseren westlichen Gesellschaften für die Gabe?“ (S. 291) Godelier rekapituliert die Rolle, die die Gabe in der gegenwärtigen Gesellschaft spielt und knüpft, die gegenwärtige Konstellation der Thematik charakterisierend, an Mauss an:

„Mauss träumte von einer Welt, in der die Wohlhabenden großzügig und der Staat entschlossen um die konstruktion einer gerechten Gesellschaft bemüht wären. Er bekämpfte zei Gegner, den Bolschewismus und den ungebremsten Liberalismus.

Heute stehen wir nicht mehr an diesem Punkt. Der Bolschewismus, der den Sozialismus nach russischem und chinesischem Muster und die <Volksdemokratien> hervorgebracht hatte, ist zusammengebrochen. Es sieht indessen so aus, als habe er zwei Ideen mit in sein Grab gezogen, die er verraten hatte, nachdem es einen kurzen Augenblick  den anschein gehabt hatte, als sei er ihr Träger: die Idee, daß die Demokratie wirklich von allen ausgeübt werden könnte, und die, daß sie sogar über den Rahmen des Politischen hinausgehen und in die Sphäre der Ökonomie eindringen könnte. Heute scheinen diese Ideen von der Erde wieder in den himmel der Utopien aufgestiegen zu sein, und der alte Mythos des wirtschaftsliberalismus, des Glaubens an die vorzüge des Marktes und der Konkurrenz als der einzigen Institutionen, die in der Lage seien, die wesentlichen Probleme der Gesellschaft zu regeln, ist wieder aufgetaucht.“ (S. 292/3)

7.

Konträr zu diesen Positionen in der Rezeption von Marcel Mauss stehen die Veröffentlichungen von Pierre Bourdieu und Jacques Derrida. Beide gehen davon aus, daß die Tauschbeziehungen einen gesellschaftlichen Zusammenhang bilden, der durch die Gabe nicht zu durchbrechen ist. Aber sie ziehen daraus grundverschiedene Konsequenzen.

Nach Pierre Bourdeau  (Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, 1998, Französische Erstausgabe:1994) ist unsere Gesellschaft vollkommen durch  den ökonomisch bestimmten Tausch geprägt. In Bourdieus absolut gewordener Kritik an der Gesellschaft haben Vorkommnisse der Gabe nur scheinbar einen alternativen Charakter zu dem ökonomischen Tauschprinzip. In Wahrheit handelt es sich bei ihnen um „Selbsttäuschungen“, um die gemeinsame Verschleierung der Tauschhandlungen durch die Gebenden und Nehmenden. „So können die Akteure nur deshalb als Täuschende – ihrer selbst und der anderen – und Getäuschte zugleich sein, weil sie sich von Kindesbeinen an in einem Universum bewegen, in dem der Gabentausch sozial in den Dispositionen und in den Glaubensvorstellungen angelegt ist…“ S. 141

Durch die Einschaltung eines Zeitintervalls zwischen Gabe und Gegengabe einerseits und andererseits dadurch, daß nicht das Gleiche zurückgegeben werde, sonst würde der Vorgang als einer des Leihens wahrgenommen werden, geschähe es, daß der Schein aufrechterhalten wird, es handle sich jedes Mal um eine reine erste Gabe. Bourdieu stellt die ganze Diskussion um die Gabe unter den Verdacht des Euphemismus, der Beschönigung der wirklichen Verhältnisse.

Sehr deutlich heißt es bei ihm: „Die Verneinung der Ökonomie vollzieht sich in einer Arbeit, die objektiv der Verklärung der ökonomischen Beziehungen und vor allem der Ausbeutungsbeziehungen (Mann / Frau, Erstgeborener / Nachgeborener, Herr / Knecht) usw.) dient, eine Verklärung durch Worte (…), aber auch durch Taten.“   S. 144

8.

Jacques Derridas Ausführungen zum Thema sind fraglos die spekulativsten, wenn man so will auch die spektakulärsten. In seiner dekonstruktivistischen Logik entfaltet er in dem Buch „Falschgeld. Zeit geben I“, München 1993 erschienen, eine paradoxe  Argumentation.  Zunächst konfrontiert er die Gabe mit dem Tausch, um sie aber sogleich in einen absoluten Gegensatz zum Tausch zu bringen. „Man kann nicht von der Gabe  handeln, ohne von diesem Bezug auf die Ökonomie oder das Geld zu handeln, das versteht sich von selbst. Aber ist die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auch gerade das, was dem Tausch nicht mehr stattgibt, weil es den ökonomischen Kalkül suspendíert?“ Die reine Gabe wird also in Abgrenzung zum Tausch begriffen. „Die Gabe darf nicht zirkulieren, sie darf nicht getauscht werden auf gar keinen Fall darf sie sich, als Gabe, verschleißen lassen im Prozeß des Tausches…Wenn die Kategorie des Kreises für die Ökonomie wesentlich ist, muß die Gabe anökonomisch bleiben….Und in diesem Sinne vielleicht ist die Gabe das Unmögliche.“ S. 16/17

Die Gabe wäre etwas, was im Bereich der Herrschaft des Tauschrinzips nicht vorkommen könnte. Aber das Tauschprinzip regiert die Welt. Daher ist die Gabe mit einem Wort das Unmögliche, oder anders ausgedrückt, es ist nur als das Transzendente zu denken, das Jenseits des Tauschprinzips vorgestellt werden könnte. Die Gabe, die sich auf die Welt einließe, wäre „eine Gabe der Berechnung und dem Mass, der Beherrschung und der Bemessung, der Obhut von Kontrolle und subjektivierender Wiederaneignung preisgeben. Die Gabe sollte, wenn es sie gibt, den Rand überborden, sicherlich in Richtung auf das Übermaß und die Maßlosigkeit;…“ S. 122

Im Anschluß an Heidegger denkt Derrida die Gabe als das Ereignis, das Außergewöhnliche, das, wenn es denn doch einmal auftreten sollte, in die Wirklichkeit hineinplatzen müßte, von Menschen nicht geplant und nicht beabsichtigt, vielleicht erlösend, aber jedenfalls wie das  Zeichen von einer anderen Welt. Mit folgenden Chiffren umreißt Derrida die Gabe:

„Die Gabe wie das Ereignis, als Ereignis, muß unvorhersehbar bleiben,… S. 160

„Die Gabe und das Ereignis gehorchen nichts anderem – außer Prinzipien von Unordnung, das heißt Prinzipien ohne Prinzip.“ S. 160

„Wenn sie rein und frei von möglicher Wiederaneignung bleibt (die Gabe), dann benennt die Überraschung jenen Augenblick von Wahnsinn, der die Zeit zerreißt und alle Berechnung abbrechen läßt.“ S. 189

Die ontologische Differenz, die für das Denken von Heidegger kennzeichnend ist, nimmt Derrida in seine Argumentation auf. Das Sein als der verborgene Grund alles Seienden, bei aller Unverborgenheit doch verborgen, bringt er strukturell mit der Gabe überein. „Es stellt sich heraus, (…) daß die Struktur dieser unmöglichen Gabe dieselbe ist wie die des Seins -…“ S. 41

„Und im Laufe dieser Bewegung (die ein Ereignis sein könnte) begibt es sich, daß das Sein, das nicht ist, das kein Präsentes oder Seiendes ist, sich ankündigt im Ausgang von der Gabe.“ S. 32

In eine literarische Form eingebunden, indem er eine Geschichte von Baudelaire aufgreift, die seinem Buch auch den Titel „Falschgeld“ gab, enden Derridas Reflexionen über die Gabe in kryptischen Sätzen, die moralische Katastrophe der Gegenwart zum Ausdruck bringend. Er spricht der Gabe als moralischer Qualität eine apokalyptische Struktur zu und läßt den Eindruck einer Endzeitstimmung an.

„Die Bindung der Moral… an die Ökonomie, an die Berechnungen der Vergnügungen erfüllt jedes Lob der guten Absichten mit Zweideutigkeit. Indem sie Gründe zum Geben gibt, indem sie die Vernunft der Gabe ausspricht, unterschreibt sie das Ende der Gabe. Sie drängt sie zu ihrem Ende hin und enthüllt sie in ihrer apokalyptischen Struktur selbst. Ihre Wahrheit enthüllt sich nicht nur als die Nicht-Wahrheit ihres Endes, als Ende der Gabe. Die Zeiten sind (nicht mehr) nahe, es gibt keine Zeit mehr.“  S. 190

Das unschuldige Geben erhält für meinen Geschmack in den Theorien von Derrida und Bourdieu eine Überhöhung, die der faktischen vielfältigen Bedeutung des Gebens nicht gerecht wird. Weder scheint mir das Geben oder die Gabe in der Absolutheit des Tauschs eliminiert zu werden, wie es bei Bourdieu der Fall ist, so daß alles Geben nur falsches Bewußtsein, nur Ideologie ist, noch kann ich dem Gedanken von Derrida folgen, daß das Geben oder die Gabe aus den inneren kommunikativen, sozialen Beziehungen durch das Tauschprinzip so vollkommen verdrängt wird, daß wenn es denn doch einmal erscheinen sollte, nur wie ein apokalyptischer Blitz aus der Transzendenz in unsere Welt einschlagen könnte.

Warum dieser Horror vor dem Tauschprinzip?

9. Adorno

Daß eine ganz andere Einstellung zum Tauschprinzip möglich ist, eine, die bei aller Kritik an der Totalität des Prinzips doch eine gewisse historische Unhintergehbarkeit und Moralität des Prinzips festhält, zeigen Sätze Adornos in seiner Negativen Dialektik (Frankfurt/ Main, 1966). Tausch selbst ist ja zunächst der Ausdruck für ein Äquivalent und damit ein Phänomen der Gerechtigkeit.

Die Ausbreitung des Tauschprinzips schmiedete zwar die ganze Welt zu einer Totalität zusammen, wie adorno schreibt. „Würde indessen das Prinzip abstrakt negiert; würde als Ideal verkündet, es solle zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für den Rückfall ins alte Unrecht….Annulierte man simpel die Maßkategorie der Vergeichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschrinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip…will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde.“ (S. 147/148, Negative Dialektik, Frankfurt 1966)

10.

Warum der Horror vor dem Tauschprinzip? Ich frage es noch einmal:

Ist die Gabe etwas Heiliges? Und die Ökonomie der Teufel? Auch wenn sie nicht verteufelt wird, ist nicht zu leugnen, wie wir es gerade heute in der Finanzkrise sehen, die eine Krise der Gesellschaft insgesamt heraufbeschwört, daß die Ökonomie folgenschwer die unmittelbaren menschlichen Beziehungen nicht nur überlagert, sondern in sie eingreift. Ohne Frage  verdecken die ökonomischen Zusammenhänge die anderen Bezüge, die Menschen miteinander verbinden. Aber sie derart einzuschätzen, daß nur noch ihre Zusammenhänge bestünden, würde  ihnen eine Macht zusprechen, die sie nicht besitzen. Verdecken ja, aber nicht vernichten! So könnte man ihr Verhältnis zu den verschiedensten menschlichen Bezügen angemessen beschreiben. Menschen wollen sich begegnen, sich treffen, wollen sich sehen, kennenlernen, miteinander umgehen – auch im Zeitalter der modernen Medien! – egal, ob durch den Sport, durch Kulturveranstaltungen, durch den Tourismus, durch Kneipen, Restaurants, Feiern und Festen, ja sogar durch die tägliche Arbeit und durch den Handel, schließlich sogar durch die Spiele im Internet. Und sind nicht vielleicht sogar die finanziellen Transaktionen Formen, in denen Menschen Beziehungen untereinander aufnehmen, in denen sie nach Anerkennung streben, nach öffentlichem Einfluß? Daß sie manchmal vielleicht überhaupt nur wahrgenommen werden wollen, so bedeutsam wie sie sich fühlen? Oder daß sie manchmal nur ihre Verzweiflung, ihren Haß und ihre Wut loswerden und mitteilen wollen? Das mag sogar bis zum Terrorakt gehen. Alles Aktivitäten, die zu schnell als Egotrips verstanden werden. Alles Aktivitäten, in denen Menschen nicht eine Nebensache darstellen, sondern in denen Menschen auf Menschen sich beziehen, selbst wenn es nur die anonyme Öffentlichkeit ist. Der im Internet angekündigte Suicid gehört auch dazu.

Es handelt sich um den Bereich der menschlichen Lebenswelt, der allem zugrunde liegt, auch den Systemen der Politik und der Ökonomie, auch der Wissenschaft und der Technik. Diese nähren sich von ihm. Sie beziehen von ihm ihre Energie.

Zwei Dimensionen sind es, die diesen Bereich unterhalb der genannten Systeme entscheidend konstituieren:

  • Erstens, die quasireligiöse der Gegebenheit. Hier handelt es sich um die Gabe, die nicht durch Menschen ist.
  • Zweitens, die der Natalität, von der Hannah Arendt spricht, in erster Linie die Moral, aber auch die Ästhetik. Hier handelt es sich um das, was durch Menschen möglich ist.

11.

Die Gegebenheit. Jean-Luc Marion, Kant, Husserl

In der gegenwärtigen französischen Debatte ist es der Philosoph Jean-Luc Marion ( Étant donné. Essai d´une phénoménologie de la donation, 2. Aufl., Paris 1998), der die Vorstellung der Gegebenheit am deutlichsten vertritt.  Für ihn haben die Phänomene der Welt zunächst nichts mit Geber und Empfänger zu tun, sondern sind sich selbst gebende Realitäten. Dies mag sich zunächst wie etwas anhören, daß mit der Thematik Gabe nichts zu tun hat, gewinnt aber, wenn man sich näher damit beschäftigt, zunehmen an Plausibilität.

Die Gegebenheit ist auch in der Philosophie der Moderne eine durchaus fundamentale Kategorie. Immanuel Kant beginnt seine Erkenntnistheorie damit, daß unserer sinnlichen Anschauung Gegenstände gegeben sind, die uns affizieren. Hier liegt die Vorstellung zugrunde, daß bei aller Leistung, die wir Menschen in der Erkenntnis vollbringen, doch die Welt mit ihren Gegenständen in Raum und Zeit als äußere, als gegebene da ist.

Edmund Husserl geht bei der Begründung seiner Methode der Phänomenologie, die besonders in der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts Bedeutung erlangte, von der Gegebenheit der Welt in der natürlichen, d.h. alltäglichen Erkenntnis aus.

„“Die gebende Anschauung der ersten, der >natürlichen< Erkenntissphäre und aller ihrer Wissenschaften ist die natürliche Erfahrung, und die originär gebende Erfahrung ist die Wahrnehmung. Ein Reales originär gegeben haben, es schlicht anschauend >gewahren<, und >wahrnehmen< ist einerlei.“ (S. 11)

Die Welt wird durch unsere Erkenntnis und all deren Veranstaltungen nicht gemacht, sie ist da. Sie ist gegeben. Auch wenn in der modernsten Philosophie – oft der englischsprachigen – viel von der Überwindung des Mythos der Gegebenheit ( Mc Dowell, Geist und Welt, Paderborn 1998) die Rede ist: Was immer auch darunter verstanden wird: Daß die Welt unserer eigenen Existenz und auch Erkenntnis zugrunde liegt, also gegeben ist, gehört zu unseren ersten Erkenntnissen, die wir begreifen.

12.

Die Gegebenheit im Neuen und Alten Testament

Die Gegebenheit ist aber nicht nur eine der Erkenntnistheorie der Philosophen zugrundeliegende Begrifflichkeit, sondern Ausdruck für das fundamentale Verständnis von Schöpfung, wovon das Alte Testament und das Neue Testament beredt Auskunft erteilen. Selbst in den zitierten äußerst sachbezogenen Theorien von Kant und Huseerl, in denen kein religiöser Ton mitschwingt, ist die Gegebenheit eine bedenkenswerte, die Stellung des Menschen in der Welt bestimmende Fundamentalerkenntnis. Mit anderen Worten: Das Religiöse besitzt eine philosophische Basisqualität. Es muß bei aller umwälzenden Aktivität der Menschen davon ausgegangen werden, daß die Welt ohne ihr Zutun da war, daß sie ihr Bestehen nicht der Tätigkeit der Menschen verdankt. Alle Aktivität der Menschen hat daran ihre Grenze: anlaß zu eienr grundsätzlichen Bescheidenheit des Menschen. Nicht daß er die Natugesetze machen würde, er kann sie nur erkennen und anwenden. Nicht daß er sich selbst machen würde. Es sind Naturprozesse, die er durch eigene Aktivität in Gang bringt. Warum es das gibt, was es gibt, diese Gegebenheit , die wir in unserem Leben gar nicht genügend wahrnehmen, sondern so leben, als würde das alles das Selbstverständlichste, was es auch ist, denn das selbstverständlichste, das Gegeben, ist das größte wunder. Auch die Evolutionstheorie mindert das Wunder nicht herab. Das alte Testament beginnt mit dem Schöpfungsbericht. Das Gegebene ist ein Geschaffenes. Es ist nicht einfach da.  Es ist auch nicht anonym entstanden, prozeßhaft wie etwas Chemisches, weder aus dem Chaos noch aus dem Nichts. Es ist gott zu verdanken. Auch wenn es von dieser personalen Größe nur heißt, er ist der er ist, so ist es doch ein Wesen, das mit einem Begriff zu belegen ist und zu sinnvollem Tun in der Lage ist.  Er also schuf am Anfang, wie es im rsten Satz des ersten Buch Mose heißt, Himmel und Erde und dann alles Übrige. Das Gegebene als ein Geschaffenes.

„Bis in die Philosophie Hegels hinein klingt der Gedanke, daß die Schöpfung der Welt, daß die Entäußerung Gottes in die Welt, daß diese Zweiteilung Gottes die Lösung aller Rätsel sei. Ich hatte bereits die frage Schellings zitiert, warum überhaupr etwaxs sei und nicht nichts.Das Gegeben als Gabe, in der sich das Gebende selbst gibt, wird in der bibel zu dem tiefsinnigen Gedanken, der zugleich Besinnung und andacht ist. Andacht ist immer das sich Hineinversetzen in die konzentrierte sich durch nichts ablenken lassende Bewußtheit des Seins, das gegeben ist. Später bei Jesaja (Jesaja 42.5) ist die Rede davon, daß „Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Odem gibt und den Geist denen, die auf ihr gehen:…“ Gott hat auch die Gesetze und Gebote gegeben.Schon Mose empfängt sie direkt von Gott. Es heißt dort: „…daß ich Dir gebe die steinernen Tafeln, Gesetz und Gebot, die ich geschrieben habe,…“(Mose24.12)

Überall sind die Stellen in der Bibel zu finden, in denen die Besinnung auf das Sein als Besinnung auf das Sein vorhandener Gegegebenheit stattfindet und nicht erst in einem Akt der sich auf  das Jenseits, die Transzendenz richtet.

Natürlich ist auch die Katastrophe, die das besondere Schicksal des Menschen, Adams und Evas besiegelt, eine Geschichte der Gabe. Eva gab Adam den Apfel vom Baum der Erkennntis.

Im Neuen Testament ist an den bedeutendsten Stellen von der Gabe die Rede.

„…des Menschen Sohn ist … gekommen, daß er…gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“ (Mat.20.28)

Wichtig das Liebesgebot, das Jesus gibt: „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr euch untereinander liebhabet.“ (Jo 13.34)

Und dann ist von einem Tröster die Rede, der doch einen anderen Aspekt der Erkenntnis anzusprechen scheint als den eben erwähnten der Verfluchung nach der Verspeisung des Apfels vom Baum der Erkenntnis:

Ein Tröster werde gegeben, „…daß er bei euch sei ewiglich: den Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht kann empfangen, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht.“ (Jo 14. 15/16/17) Bis jetzt haben wir Schwierigkeit, den Geist der Wahrheit, der der Geist selbst ist, diese wundersamste aller Gaben zu erkennen, da wir ihn nicht sinnlich wahrnehmen können.

Und auch der Kernpunkt allen Moralverständnisses scheint ausgedrückt im Brief des Paulus an die Korinther. Der Geist ist nichts, das jeder nur für sich selbst hätte, denn: „In einem jeglichen offenbaren sich die Gaben des Geistes zu gemeinem Nutzen.“ (Kor 12.7)

13.

Die Gabe als Vereinigung

Ich möchte nun noch zwei Beispiele  dafür anführen, wie in der christlichen Tradition die Gabe zu einer vertieften Form gedieh: Weder der Tausch, nicht das einseitige Geben, sondern die Gabe als Vereinigung. Ich zitiere Meister Eckehart, wie er das Verhältnis von Gott und Seele beschreibt:

„Als Gott alle Kreaturen erschaffen hatte, waren sie so geringwertig und eng, daß er sich in ihnen nicht regen konnte. Die Seele machte er sich so gleich und so ebenbildlich, auf daß er sich der Seele geben könne; denn was er ihr sonst gäbe, das achtet sie für nichts. Gott muß mir sich selbst so zu eigen geben, wie er sich selbst gehört, oder aber mir wird (überhaupt) nichts zuteil, und nichts sagt mir zu. Wer ihn so ganz empfangen soll, der muß sich selbst ganz aufgeben und sich seiner selbst ganz entäußert haben; so einer empfängt von Gott alles, was Gott hat,…“(Predigt 4, S. 171)

Die zweite Stelle stammt von Luther. Ich zitiere aus dem Buch „Der wunderbare Tausch, Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre“, München, 1986,  des Theologen Raymund Schwager. Er stellt dar, wie Luther den Tausch zwischen Christus und der Seele der gläubigen Menschen als einen „fröhlichen Wechsel und Streit“ versteht.

„Nicht allein gibt der Glaube so viel, daß die Seele dem göttlichen Wort gleich wird, aller Gnaden voll, frei und selig, sondern vereinigt auch die Seele mit Christo wie eine Braut mit ihrem Bräutigam; aus welcher Ehe folget, wie

St Paulus sagt, daß Christus und die Seele ein Leib werden; so werden auch beider Güter,…und alle Dinge gemeinsam, so dass was Christus hat, das ist eigen der gläubigen Seele; was die Seele hat, wird eigen Christi. So hat Christus alle Güter und Seligkeit: die sind der Seele eigen; so hat die Seele alle Untugend und Sünde auf sich: die werden Christi eigen. Hier erhebt sich nun der fröhliche Wechsel und Streit.“

Durch die Lehre vom fröhlichen Wechsel und Streit erklärt Luther, wie die Seele die wahre Gerechtigkeit erlangt. Ausschlagegebend seien nicht ihre eigenen Taten, sondern die Ehe mit Christus dank des Glaubens. Durch diese Ehe werden beide, Christus und die Seele ein Leib,…“ (S. 192/3)

Dieser gerechte Tausch, der eben mehr ist als ein Tausch, läßt die Partner nicht getrennt voneinander, sondern verbindet sie zuinnigst miteinander. Sie geben sich selbst, nicht irgendwelche Waren oder Gegenstände – und seien die noch so symbolisch aufgeladen – gegenseitig und ohne Gegenforderung. Es ist dies natürlich nur eine Umschreibung für die Liebe, die hier als die fundamentale Gabe gedacht  wird und zur Vereinigung führt, eben durch ein gegenseitiges Geben.

Wollte man diese beiden Weisen der Gabe präzise bezeichnen, dann handelt es sich bei beiden um Vereinigungen von Ich und Welt, sogar von Immanenz und Transzendenz, Einstellungen, in denen der Mensch sich mit der Welt, mit der Natur, mit dem Sein versöhnt. Es ist die Idee einer Versöhnung trotz allem, was an Unangenehmen  im Alltag, in der Politik geschieht. Daß diese Versöhnung auch zwischen Menschen möglich ist, kann als die bewundernswerteste aller Gaben bezeichnet werden. Und wird, wenn es sich ereignet, auch so empfunden.  Stellen wir uns die Verhältnisse, in denen wir leben, stellen wir uns die Politik und die Ökonomie ohne Liebe und Ffeundschaft zwischen den Menschen vor. Es wqäre nur eine Einöde, wenn auch so produktiv.

 

An dieser Stelle ist es angebracht noch einmal auf den französischen Autor Maurice Godelier hinzuweisen. Er beginnt in seinem Buch, indem er die ganze Geschichte des Diskurses  über die Gabe seit Mauss Revue passieren läßt, um schließlich in Ausführungen über das Heilige zu münden. „Was ist das Heilige?“ fragt er. Und er antwortet, es sei „ein bestimmter Typ von Beziehung der Menschen zum Ursprung der Dinge…“. (242) Natürlich – und es ist nicht verwunderlich – , wenn wir uns auf das Gegebene besinnen und einlassen, das den Ursprung von allem bildet, kommen wir zwangsläufig zu dem Ersten, zu dem Ursprung von allem: Und das ist die Frage nicht nur aller Religionen, sondern auch der Philosophie. In der Philosophie von Aristoteles ist die Metaphysik als die Wissenschaft der Wissenschaften die Disziplin, die die Frage nach den ersten Ursachen und Quellen behandelt.

14.

Gabe und Freiheit

Der erste Ansatz, das Thema in den Griff zu bekommen, bezog sich auf das Verhältnis von Gabe und Tausch. Es ging um die Frage, ob es unterhalb der ökonomischen Zusamenhänge überhaupt noch Beziehungen unter den Menschen gäbe, die rein als Gabe zu bezeichnen sind. Der zweite Ansatz entfaltete die Idee der Gegebenheit. Man konnte dabei den Eindruck gewinnen, die Gegebenheit würde gewissermaßen das Geben zu einer Angelegenheit machen, in der das Geben von Mensch zu Mensch keine Rolle mehr spielt. Dabei wäre dann der konkrete Sinn des Gebens in unserer aktiven Lebenswelt an eine abstrakte Vorgegebenheit verloren gegangen. Der dritte Ansatz wird nun beide früheren zusammenführen. Wir sind nur Gebende, weil uns gegeben ist. Die größte Gabe, die wir empfangen haben, ist nach dem Leben selbst die Freiheit, die auf unserem Verstand, unserer Vernunft, unserem Geist beruht.  Karl Jaspers hat das in seiner Einführung in der Philosophie am einfachsten ausgedrückt:

„Der Mensch, der sich wirklich seiner Freiheit bewußt wird, wird sich zugleich Gottes gewiß. Freiheit und Gott sind untrennbar. Warum?

Ich bin mir gewiß: in meiner Freiheit bin ich nicht durch mich selbst, sondern werde mir in mir geschenkt, denn ich kann mirausblkeiben und mein Freisein nicht erzwingen. Wo ich eigentlich ich selbst bin, bin ich gewiß, daß ich nicht durch mich selbst bin. Die höchste Freiheit weiß sich in der Freiheit von der Welt zugleich als tiefste Gebundenheit an Transzendenz.“( Einführung in die Philosophie, München 1953, S. 36) Auch wenn diese Gedanken im Gewande einer philosophischen Religiösität gesprochen sind, sie kommen ohne diese aus. Kant, dessen gesamte Philosophie auf die Begründung des Freiheitsbegriffs ohne Religion hinausläuft, kann Freiheit, deren Wirklichkeit als praktische Vernunft von ihm behauptet wird, nicht erklären. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten spricht er unverhohlen von der „Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären,…“ (Grundlegung zur Metaphysik der sitten, Wiesbaden 1956, S. 97) An anderer Stelle heißt es: „…wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, …“

Das heißt: Die Freiheit als die wichtigste Gabe der Menschen, die alle Menschen durch ihr Erkenntnisvermögen empfangen haben, ist  gerade das, wodurch sie in eminentem Sinne zum Geben befähigt sind. Die gesamte Moralphilosophie, die Praktische Vernunft Kants kann als Begründung einer Sphäre angesehen werden, in der sich eine  unökonomische Gabenkonzeption in radikaler Weise verwirklicht. Denken sie an den Kategorischen Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Ist die hier zum Ausdruck kommende Bezogenheit des individuellen Willens auf die Gemeinschaft nicht die höchste mögliche Form der Gabe? Die Quintessenz dieses Gedankens lautet: Moral ist Gabe. Wenn es keine Gabe gibt, gibt es keine Moral.

Noch deutlicher wird es, wo Kant seine Idee eines Reiches der Zwecke ausführt:

„…vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hierdurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze,…(ebenda, S. 66) Und er unterscheidet dann innerhalb des Reiches der Zwecke zwischen dem, was in den Bereich des Äquivalententauschs eingeht und was nicht.

„Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat,an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ (ebenda S. 8)

Alle moralischen Begriffe, sei es die biblische Feindesliebe; sei es die Natalität Hannah Arendts, daß mit dem Menschen das Prinzip des Anfangs in die Welt gekommen sei, das heißt, das das Unwahrschein-liche, absolut Neue sich ereignen könne (Vita activa, München 1967, S. 216/17); oder seien es die Gedanken von Paul Ricqueur über die Vergebung – eben auch eine Gabe -, alle moralischen Begriffe sind Hervorbringungen der Freiheit des Menschen, sie sind eben nicht einer Tauschform unterworfen. Wären sie es, würde dies das Ende der Moral und damit aucheiner menschlichen Gesellschaft sein. Das Thema der Gabe, meine Damen und Herren, ist das Thema um die Möglichkeit einer menschlichen Gesellschaft.

15.

Die Rolle der Ästhetik

Welche Rolle hierbei die Ästhetik spielt, die ich bewußt in meinem Vortrag ausgeklammert habe, weil das ganze Symposium sich damit beschäftigen wird, das läßt sich mit Kant zumindest auch andeuten, wenn auch hierüber großartige Werke aus den vergangenen Jahrzehnten bereits vorliegen wie „Gute Gaben Schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten“ von Jean Starobinski und „Die Gabe. Wie Kreativität die Welt bereichert“ von Lewis Hyde.

Kant unterscheidet das ästhetische Wohlgefallen, dem er das Prädikat schön zuteilt von dem Angenehmen, „was den Sinnen in der Empfindung gefällt“ und dem Guten, das er für die Moral in Anspruch nimmt. Währedn das Angenehme und das Gute mit einem Interesse verbunden ist, spricht er dem Ästhetischen  das berühmte „interesselose Wohlgefallen“ zu.  Er meint nicht, wie dieser Begriff so oft fehlinterpretiert wird, daß ich nicht auch die Neigung verspüren könnte, den für schön befundenen Gegenstand haben zu wollen, nein, er meint, daß ich ihn haben will und insofern an ihn interessiert bin, macht nicht seine ästhetische Qualität aus. Seine ästhetische Qualität besteht gerade in einem Betroffensein, in einem Verzaubertwerden, in einer Ergriffenheit, einer Entrücktheit, die nichts mit Habenwollen, Aneignung, Verzehr oder Geschäft zu tun hat. Es durchschlägt mit einem Male die ganze Dimension des Nutzens. Es erfüllt sich in dem Augenblick, in dem ich in ihn versinke – und die Welt vergesse – eine unglaubliche Gabe, Gabe dessen, der diesen Moment erfährt und Gabe dessen, der sie gestiftet hat.

  • „Der wunderbare Tausch, Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre“, München, 1986,  des Theologen Raymund Schwager.
  • 1924/25 erstmalig erschienene Werk des französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss dar: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übrigens in der 2. Auflage 1994 auf Deutsch erschienen.
  • Karl Marx in seinem epochalen Werk „Das Kapital“
  • Veronika Hoffmann
  • Marcell Hénaff schlägt mit seinem Buch „Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie“, 2002 auf Französisch
  • Maurice Godelier, auf den ich auch noch später eingehen werde, fragt in seinem beachtenswerten Werk „Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte“, München 1999
  • Pierre Bourdeau  (Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, 1998, Französische Erstausgabe:1994
  • Jacques Derridas Ausführungen zum Thema sind fraglos die spekulativsten, wenn man so will auch die spektakulärsten. In seiner dekonstruktivistischen Logik entfaltet er in dem Buch „Falschgeld. Zeit geben I“, München 1993
  • Adornos in seiner Negativen Dialektik (Frankfurt/ Main, 1966).
  • Philosoph Jean-Luc Marion ( Étant donné. Essai d´une phénoménologie de la donation, 2. Aufl., Paris 1998),
  • Immanuel Kant
  • Edmund Husserl Die Gegebenheit im Neuen und Alten Testament
  • Die Gegebenheit im Neuen und Alten Testament
  • Meister Eckehart
  • von Luther. Ich zitiere aus dem Buch „Der wunderbare Tausch, Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre“, München, 1986,  des Theologen Raymund Schwager
  • Jaspers  Einführung in die Philosophie, München 1953, S. 36,…“
  • Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Wiesbaden 1956, S. 97)
  • Hannah Arendt, Vita activa, München 1967, S. 216/17
  • Paul Ricqueur
  • „Gute Gaben Schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten“ von Jean Starobinski
  • „Die Gabe. Wie Kreativität die Welt bereichert“ von Lewis Hyde.

Täuschen und Betrügen – Philosophische Demokratiekritik

 

Vortrag am 10. November, Universität Bamberg

Dr. Gerhard Stamer

Meine Damen und Herren,

ich möchte heute nur drei Thesen aufstellen, mehr habe ich nicht vor. Sie werden sehen, das ist schon fast zu viel. Dabei werde ich auf die vielen anschaulichen Beispiele des Verführens, Täuschens und Betrügens gar nicht eingehen, die in den Medien zu hören, zu sehen und zu lesen sind. Dazu reicht die Zeit nicht. Ich gehe also von einem gut informierten Publikum aus, was das Tages­geschehen betrifft. Mein Thema ist ja auch die philosophische Demokratiekritik.

Im Verlaufe der Beschäftigung mit dem Thema Demokratie – nicht erst seit ich diesen Vortrag vorbereite, sondern schon viel länger – haben sich bei mir Bedenken und Zweifel an der Demokratie herausgebildet. Ich habe den Eindruck gewonnen, als handle es sich um einen Begriff vollkommener Unschärfe bei gleichzeitiger Hochkonjunktur im Gebrauch und unantastbarem moralischem Gewicht, dass es geradezu verboten ist, ihn überhaupt kritisch unter die Lupe zu nehmen. Die Thesen, die ich Ihnen vortragen möchte, sind aus diesen Bedenken und Zweifeln erwachsen. Sie mögen Ihnen zunächst befremdlich, auch widersprüchlich erscheinen, vielleicht sogar paradox, aber ich bitte Sie, sich mit mir gewissermaßen in den Diskurs zu begeben, sich auf die Argumentation einzulassen und mit mir zu erwägen, ob diese Thesen nicht doch stichhaltig sind. Auf die Aktualität und Relevanz der Thematik gehe ich – wie gesagt – nicht weiter ein; Extremismus, Korruption, das wachsende Europa, die Piratenpartei sind genug Themen, die alltäglich in den Medien behandelt werden.

Meine drei Thesen lauten:

1. Es gibt gar keine Demokratie. Das politische System, in dem wir leben, ist keine

Demokratie.

2. Die Demokratie ist die Basis des Kapitalismus.

3. Der Demokratie fehlt die Fundierung in der Vernunft. Sie ist deshalb nicht die

ultima ratio der Politik.

Noch eine Vorbemerkung: Die Kritik an der Demokratie, die bei meinen Ausführungen herauskommen wird, soll nicht behaupten, dass es uns in unseren Lebensverhältnissen unerträglich übel ergeht. Die Kritik soll stattdessen zeigen, dass, wenn von Demokratie die Rede ist, dies ja vielleicht gar keine Demokratie ist – und es geht uns trotzdem gut – und vielleicht gerade deshalb. Anders gesagt: Der gute Lebensstandard ist ein Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Situation, in welcher der Erhalt des Lebensstandards mit zu den Legitimationen und zu den Erhaltungsbedingungen einer Gesellschaft gehört, in welcher paradoxerweise durchaus nicht alles in Ordnung ist.

1. Das politische System, in dem wir leben, ist keine Demokratie. 

Warum nicht? Zunächst ist es ohnehin eine Fiktion, im Blick auf die heutigen Verhältnisse von Demokratie als Herrschaft des Volkes zu sprechen. Demokratie als Beteiligung aller an den Entscheidungen des Gemeinwesens, zu dem sie gehören, ist nur in einem sehr kleinen Gemeinwesen möglich, etwa der frühen germanischen Lebensweise, die Karl Marx vor Augen hatte, als er von ursprünglichem Eigentum aller Mitglieder des Gemeinwesens an Natur und Gemeinschaft sprach. In größeren Gemeinschaften wie den heutigen geht es nicht ohne Repräsentation. Wir sprechen von repräsentativer Demokratie. Mir scheint dieser Begriff den wahren Tatbestand zu verdecken. Demokratie im gegenwärtigen Sprachgebrauch scheint mir weniger Volksherrschaft auszudrücken als die Negation von Terrorregimen, diktatorischen, faschistischen, totalitären jeder Art, die, selbst wenn sie wie das Hitlerregime legal an die Macht kommen, die traditionellen bürgerlichen Rechte abschaffen, die eigene Herrschaft absichern und Gewaltstrukturen von oben nach unten errichten. Demokratisch scheint mir heute der undifferenzierte Gegensatz zu Staatsformen zu sein, die im weitesten Sinne auf Herrschaft gegenüber dem eigenen Volk beruhen. Ein Staat aber, der nicht auf solcher Herrschaft beruht, muss noch keine Demokratie sein. Betrachtet man es sich genauer, so ist z.B. die politische Ordnung der Bundesrepublik eher eine, die auf Akzeptanz durch die Bevölkerung beruht, als dass sie auf dem Willen des Volkes beruhe und darauf gegründet worden wäre. Damit soll nicht gesagt sein, dass dies schlecht sei; die Sache soll nur genau gekennzeichnet werden. Es könnte sogar möglich sein, dass eine solche politische Ordnung, für die ich nicht einmal sogleich einen angemessenen Namen habe, eher zum Wohl der Menschen ist, als eine Form konsequenter, unmittelbarer Demokratie.

Sieht man sich beispielsweise die Umstände und den Prozess an, unter welchen das Grundgesetz der Bundesrepublik entstanden ist, also der Ordnungsrahmen, der die Prinzipien enthält, die dem neuen politischen Gebilde nach 1945 – in den Sektoren der drei Westmächte – zugrunde liegen, dann kann daran kein Zweifel bestehen, dass es nicht das Volk war, das es erarbeitet hat, noch erarbeiten konnte. Entscheidend waren hochqualifizierte Juristen wie Carlo Schmid, dem maßgebliche Bedeutung bei der Textgestaltung zukam, also ausgesprochene Experten, die das Grundgesetz verfassten.

Insbesondere der Hauptbegriff der Präambel, die Menschenwürde, stammt aus einer rechtsphilosophischen Tradition, die in der Praktischen Vernunft Kants ihre präzise Begründung erhielt.

Nicht minder als die Präambel des Grundgesetzes ist die gesamte Architektur der Institutionen der BRD – Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident, Bundesregierung, Bundesverfassungsgericht – aus einer Entscheidung des Volkswillens hervorgegangen, sondern republikanische und demokratische Errungenschaften, wie sie aus der Geschichte, aus den tradi­tionellen politischen Theorien von Montesquieu und John Locke stammen, haben ihr die Struktur vorgegeben.

Sicherlich lässt es sich als eine Form zur Steigerung der Rationalität, der organisierten Interessenvertretung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ansehen, wenn die großen Organisationen eines Staates wie Verbände, Stiftungen, Unternehmen Lobbyarbeit betreiben, Demokratie ist es aber sicher nicht. Deshalb nennt sich wohl auch bis heute kein Interessen­verband Lobbyverein. Lobbyismus ist ein System, über persönliche Kontakte Exekutive und Legislative zu beeinflussen, auch in der Öffentlichkeit über die Medien Einfluss auszuüben. Der Bundestag veröffentlicht jährlich eine Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern. Es handelt sich von A bis Z um über 2000 Verbände.

Eben so wenig wie die Lobby gehen die Medien unmittelbar vom Volke aus. Als Instrumente der Öffentlichkeit gehören sie zum politischen System. Ursprünglich aus der Aufklärung hervorgegangen, was sie immer noch an sich haben, stellen sie doch weitgehend eine eigene Macht dar. Sicherlich sind sie gerade durch die neuen Medien, in denen jeder Benutzer aktiv sein kann, nicht mehr einseitig Kulturindustrie, Verbreitung der Meinung einiger reicher Leute. Medien müssen heute als ambivalent angesehen werden. Aber auch wenn man sie so ansieht, kann man ihnen den manipulativen Einfluss, den sie ausüben, nicht absprechen. Es ist wohl nicht mehr so wie 1968, als die Springer-Presse die Protestierenden wahlweise als „Eiterbeule“ oder „immatrikulierten Mob“, als „akademische Gammler“ oder „behaarte Affen“, bezeichnete, woran Thomas Assheuer in einem rückblickenden Kommentar erinnerte. Die Macht der Medien aber ist auch heute nicht zu unterschätzen. Immerhin ist es auf sie zurückzuführen, dass Politiker wie von Guttenberg und Wulff, die in der Bevölkerung beliebt waren und nach Meinungsumfragen wahrscheinlich ihre Ämter nicht verloren hätten, doch stürzten.

Gravierender noch als Lobbyismus und Medien muss die Verselbständigung der Parteien angesehen werden. Wir entsinnen uns der Kritik, die der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Amtszeit an den Parteien übte. Statt „um die Lösung der Probleme zu ringen“, instrumentalisierten sie diese für ihren Machtkampf, äußerte er damals in der Bild-Zeitung. Schon 1992 hatte er in einem Buch den Parteien „Machtversessenheit“ vorgeworfen. Kernpunkt der Kritik war, dass die Parteien nicht nur „bei der politischen Willensbildung des Volkes“ mitwirkten, wie es im Grundgesetz heißt, sondern selbst den Willen des Volkes nach ihren Interessen manipulierten.

Den Parteien gelänge es, durch ihre Personalrekrutierung fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens zu durchdringen. Dies hebt Bernd Guggenberger, Professor und Rektor der Lessing-Hochschule in Berlin hervor, wenn er darauf hinweist: „Längst hinausgewachsen über ihre engeren politisch-parlamentarischen Funktionen, bestimmen die Parteiorganisationen durch die Besetzung von Rundfunk- und Fernsehräten über Personal und Programme der Rundfunkanstalten, über die Ministerialorganisationen in Bund und Ländern, über Spitzenpositionen im Versicherungs-, Banken-und Sparkassenwesen und über Positionen in Vorständen und Aufsichtsräten der größten Industrieunternehmen. Die Parteien sitzen auf allen Ebenen des politischen und ökonomischen, des sozialen und kulturellen Lebens fest im Sattel.”

Um meine Position hier zu verdeutlichen. Es geht mir nicht darum, in die Kerbe der Parteienkritik zu hauen – was vielleicht auch möglich und sogar notwendig wäre, jetzt aber auf jeden Fall nicht meine Absicht ist –, sondern herauszuarbeiten und zu klären, dass das, was die Struktur des Staates betrifft, in dem wir leben, nicht einfach als Demokratie bezeichnet werden kann.

Die Phänomene, die ich bisher angesprochen habe, kann man als strukturelle bezeichnen. Aktuell sind es hauptsächlich zwei Entwicklungstendenzen, die der Demokratie, beziehungsweise dem Glauben an die Möglichkeit der Demokratie das Wasser abgraben.

Das erste ist eher ein quantitatives, nämlich Europa. Die Diskussion um die Demokratie im Zusammenhang mit Europa ist kein Wunder. Tatsächlich wird mit dem Anwachsen der Struktur Europas die Einflussnahme des Volkes durch Wahlen immer geringer. Die Institutionen und Zentren werden immer ferner und fremder. Die Gesichtspunkte der Entscheidung werden immer großräumiger und genereller, während die Betrachtung der Menschen immer auf einer konkreten persönlichen Erfahrungsebene geschieht. Die Entscheidungen sind immer weniger der Komplexität, den regionalen Differenzen gemäß. Die Menschen erkennen sich in den Entscheidungen nicht wieder. Der generelle Gesichtspunkt ist vielleicht nicht prinzipiell, aber mit großer Wahrscheinlichkeit oft ein anderer als der regionale, der höchst selten mit dem generellen übereinstimmt.

Man soll sich nichts vormachen. Was generell gut ist, kann aus der regionalen oder lokalen Sicht nicht entschieden werden. Entschieden werden kann umso besser, worin das Generelle dem Lokalen widerspricht. Damit wird die Einflussnahme von unten immer schwieriger. Es gibt geradezu erkenntnistheoretische Gründe für die Unmöglichkeit der Demokratie in großen Gesellschaften. Über die Bürger türmt sich eine gewaltige Architektur von Institutionen auf: die Kommune, das Land, die Nation, Europa.

Der zweite Gesichtspunkt in der Gegenwart ist die Komplexität der Verhältnisse. Wer blickt in der globalisierten Welt noch durch? Die Finanzkrise zeigt es ganz deutlich: Sie führte zu Regierungskrisen in Griechenland und Italien. Papandreou und Berlusconi – egal was außer der Finanzkrise noch eine Rolle spielte – mussten ihren Hut nehmen. Wirtschaftsexperten wurden gesucht und gefunden. Sie übernahmen das Geschäft. In Italien Mario Monti, in Griechenland Lukas Papademos. Zwei Wirtschaftsexperten, Finanzfachleute mit großer internationaler Erfahrung und globalen Beziehungen. Auch Samaras, der gegenwärtige Ministerpräsident Griechenlands ist ein Wirtschaftsexperte. Und dass die SPD Peer Steinbrück als Kandidaten für die nächste Bundestagswahl aufstellte, ist auch kein Zufall. Er hat den Ruf, der kompetenteste Finanzfachmann der SPD zu sein, dem man es zutraut, das Schiff durch die Krise zu bugsieren.

Aber nicht nur in den Belangen der Finanzen treten Experten in den Vordergrund, auch Wissenschaftler spielen eine zunehmende Rolle. Woher sollten Politiker es wissen, welche Maßnahmen gegen Strahlungsschäden ergriffen werden könnten, und in welcher Dosis, mit welchen Kriterien die Reinheit von Nahrungsmitteln durch Gesetze geschützt werden könnte. In allen solchen Fragen ist die Einbeziehung von Wissenschaftlern unumgänglich. Politik und Wissenschaft rücken immer enger zusammen. Politiker sind nicht entscheidungsfähig ohne die Wissenschaftler, von deren Ressort sie so wenig verstehen wie Otto Normalverbraucher.

Das Internet bringt die Befürchtungen auf den Punkt.

„Sollten sich schließlich aber bewusst oder unbewusst Wissenschaftler und Politiker mitein­ander verbünden, um etwa in wichtigen Problemen nur noch eine scheinbar logische und ausschließliche Lösung für politische Entscheidungen anzubieten, dann kann die Diktatur der Experten und Technokraten nicht mehr aufgehalten werden, dann wird aus der Demokratie eine Expertokratie.“

Wenn man sich ein Buch vornimmt wie das von Armin Grunwald, einem der führenden Köpfe der Technikfolgenabschätzung in unserem Land, Titel: „Technik für die Gesellschaft von morgen“, einem Autor, für den Partizipation seitens der Bevölkerung ein starkes Anliegen ist, wird deutlich, wie weit sich inzwischen die Ebene der Entscheidung von dem Leben der Menschen – und deren Fähigkeit, qualifizierte Entscheidungen abzugeben – entfernt hat. Nicht nur, dass die der Technik zugrundeliegenden Kriterien der Entwicklung und Effizienz eigene Kriterien sind, Kriterien, die der Technik und der mit ihr verbundenen Ökonomie immanent sind, sondern dass auch obendrein die darauf aufbauende kritische Beurteilung der „Möglichkeiten und Grenzen gesell­schaftlicher Technikgestaltung“ eine Rationalität fordern, die nur einer hohen Reflexionsstufe zugänglich ist.

Ulrich Beck weist auf die Folgen der technischen Entwicklung in seinem bekannten Buch „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ hin:

„Gerade mit dem Anwachsen der Gefahren entstehen in der Risikogesellschaft völlig neuartige Herausforderungen an die Demokratie. Die Risikogesellschaft enthält eine Tendenz zu einem ‚legitimen‘ Totalitarismus der Gefahrenabwehr, der mit dem Recht, das eine Schlimmste zu verhindern, in nur allzu bekannter Manier das andere Noch-Schlimmere schafft. Die politischen ‚Nebenwirkungen‘ der zivilisatorischen ‚Nebenwirkungen‘ bedrohen das politisch-demokratische System in seinem Bestand. Es gerät in die ungute Zwickmühle, entweder angesichts der systematisch produzierten Gefahren zu versagen oder aber durch autoritäre, ordnungsstaatliche ‚Stützpfeiler‘ demokratische Grundprinzipien außer Kraft zu setzen.“

Ich möchte nicht unterschlagen, dass auch das Volk in dem Reigen der entscheidenden Instanzen und Kräfte Gewicht besitzt. Das gering zu schätzen liegt nicht in meiner Absicht. Die Wende in der Politik nach Fukushima zum Beispiel wäre sicherlich nicht ohne den Druck der Bevölkerungsmeinung so schnell vollzogen worden. Es gibt die „Wutbürger“ wie in Stuttgart. Und dass in dem traditionell konservativen schwäbischen Ländle die Grünen nun in Land und Hauptstadt regieren, ist ohne Zweifel Ausdruck eines Volkswillens. Auch dass Parteien wie die Piraten in die Parlamente Einzug gehalten haben, die eher einem Milieu zuzurechnen sind, als dass sie ein Programm besäßen, zeigt einen Stimmungswandel in der Bevölkerung. Mir scheint, dass die sich gegenwärtig immer häufiger artikulierende Stimme der Bürger als ein Zeichen einer Unzufriedenheit zu werten ist, die sich nicht mehr mit dem Schein einer Demokratie zufrieden geben will.

Meine hier vorgetragene Auffassung ist durchaus keine Neuigkeit. Der heute nicht mehr so oft zitierte Ökonom Joseph Schumpeter hat die Demokratie in seinem 1950 erschienenen Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ eine gewisse Art institutioneller Ordnung, um zu politischen (…) Entscheidungen zu gelangen […], genannt. Die hier verwandte Kennzeichnung „eine gewisse Art institutioneller Ordnung“ scheint mir der angemessene Ausdruck dafür zu sein, was wir heute unkritisch Demokratie nennen.

Der österreichische Politikwissenschaftler Anton Pelinka hat in seinem Buch „Dynamische Demokratie. Zur konkreten Utopie gesellschaftlicher Gleichheit“ den Nagel auf den Kopf getroffen:

„Denn der Siegeszug der Demokratie war und ist vor allem ein verbaler Erfolg: Seit dem Ende der faschistischen Großreiche existiert kaum noch eine relevante politische Strömung, die nicht vorgibt, Demokratie zu sein. Unterschiedliche politische Systeme werden als Demokratien bezeichnet, gegensätzliche Interessen beanspruchen die Demokratie für sich. Alles will Demokratie sein. Undemokratisch, antidemokratisch, nichtdemokratisch, das ist der jeweilige politische Gegner.“

Worauf es mir in meiner Argumentation aber ankam, war, deutlich zu machen, dass die gegenwärtigen politischen Verhältnisse nicht einfach als Demokratie bezeichnet werden können. Man würde damit nur einen Fetisch aufrecht erhalten, der verhindert darüber nachzudenken, welche Politikformen geeignet sind, den Problemen der Gegenwart gerecht zu werden, mit ihnen fertig zu werden. Auch ließe sich dann erneut vernünftig, d.h. realistisch darüber reden, was es heute heißen könnte, mehr Demokratie zu wagen, wie es Willy Brandt formulierte. Ohne Frage ist die Partizipation der Bevölkerung an der sie betreffenden Politik unverzichtbar. Ohne eine Revolution im Bildungswesen wird dies allerdings nicht zu bewerkstelligen sein. Aber blauäugig von Demokratie zu sprechen, während die Einflussnahme einer Reihe von Kräften und Mächten ausschlaggebend ist, würde dem demokratischen Gedanken am wenigsten nützen. Dass auch noch starke Interessen des Kapitals – wir reden ja heute von den Märkten – auf die Regierung, die Lobby, die Parteien, die Medien und die Wissenschaften einwirken, bedarf keines Beweises. Es ist offensichtlich und nicht nur vorurteilsbelasteten Linken bekannt.

2. Die Demokratie ist die Basis des Kapitalismus

Warum ist die Demokratie die soziale und politische Basis des Kapitalismus? Wir sind doch eigentlich gewöhnt, in der Demokratie das Widerstandspotential gegen einen hemmungslosen Kapitalismus zu erblicken.

Karl Marx hatte für den Kapitalismus noch einen anderen Namen. Er nannte sie auch die bürgerliche Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft war aus dem Mittelalter durch Überwindung des Feudalismus, der Leibeigenschaft und der Vorherrschaft von Adel und Kirche hervorgegangen. Der Zusammenhang von Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft hatte die Verhältnisse von Grund auf verändert. Eine neue Klasse, das Bürgertum kam an die Macht. Die Aufklärung drückte ihr geistiges Selbstverständnis aus. Niemand hat die produktive historische Rolle des Bürgertums klarer ausgedrückt als Karl Marx im Kommunistischen Manifest.

„Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“

Aus heutiger Perspektive ließe sich sagen, dass nun selbst Marx nicht ahnte, wie sich die Produktivkräfte nach ihm noch weiter entwickelten. Eine Alltagswelt der Autos, Fernseher und Computer hätte – glaube ich – auch seine Vorstellungkraft überstiegen. Eine solche Entwicklung der Produktivkräfte, wie sie sich im 20. Jahrhundert bis heute vollzog, hätte er sich überhaupt erst für eine Epoche des Kommunismus vorstellen können, in der die soziale Basis für die Vermeidung von Überproduktionskrisen gegeben war und die Menschen ohne Entfremdung ihre Schöpferkraft ungehemmt entfalten konnten.

Marx hat sich darin geirrt. Es kam nicht, wie er dachte. Die ganze Gesellschaft spaltete sich nicht „mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ Das Gegenteil war der Fall. Die bürgerliche Gesellschaft integrierte die Arbeiterklasse. Der entscheidende Schritt dazu war ohne Frage die Einführung der Sozialgesetzgebung durch Bismarck in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts – selbst wenn nicht aus humanitären Gründen: 1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung, dann 1891 die Rentenversicherung der Arbeiter und 1927 die Arbeitslosenversicherung; und nicht zu vergessen schließlich die Pflegeversicherung in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Ein wesentliches Ziel des Sozialistengesetzes, die Reduzierung der Stimmen für die Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen, wurde von Bismarck jedoch nicht erreicht – im Gegenteil: Hatten die Sozialdemokraten 1881 gerade etwas mehr als dreihunderttausend Stimmen erhalten, waren es 1890 bereits fast anderthalb Millionen Stimmen. Mit diesem Ergebnis wurde die SAP, noch vor ihrer Umbenennung in SPD, zum ersten Mal die wählerstärkste Partei des Reiches.

Friedrich Engels war von den Wahlerfolgen der Sozialdemokratie so angetan, dass er sogar glauben wollte, die Arbeiterklasse käme über die Wahlen zur Macht. „Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die ‚Revolutionäre‘, die ‚Umstürzler‘, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz.“ Weit gefehlt diese Auffassung von Friedrich Engels. Statt Revolution und Überwindung des Kapitalismus erfolgte die Integration der Arbeiterklasse. Die Theoretiker der Arbeiterbewegung hatten sich darin so getäuscht wie in der Annahme, das Proletariat würde Kriege aus den Interessen der herrschenden Klassen nicht mitmachen. Die Losung „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ erwies sich im Ersten Weltkrieg – auch im Zweiten – als gänzlich unwirksam, als fade Hoffnung. Immer konnten nationalistische Triebe für militärische Heerzüge genutzt werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es dann das Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“, das bewusst die Einbindung aller Teile der Bevölkerung in die Gesellschaft vorsah.

Die integrative Kraft der bürgerlichen Gesellschaft geht aber noch wesentlich weiter. Die Legitimierung einer starken Gewerkschaft, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Darüber hin­aus entsteht auch durch die Teilhabe der Menschen an den neuen technischen Errungenschaften eine emotionale Bindung an die bestehenden Verhältnisse. Aber noch bedeutsamer scheint mir die notwendige Angewiesenheit des Kapitalismus auf die Bevölkerung als Konsumenten, als die notwendigen und gewünschten Abnehmer der Produkte der rasanten Entwicklung der Technik zu sein. Hier liegt der tiefere Zusammenhang. Die Abnehmer gehören zum System. Ohne sie würde es die von Marx theoretisch bewiesene Überproduktionskrise geben. Immer weitere Zonen des Erdballs werden in Form von Ausbeutung billiger Arbeitskräfte in die globale Wirtschaft hineingezogen und werden damit aber auch zu Konsumenten. Produktion und Konsumtion gehören zusammen. Sie bilden einen kritischen Zusammenhang, der den Kapitalismus an seine Bevölkerung bindet – und die Bevölkerung an den Kapitalismus. Es ist gar nicht in erster Linie die Ausbeutung, die den Kapitalismus an seine Bevölkerung bindet, sondern die Notwendigkeit und Freiheit des Konsums. In dem Sinne sorgt der Kapitalismus auch für die Besserstellung der Masse der Bevölkerung. Geringe Kaufkapazität bedeutet geringer Profit. Darin liegt ohne Frage eine Entwicklungslogik, die der bürgerlichen Gesellschaft, wenn sie die Bevölkerung auf den Konsum geeicht hat, eine feste Grundlage sichert.

In einem Buch über Michael Haneke, den Filmemacher, der sich in seinen Filmen mit der Konsumgesellschaft kritisch auseinandersetzt, habe ich gerade einen Satz gefunden, der die Sache trifft:

„Es besteht die berechtigte Sorge, dass die Konsumgesellschaft möglicherweise von einer gigantischen Unterhaltungs- und Vernebelungsindustrie mit entsprechenden Interessen bewegt wird und dass kaum jemand dagegen Widerstand zu leisten wagt.“

Auch wenn die ursprüngliche Entfremdungsstruktur bestehen bleibt, das Privateigentum, an dem sich das soziale Ungleichgewicht absehen lässt, wie eine heilige Kuh unangetastet bestehen bleibt, vollzieht sich innerhalb des Kapitalismus eine Entwicklung, in welcher die arbeitende, unterprivilegierte Bevölkerung befriedet wird. Das ist die große, zumeist nicht vorausgesehene Wende innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die vor allem ihrer ungeheuren Produktivität geschuldet ist und die Gewähr für eine außerordentliche Flexibilität bietet, die weitgehend die Einhaltung der in den bürgerlichen Revolutionen erkämpften Rechte ermöglicht. Alle Kritik an der bestehenden Gesellschaft, sie mag noch so berechtigt sein, verpufft und geht ins Leere, wenn diese Flexibilität nicht in Rechnung gestellt wird.

Die Flexibilität der bürgerlichen Gesellschaft, die auch darin besteht, aus allem Geld machen zu können, integriert und belohnt alle Aktivitäten: auch die kritischen. Die Akzeptanz von Kritik ist geradezu nötig zur Behandlung und Abfederung aller systemkritischen Intentionen. Sie gehört gewissermaßen zu dem allgemeinen Lernprozess, der ein Erhaltungsprinzip dieser Gesellschaft ist. Der Kapitalismus scheint geradezu unverdächtig zu sein gegenüber allen politischen und moralischen Auffassungen: Geld ist eine quantitative Größe, die keine inhaltliche Präferenz besitzt. Geld scheint inhaltlich neutral zu sein. Das Gestatten von Kritik, von Demonstration, freier Meinungsäußerung ist geradezu der entscheidende Stabilisierungsfaktor. Alternativen zur Gesellschaft insgesamt können sich nicht bilden. Positionen, die Einschnitte erfordern, Positionen, die auf Vernunft setzen – und Moral – mit der dazugehörigen Unbedingtheit, machen sich sofort unbeliebt. Zudem sind sie unter den bestehenden Bedingungen höchst unrealistisch. Sie widersprechen einem vernünftigen Pragmatismus und forderten fundamentalere Änderungen, deren Ergebnis nicht abzusehen ist und darum ein großes Risiko darstellen. Sie sind radikal und haben daher eine verdächtige Nähe zum Terrorismus. Mit einem Wort: Elemente, die nicht systemkonform sind, diskreditieren sich selbst als unpraktikabel und lebensfern. Und Utopien stören den Frieden der Gewohnheit, sie setzen die Gegenwart am Maßstab einer nur in der Phantasie bestehenden Zukunft herab und wollen zu der Bereitschaft verleiten, für eine ferne und unsichere Zukunft die Gegenwart zu opfern, womit die Bevölkerung bislang keine gute Erfahrung gemacht hat.

Ortega y Gasset ist mit seinem Werk „Der Aufstand der Massen“ der Philosoph, der diese Entwicklung als eine durchaus kritische 1930 ungetrübt von irgendwelchen politischen Blickrichtungen auf den Punkt gebracht hat:

„Es gibt eine Tendenz, die das öffentliche Leben Europas in der gegenwärtigen Stunde – sei es zum Guten, sei es zum Bösen – entscheidend bestimmt: das Heraufkommen der Massen zur vollen sozialen Macht.“

Die Quintessenz: Der Kapitalismus, die bürgerliche Gesellschaft, ist zugleich die Gesellschaftsform, die historische Epoche, in welcher die Mehrheit der Bevölkerung zu erträglichem Wohlstand gelangt ist, in welcher der Sozialstaat größtes Elend verhindert und auch eine Mitbestimmung aller Bevölkerungsteile gewährleistet. Das bedeutet zweierlei: Erstens, dass diese Entwicklung möglich war auf der gleichbleibenden ökonomischen Basis, wie sie Marx kritisch analysiert und dargestellt hat, zweitens, dass keine Kritik verfängt, die diese Gesellschaft in Bausch und Bogen verdammt, obwohl sie im Kern nach wie vor auf einer Struktur Ungerechtigkeit erzeugender Profitmaximierung beruht.

3. Die Demokratie ist nicht in der Vernunft fundiert

Meine dritte These lautet: Die Demokratie ist nicht in der Vernunft fundiert. Was besagt das? Es besagt, dass die Demokratie nicht der Weisheit letzter Schluss in politischen Angelegenheiten ist. Es besagt, dass das, was wir Demokratie nennen, durchaus nicht Demokratie sein muss. Es besagt, dass Demokratie auch nicht das Schutzschild gegen eine inhumane Herrschaftsform ist, wie heute weithin angenommen wird.

Es ist interessant, dass bereits im antiken Athen ausgerechnet die Philosophen Platon wie Aristoteles ihre Erfahrungen mit der Demokratie sehr kritisch reflektierten.

Wenn man in einer größeren Optik nicht die Unterschiede zwischen den beiden hervorheben möchte und auch ihre jeweiligen Positionen genereller betrachtet, treten die Überein­stimmungen in den Vorbehalten und Einwänden gegen die Demokratie als Staatsform deutlich hervor. Beide betonen die soziale Seite der Demokratie. Platon: „Eine Demokratie […] entsteht dann, […] wenn die Armen zum Siege gelangt sind […].“ Aristoteles:

„[…] man sagt, dass jeder Bürger das Gleiche haben müsse: und so ist die Folge, dass in den Demokratien die Armen mehr gelten als die Reichen. Denn sie bilden die Mehrheit, und was die Mehrheit beschließt, das gilt.“

Beide sehen in der Demokratie Freiheit und Gleichheit als die grundlegenden Prinzipien. Platon lässt in der Politeia Sokrates über die Demokratie äußern:

„Nicht wahr, an erster Stelle steht doch dies, dass sie freie Menschen sind und dass der Staat förmlich überquillt von Freiheit und von Schrankenlosigkeit im Reden, und dass jeder ungehindert tun kann, was ihm nur immer beliebt?“

Sein Gesprächspartner bestätigt das. Sokrates fährt fort:

„Wo aber alles erlaubt ist, wird doch offenbar jeder sein Leben im Staat so gestalten, wie es ihm gerade gefällt.“ „Offenbar“, antwortet Adeimantos. Sokrates: „Es werden sich also Menschen der verschiedensten Art unter solcher Verfassung zusammenfinden.“ Auch hier wird nicht widersprochen, und Sokrates kommt zu dem Ergebnis: „Es sieht so aus, als wäre dies die schönste aller Verfassungen.“

Bei Aristoteles hört sich das so an:

„Voraussetzung der demokratischen Verfassung ist die Freiheit. Das ist ja die gewöhnliche Rede, dass die Bürger bloß in dieser Verfassung Freiheit genießen; denn das sagt man, setze jede Demokratie sich zum Ziele.“

Der leicht distanzierte Unterton ist sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles nicht zu überhören.

Neben der Freiheit sei die Gleichheit das Prinzip der Demokratie, wie beide betonen. Platon lässt Sokrates leicht höhnisch sagen:

„[…] und so wäre sie denn allem Anschein nach eine reizende Staatsverfassung, herrschaftslos, buntscheckig, die so etwas wie Gleichheit gleichmäßig an Gleiche und Ungleiche verteilt.“

Aristoteles fasst über die Demokratie zusammen:

„Denn die Gleichheit besteht darin, dass Arme und Reiche in bezug auf die Regierungsgewalt nichts voreinander voraus haben und niemand ausschließlich, sondern alle gleichmäßig nach der Zahl, Herr sind. Denn so, meint man, werde die Verfassung dem Grundsatz der Gleichheit und Freiheit ebenmäßig gerecht.“

Was ist nun aber das Kritische an der Demokratie? Platon und Aristoteles sehen beide in der Demokratie die Anfälligkeit für Demagogen. Aristoteles:

„Sie machen, dass die Stimmen, nicht die Gesetze herrschen, indem sie alles an das Volk bringen. Kann es doch nicht fehlen, dass sie selbst groß werden, wenn das Volk über alles Herr ist, und sie über die Meinung des Volkes, indem der große Haufe ihnen beipflichtet.“

Platon spricht von Drohnen (559c). Sie gelangten durch Trug- und Prahlreden zu Einfluss unter dem Volk, alles verkehre sich bei ihnen: „Übermut heißt nun Wohlgezogenheit, Zügellosigkeit Freiheit, Schwelgerei Großzügigkeit, Schamlosigkeit Männlichkeit.“ Egal ob als Staatsmann oder Geschäftsmann, immer kennzeichnet ihn das Gleiche:

„Weder Ordnung noch Pflichtzwang regelt sein Leben, sondern er lebt so in den Tag hinein bis an sein Ende und nennt das ein leibliches, freies und seliges Leben.“

Platon und Aristoteles erkennen in den Gesetzen, die nicht aus den Meinungen des Volkes abgeleitet werden, sondern in rationalen Gründen ihren Ursprung haben, die einzige Gewähr für ein stabiles und humanes Gemeinwesen. Beide sprechen sich nicht pauschal gegen die Partizipation des Volkes aus, aber Gesetz und Moral finden bei dem Volk nicht den Ursprung. Aristoteles: „Denn dem Durchschnittsmenschen ist mehr um Vorteil als um Ehre zu tun.“ Aristoteles und Platon idealisieren nicht das Volk. Sie gehen davon aus, dass sich die meisten Menschen von ihren individuellen Bedürfnissen und persönlichen Interessen leiten lassen, wie sie in den Alltagsbezügen sich aufdrängen. Bei Platon gibt es über der Herrschaft unter Gesetzen noch die Herrschaftsform unter einem weisen Steuermann, der die „Idee des Guten“, das Göttliche geschaut hat und darum zu einer weisen Staatsführung imstande ist, aber da es nicht sicher sei, dass es ein solcher ist, der an die Macht kommt, müssen eben die Gesetze herrschen. Aber auch Aristoteles stellt eine Beziehung zwischen der auf Moral und Vernunft beruhenden Fähigkeit weiser Staatsführung und dem Göttlichen her:

„So gelte uns denn als ausgemacht, dass einem jeden von der Glückseligkeit nur soviel zufällt, als ihm Tugend und Verstand und entsprechende Tätigkeit beschieden ist, und wir wollen dafür Gott als einen Zeugen verwenden […].“

Für Platon und Aristoteles stellt die Demokratie, wenn sie konsequent als alleiniges Prinzip, als Herrschaft des Volkes, angesehen wird und zur Realität gelangt, etwas Instabiles dar, das sich nicht halten kann und in der Tyrannis untergeht. Bei Platon gibt Sokrates auf die Frage nach der Eigentümlichkeit der Tyrannis unumwunden die Antwort: „Denn dass sie sich aus der Demokratie entwickelt, ist doch klar.“ Aristoteles führt über ein Volk, das in voller Freiheit regiert aus:

„Ein solches Volk also sucht als Monarch auch den Monarchen zu zeigen, bindet sich an kein Gesetz und wird despotisch, so dass die Schmeichler bei ihm zu Ehren kommen, und so ein Volk eine analoge Rolle spielt wie die Tyrannis […].“

Und nun das Fazit aus diesem Rückblick auf die antiken griechischen Philosophen. Warum sprechen sie sich gegen eine konsequente Demokratie aus, d.h. gegen eine Demokratie als Prinzip? Weil die Demokratie kein Prinzip ist. Die Demokratie besitzt keinen Maßstab für richtig und falsch, die zufällige Mehrheit regiert, die egoistischen Bedürfnisse und das individuelle Alltagsinteresse wird herrschend über das Allgemeininteresse, Demagogen spielen in dieser Gemengelage ihre unheilvolle Rolle. Das Prinzip des Gemeinwillens lässt sich nur durch das Geistige, aus einer anderen Dimension als den Tagesinteressen ableiten. Daraus folgt nicht, dass das Volk ausgeschlossen wird aus dem Politischen, was ein Widerspruch wäre, sondern dass ein den Menschen Zugrundeliegendes, das sie in ihrer Vernunft besitzen, die Geltung haben müsse gegenüber den zufälligen Interessen einer Mehrheit. In diesem den Menschen Zugrundeliegendem, das die Philosophie durch ihre Reflexion gegenüber dem Alltäglichen und der puren Faktizität herausgearbeitet hatte, lag das Richtmaß für ein gerechtes und freies Staatswesen. Absolute Demokratie hingegen wäre im Kern die Negation der Vernunft. In ihr regierte die reine Beliebigkeit, die Prinzipienlosigkeit, der pure Wandel, nichts, was Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte, sondern immer nur das, was gerade eine Mehrheit besäße, die sich durchgesetzt hätte, mit welchen Mitteln und Interessen auch immer.

Leicht ließe sich dieser Faden durch die Geschichte hindurch verfolgen. Das ist natürlich in einem Vortrag nicht möglich. Ich möchte ihn wieder aufnehmen in der Moderne, dort, woher auch der wichtigste Begriff in unserem Grundgesetz herkommt: die Würde bei Immanuel Kant. Im Kategorischen Imperativ bezieht Kant die Maxime, den individuellen Entscheidungsgrund für eine Handlung auf die Möglichkeit, dass daraus ein allgemeines Gesetz werden könne. Dass die Maxime zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen kann, hat den Grund darin, dass die Befähigung zum Allgemeinen in der menschlichen Vernunft liegt, d.h. dass wir die Gesellschaft als das Allgemeine, als das, was uns alle verbindet und vereint, nicht nur außer uns haben, sondern dass es auch in uns, in unserer Vernunft, sogar in jedem Denkakt vorhanden ist. Und das ist ganz konkret und realistisch gemeint. Denn jeder Begriff besitzt den Charakter des Allgemeinen. Er ist das Allgemeine all der Gegenstände, deren Begriff er ist. Dadurch dass wir das Allgemeine in uns haben, kann Kant ohne den Anschein der Phrasenhaftigkeit von der „Menschheit in uns“ sprechen, davon, dass wir als Individuen in unserm Innern Gesellschaftswesen sind. Es sind also nicht nur Marktmechanismen, die uns zu Gesellschaftswesen machen, sondern es ist bereits unsere Vernunftbeschaffenheit. Weil wir Vernunft nicht nur besitzen, sondern auch sind, ist Moral eine Fähigkeit, eine Anlage, die zu unserer Beschaffenheit, zu unserer Naturausstattung gehört. Wir sind durch die Vernunft miteinander vereint. Moral ist nicht ein frommer Wunsch, nicht eine fadenscheinige Möglichkeit, der wir nachkommen können oder auch nicht, sondern etwas, das uns mit unserer geistigen Anlage als herausfordernder innerer Anspruch gegeben ist, etwas, das als in uns vorhandene dynamische Kraft wirkt. Ohne die Begründung der Moral aus der Vernunft, die in jedem Menschen ist, gibt es keine Begründung für sie. Antrainierte Moral in der Erziehung, aufoktroyierte Moral durch die gesellschaftlichen Zwänge, besitzt keine wirkliche Begründung, keinen Grund, der sie sicherstellte, der ihre Realität bedeutete. Dass diese Begründung der Moral heute kein Allgemeingut, kein verbreitetes Wissen ist, sogar eher abgelehnt wird als ein an den Haaren herbeigezogener idealistischer, irrationaler Traditionalismus, der mit der Säkularisierung jede Relevanz verloren hätte, der darüber hinaus zur naturwissenschaftlichen Verifikation weder empirisch noch mathematisch fähig sei, darin liegt die Grund- und Bodenlosigkeit der gegenwärtigen kulturellen Sphäre beschlossen. Das Gerede über Demokratie dient allenthalben dazu, dies zu verdecken.

Jetzt nur noch in äußerster Kürze zwei Zeugnisse für das Fortbestehen dieser Traditionslinie, die mit Platon und Aristoteles ihren herausragenden Beginn genommen hat – und zwar in zwei markanten historischen Situationen. 1935 hielt Edmund Husserl im Angesicht des her­aufziehenden nationalsozialistischen Schreckens in Wien einen berühmten Vortrag, den er an seiner Universität in Freiburg nicht mehr hätte halten können. Er betitelte ihn „Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie“. Gegen den sich verabsolutierenden Szientismus, den er in seiner mathematischen Objektivität mitverantwortlich macht für das sich anbahnende Unheil und den Massenwahn sagt er:

„Der Geist und sogar nur der Geist ist in sich selbst und für sich selbst seiend, ist eigenständig und kann in diesem Eigenstande, und nur in diesem, wahrhaft rational und von Grund auf wissenschaftlich behandelt werden.

Um dann dies direkt auf Europa zu beziehen:

„Um das Unwesen der heutigen „Krise“ begreifen zu können, musste der Begriff Europa her­ausgearbeitet werden als die historische Teleologie unendlicher Vernunftziele; es musste gezeigt werden, wie die europäische „Welt“ aus Vernunftideen, d.h. aus dem Geiste der Philosophie geboren wurde.

Mein zweiter Zeuge ist Jacques Derrida, der in diesem Jahrhundert, im Jahre 2003, in Reaktion auf den 11. September in seinem Buch „Schurken. Zwei Essays über die Vernunft“ einen tiefgründigen Diskurs über Demokratie und Demokratismus anstellte. Er nimmt auch die Gedanken von Platon und Aristoteles auf, vertieft sie durch Einbeziehung der Aufklärung und bezieht sie dann auf eine Situation, in welcher unter Berufung auf die Demokratie feindliche Staaten als Schurkenstaaten tituliert wurden um eine Legitimation für den Krieg gegen sie zu gewinnen.

„Wir sehen wie eine amerikanische Administration, der andere in Europa oder in der übrigen Welt dabei möglicherweise folgen, unter dem Vorwand, gegen die ‚Achse des Bösen‘, gegen die Feinde der Freiheit und die Mörder der Demokratie in der Welt zu Felde zu ziehen, unvermeidlich und unbestreitbar in ihrem eigenen Land die sogenannten demokratischen Freiheiten oder die Ausübung des Rechts einschränken muss, indem sie die polizeilichen Befugnisse bei Ermittlungen, Verhören usw. ausdehnt, ohne dass irgend jemand, ohne dass irgendein Demokrat ernsthaft dagegen Einwände erheben und etwas anderes tun könnte,[…]“.

Aber mir geht es nicht um die politischen Ausführungen von Derrida, sondern um die Tradition, auf die er sich bezieht. „Wir haben Platon noch nicht verlassen. Werden wir es je?“, fragt er. Und er setzt mit Ausführungen über Platons Idee des Guten seine Gedanken fort.

„Dieser Idee des Guten wird, in politischen oder politisch deutbaren Redefiguren, eine letzte souveräne Macht beigelegt.“

„Es ist der übermächtige Ursprung einer Vernunft, die Recht gibt […], die über alles Macht hat […], die Ursache allen Werdens ist oder die Genese hervorruft, aber selbst nicht wird, sondern durch die hyperbolische Ausnahmestellung dem Werden oder der Genese entzogen ist.“

Derrida wendet sich der Geschichte nicht mit einem heroischen Gestus zu, sondern ganz im Gegenteil redet er von einer Philosophie des Abschieds, in welcher von der Rettung der Vernunft nicht mehr die Rede sein kann, sondern höchstens noch von der Rettung der Ehre der Vernunft.

„Es liegt uns viel daran, ihr einen letzten Gruß zu senden, in der eschatologischen Melancholie einer Philosophie des Abschieds […]. Wo nichts mehr zu retten ist, versucht man in der Niederlage zumindest die Ehre zu retten. Die Ehre retten, das wäre nicht das rettende Heil […], sondern nur noch ein Abschiedsgruß […] bei der Trennung vom anderen. Philosophie des Abschieds, sagte ich, sei es, weil die Welt dabei ist, die Vernunft zu verlieren…“

Derridas Blick, den man nicht teilen muss, ist ohne Hoffnung. Es sind dunkle Ausführungen, wenn nicht gar Beschwörungen, die Derrida gegen Ende seines Buchs über die „kommende Demokratie“ und das „Ereignis“ vorbringt. Beides erinnert an den späten Heidegger. Klar äußert er sich aber zu der Tradition, deren Erbe er verantwortlich zu hüten als Pflicht für Philosophen fordert. Es handelt sich um jene Gestalt, die die Vernunft „in den großen, an­spruchsvollen, ehrwürdigen und einzigartigen Formen des transzendentalen Idealismus Kants und Husserls angenommen hat.“

Vielleicht sollte ich noch den französischen Philosophen Alain Badiou zitieren, der anlässlich eines Vortrags in den Mosse-Lectures an der Berliner Humboldt-Universität seine Zuhörer mit folgendem Bekenntnis erstaunte:

„Es ist heute fast unmöglich geworden, gegen die Demokratie zu sein. Jeder will ein Demokrat sein oder beruft sich zumindest auf die Demokratie. In Frankreich bekennt sich Jean Marie Le Pen zur Demokratie, und George W. Bush rechtfertigte den Irak-Krieg mit dem Argument,  dass  er  demokratischer  sei  als Saddam Hussein. Jeder neue Tag muss noch demokratischer sein als der gestrige. Nur eine kleine Schar – „von Plato, Hegel, Nietzsche, Wittgenstein, Deleuze – bis schließlich zu mir“ – widersetze sich diesem Trend und halte nicht viel von der  Demokratie, […].“

Überschrieben war der Artikel in der FAZ mit der pikanten Frage „Ist Philosophie wichtiger als Demokratie?“

Sie sehen, bei den Philosophen von Platon bis Derrida und Badiou wird kein Loblied auf die Demokratie gesungen. Sie gilt mit einem Wort als prinzipienlos. Die Partizipation des Volkes an den politischen Entscheidungen muss dabei nicht negiert werden.

 

4. Verführen, Täuschen und Betrügen

Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen drei Thesen vorgetragen.

1.Es gibt keine Demokratie. Wir leben nicht in einer Demokratie.

2.Die Demokratie ist die soziale Basis des Kapitalismus.

3.Die Demokratie ist nicht in der Vernunft fundiert.

Ich erwarte nicht, dass Sie meinen Thesen sofort oder überhaupt zustimmen. Nach meiner Überzeugung aber ist die Demokratie als Weisheit letzter Schluss in politischen Dingen an ein Ende gekommen. Die Fiktion Demokratie als Mittel der Verhütung von Barbarei und Elend oder als Mittel des gesellschaftlichen Fortschritts verliert auch in der Bevölkerung immer mehr an Glaubwürdigkeit. Mir scheint auch das Tabu gebrochen zu sein: Es sind nicht nur die Bösen, die Zweifel an der Demokratie anmelden. Das Ende der Demokratie als Fetisch, als bestmögliche politische Staatsform in den Köpfen der Menschen scheint gekommen zu sein.

Die Globalisierung fordert auf allen politischen Ebenen einen Fortschritt der internationalen Kommunikation und Abstimmung, eine Erhöhung der Rationalität. Weder die Interessen irgendeiner Macht noch die Interessen der jeweiligen Mehrheit der Bevölkerung sind Wegweiser zur Lösung der Probleme in der globalen Risikogesellschaft. Zur Lösung gehören drei Stücke: die Vernunft, die Gerechtigkeit und Freiheit wahrt, die Rationalität der Sachkenntnis wie in der Technikfolgenabschätzung, und drittens die Einbeziehung des Bewusstseins und der Interessen der Bevölkerung. Nur so lässt sich die Komplexität der Gegenwartsprobleme in humaner Weise durchdringen. Wie das zu installieren ist, darin besteht gegenwärtig das größte politische Problem.

Der weise Immanuel Kant hat in seiner kurzen Abhandlung „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahre 1784 die Schwierigkeit gesehen und in seinem fünften und sechsten Satz der Erörterung uns etwas zum Trost hinterlassen: „Dieses Problem ist zugleich das schwerste und das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöst wird.“ Er gibt uns also noch Zeit.

Dass es keine Demokratie gibt, während uns die Phraseologie der Demokratie wie in dem Glauben gebannt hält, wir lebten zwar nicht in einer guten, aber immerhin doch in der besten aller möglichen politischen Welten, hat eine ziemlich befriedende, man kann auch sagen lähmende Konsequenz.

Dass zweitens die Demokratie die soziale Basis des Kapitalismus ist, während die gesellschaftskritischen Geister im Willen des Volkes den natürlichen Widersacher zum Kapitalismus erblicken, bedeutet die Herrschaft einer Ideologie in den Köpfen, bedeutet eine mentale Gefangenschaft.

Dass drittens die Demokratie nicht in der Vernunft fundiert ist, bedeutet, dass Demokratie keine inhaltliche Festlegung auf Vernunft ist. Daher kann sie oft im Widerspruch zu Vernunftlösungen stehen und erzeugt so eine verhängnisvolle Barriere, um aus dem Schlamassel der Gegenwart herauszukommen.

Meine drei Thesen scheinen auf den ersten Blick miteinander unverträglich zu sein. Tatsächlich sind sie auch nicht aus einem einheitlichen Konzept abzuleiten. Worin ihre Kompatibilität besteht, wird aber sofort deutlich, wenn die gegenteilige Aussage der Thesen zusammengestellt wird: Es gibt eine Demokratie. Die Demokratie ist der Widersacher des Kapitalismus. Die Demokratie stimmt mit der Vernunft überein.

Schon ist die Welt wieder in Ordnung. Diese Aussagen stimmen mit unseren spontanen affirmativen Auffassungen überein. Offensichtlich negieren die drei Thesen den ideologisch herrschenden Konsens, der unsere gesellschaftliche Gedankenwelt legitimatorisch trägt – und verschleiert.

Wenn das wahr sein sollte – und ich gehe nach meinen Ausführungen davon aus –, dann leben wir in einer auf diese Weise ideologisch abgesicherten und verklärten Kultur. Wir leben in der Unwahrheit – offensichtlich sogar recht gut. Aber natürlich unaufgeklärt.

Wenn ich an Adornos berühmten Satz denke, man könne im falschen Leben kein richtiges führen, so wären wir heute weit darüber hinaus: Wir lebten längst ein richtiges im falschen. Ein geistiger Nebel umfängt uns, der uns lähmt und bei aller Überinformation die Urteilskraft trübt, aber doch – bzw. gerade dadurch – für ein ganz annehmliches Lebensempfinden sorgt. Und da ich gerade beim Zitieren bin, füge ich das passende Wort von Goethe hinzu: „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“

Zur obersten Aufgabe – wichtiger als alle direkten politischen Entscheidungen – wird für die politische Partei, die gerade an der Regierung ist und bleiben will, die Aufrechterhaltung der Demokratie als Legitimation, wenn sie reibungslos verlaufen soll. Es scheint alles in Ordnung zu sein. Dieses funktionierende Zusammenspiel zwischen dem relativ beruhigenden Wohlstand der Bevölkerung, wozu auch die immer neuen technischen und auch bei richtiger Verwendung sehr nützlichen Spielzeuge gehören, die man sich kaufen kann, diese Partizipation am vermeintlichen Fortschritt und dazu dann die Inhaltslosigkeit der Demokratie, schafft trotz der demokratischen Instanzen eine Atmosphäre, in welcher die Amoral gedeiht.

In einer solchen zahlenmäßigen Gesellschaft wie in der BRD mit den Problemen der Risikogesellschaft ist eine demokratische politische Struktur prinzipiell nicht mehr denkbar. Wo sie vorgegaukelt wird, wird sie Betrug. Dieser Betrug macht die Politiker zu Betrügern und zu ständigen Schauspielern der Demokratie. Das Volk muss in diesem Schauspiel gehalten werden, wird zur wichtigen Maxime.

Man kann es auch anders sagen: Die repräsentative Demokratie ist in ihre Bestandteile Re­präsentation und Demokratie zerfallen. Mit einer unguten Konsequenz. Denn wenn sich die Repräsentation von der Demokratie löst, dann hat sich die moralische Grundlage verflüchtigt. Die Repräsentation hat sich verselbständigt, es kommt nur noch auf die Performanz an, auf das Design statt auf das Sein. Kein Wunder, wenn dann Verführen, Täuschen und Betrügen an der Tagesordnung sind.

Die Quintessenz: Die Grundlage aller Demokratie muss die Vernunft sein. Wo die Demokratie sich von der Vernunft löst, geht sie über in ein amoralisches Spiel der Beliebigkeit. Wie Vernunft in der Politik zu installieren ist, gegen jeweilige Interessen und Bedürfnisse, ist die Frage, deren Beantwortung ich mir für den nächsten Vortrag aufgehoben habe.

Die Grenzen der Demokratie

Was hat es mit der Demokratie auf sich?

Ist sie das Allheilmittel gegen jede Art von Faschismus und Totalitarismus? Ermöglicht sie nur „den unblutigen Wechsel des politischen Führungspersonals“ wie Sir Karl Popper meinte? Geht sie in der Bürokratie Europas unter? Ist „Philosophie wichtiger als Demokratie“, wie der französische Philosoph Alain Badiou behauptete? Graben ihr nicht die Parteien, die Lobbyverbände, die Experten und die Medien das Wasser ab? Muß die Demokratie zur Tyrannis führen, wie die griechischen Philosophen dachten? Ist das, was die Mehrheit will, das Vernünftige? Ist Demokratie nur eine Fiktion? Oder nur ein Fetisch aus Angst vor Schlimmerem? Der Vortrag wird versuchen, das komplexe Phänomen der Demokratie, ihr Für und Wider vor Augen zu führen.

Schillers „ästhetische Erziehung“ – Gedanken zum Realitätsgehalt der Ästhetik

 

Vortrag auf der internationalen Tagung

Bildungsphilosophie

vom 3. bis 5. April 2014 in Eichstätt

Dr. Gerhard Stamer

Theodor W. Adorno leitete sein Seminar über die Ästhetik im Mai 1968 unmissverständlich mit dem Bezug auf die Vorgänge ein, die sich auf den Straßen direkt vor der Universität in Frankfurt/Main abspielten. Angesichts der gegenwärtigen Aktualität  des politischen Interesses der Studentenschaft stelle sich die Frage nach der Legitimation eines philosophischen Seminars über die Hegelsche Ästhetik und allgemeiner nach der Beziehung von Politik und Ästhetik. Mit diesen Worten begann Adorno. Die Intention von Adorno schien es zu sein,  in der Entfaltung der Gedanken Hegels den prinzipiellen historischen Gehalt des Ästhetischen  darzustellen, um von dort aus über sein eigenes gegenwärtiges Verständnis des Ästhetischen zu einer Klärung der eigenen politischen Position zu gelangen.  Adorno schien die Absicht zu haben, seine Negative Dialektik unter ästhetischen Aspekten wie einen Ring in die sich erhitzende studentische Öffentlichkeit zu werfen, um möglicherweise sogar die Ästhetik als Alternative zu einer Politik des Klassenkampfes, die er für abwegig hielt, wenn nicht gar als Perpetuierung des totalitären Identifikationsprinzips, herauszustellen. Er führte aus, daß die Kunst keine krude stoffliche Vorwegnahme utopischer Gehalte, nicht das in die Zukunft projizierte idealisierte Heute sei, sondern gegenwärtig ihren Sinn in der bis zum Äußersten gesteigerten Negativität des gegenwärtigen, ausweglos geschlossenen Immanenzzusammenhangs erhielte. Sie sei weder der Ausdruck dafür, daß das, was ist, nicht die Totalität ist, mit der es auftritt, noch der Verweis darauf, was nicht ist, ohne dies in konkreten Gestaltungen fixieren zu können. Nach Adornos Auffassung wäre der Dramatiker Beckett dem näher als beispielsweise der Vietnam-Diskurs von Peter Weiß.  Noch die negative Darstellung der „Negativität des Zeitalters“ mache „Reklame fürs Unmenschliche“. Das was das Wort „äußerste Negativität“ meine, hatte Adorno in den „Noten zu Literatur“ expliziert:

„Im Akt des Weglassens überlebt das Weggelassene als Vermiedenes wie in der atonalen Harmonik die Konsonanz. Der Stumpfsinn des Endspiels wird mit höchster Differenziertheit protokolliert und ausgelöst. Die protestlose Darstellung allgegenwärtiger Repression protestiert gegen eine Verfassung der Welt, die so willfährig dem Gesetz von Repression gehorcht, das sie eigentlich schon über keinen Gegenbegriff mehr verfügt, der jener vorzubehalten wäre.“

Überraschenderweise verlief das Seminar im Anschluss daran nicht in der Form der Konfrontation von politischer Praxis und Ästhetik, obwohl demonstrierende Studenten anwesend waren. Adornos ästhetische Konzeption sah sich plötzlich einer anderen, alternativen ästhetischen Position gegenüber, die nicht davon ausging, daß die kathartisch negative Einstellung der Kunst, wie sie Adorno angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse für unabdingbar hielt, die einzige konsequente Möglichkeit wäre, ihre antizipatorische Rolle bewahren zu können. Ganz im Gegenteil wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht die triste Negativität der Kunst, wie sie Adorno vertritt, das Negative der bestehenden gesellschaftlichen Realität nur reproduziere und verstärke, als ihr die Chance eines lebendigen Neuen entgegenzustellen. Es könne gut sein, daß eine naive Unbefangenheit der Kunst, die an der Bejahung des Lebens selbst in der radikal verneinten Gesellschaft festhält, eher versteinerte Verhältnisse auflösen könne als die krasse, freudlose  Negativität eines geradezu stoischen kritischen Bewußtseins. Und plötzlich war Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ im Spiel. In ihr hatte Schiller paradigmatisch Schönheit, Spiel und Menschsein in dem Begriff des Ästhetischen vereint.

„…der Mensch soll nur mit der Schönheit spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur dort, wo er in aller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Plötzlich tauchten Schillers  ästhetische Gedanken in einer politisch höchst brisanten Situation im Rahmen eines Hauptseminars auf, in dem die anspruchsvollste philosophische Reflexion gepflegt wurde. Und noch allgemeiner: Schillers ästhetische Gedanken erwiesen sich in der historischen Epoche,  in der die Schrecken des Naziregimes dazu führten, daß  die reflektierende Vernunft nur noch in der Gestalt einer sich verabsolutierenden, negatorischen Kritik ihre Substanz zu erhalten glaubte, als eine erlösende Intuition, auch in praktischer Hinsicht: sollten ja die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden.

Dieses Ereignis im Jahre 1968 gibt Anlass, sich systematisch auf die ästhetischen Gedanken Schillers einzulassen, die in einer Gesellschaft, in welcher die Arbeit einen hohen, wenn nicht den höchsten Rang genießt, den Verdacht eines weltfremden Idealismus auf sich ziehen. Es stellt sich die Frage nach dem Realitätsbezug der Ästhetik von Schiller, nicht verstanden als Vorhandenheit eines Dinges, sondern im Sinne einer argumentativen Möglichkeit, welche Spielräume – auch Chancen und Hoffnungen – eröffnet und damit auch real wirkt. Nicht nur was ist, besitzt Wirklichkeit, auch das, was Möglichkeiten eröffnet, zunächst vielleicht nur gedankliche, dann aber auch praktische, vielleicht auch nur vorsichtige, prüfende, versuchende, immer aber doch tendenziell reale.

Schillers „Ästhetische Erziehung“ ging aus einer Reihe von Briefen hervor, die er an  den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg in Kopenhagen  schrieb. Als er im Jahre 1793 seine Briefe zu schreiben begann, war der revolutionäre Rauch der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Französischen Revolution mitsamt ihrem Terror noch nicht verzogen. Es ist vielleicht der Höhepunkt des Deutschen Idealismus überhaupt, wie Schiller auf der höchsten Stufe philosophische Reflexion, die die Kantische Philosophie um 1800 darstellte, über dessen Praktische Philosophie hinausging und damit zugleich die Konsequenzen aus dem revolutionären Geschehen im Nachbarland zog. Dass die Ästhetik nun sowohl die Antwort auf die Unbedingtheit der Grundlegung des Moralischen bei Immanuel Kant als auch auf das praktische Geschehen auf den Straßen von Paris sein sollte, war doch eine überraschende Konfrontation mit den bewegten politischen Vorgängen und Umbrüchen, die eher der Dichterseele entsprungen zu sein schien als dem nüchternen Betrachter des gegenwärtigen historischen Prozesses. Aber Schiller war Historiker, also Realist genug, um das Sonderbare seines Rückgangs auf die Ästhetik – wenn man es denn Rückgang nennen möchte – selbst zu empfinden. Den zweiten Brief eröffnet er daher mit einer diesbezüglichen Frage:

„Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ihnen verstattet wird, nicht vielleicht einen bessern Gebrauch machen können, als Ihre Aufmerksamkeit auf dem Schauplatz der schönen Kunst zu beschäftigen? Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein soviel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?“

Auch Schiller fühlte sich – wie dann Adorno 1968 – von den revolutionären Vorgängen herausgefordert und dazu veranlasst, die Ästhetik  zu thematisieren. Die Ästhetik formulierte damit einen Anspruch, den zuvor nur die Moral  erhob, nämlich das orientierende Bild des Menschlichen abzugeben. Das ist als ein nicht zu unterschätzender Schritt im gesellschaftlichen Leben anzusehen. Eine Sphäre, die traditionell für politisch neutral, für vollkommen subjektiv, für überhaupt nicht allgemeingültig, für sinnlich und begrifflich unbestimmbar gehalten wurde,  hatte damit ein Mitspracherecht im Kreis der politisch relevanten Stimmen von Moral, Wissenschaft und Theologie gefordert – wenn auch von diesen Disziplinen weitgehend ignoriert oder nicht ernst genommen. Die weitere historische Entwicklung sollte zeigen, insbesondere in allen sozialistisch motivierten Bewegungen, dass die Ignoranz gegenüber der Ästhetik im Sinne Schillers, verheerende, kontraproduktive Folgen zeitigt.

Schiller war zu seinen paradigmatischen ästhetischen Vorstellungen erst durch den  Verlauf der Französischen Revolution gekommen. Schiller hatte die Revolution zunächst begrüßt nicht anders als die meisten der deutschen Intellektuellen, wie die drei Tübinger Studenten Hegel, Schelling und Hölderlin oder Kant in Königsberg.  Schiller entwickelte aber rasch einen Abscheu vor den Gewaltexzessen der Revolution.

Seit den Morden an ca. 1000 vermeintlich royalistisch gesinnte Pariser Gefängnisinsassen im September 1792 hatte er sich entsetzt von den Vorgängen in Paris abgewandt. Kurz nach der Hinrichtung von Ludwig XVI. im Januar 1793 schrieb Schiller an seinen Freund Körner:

„Ich kann seit 14 Tagen keine franz(ösischen) Zeitungen mehr lesen, so ekeln diese elenden Schinderknechte mich an.“

In seinem berühmtesten Gedicht, der Glocke, wurde dieser Ekel dann zur dichterischen, poetischen Aussage.

„Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte

Der Feuerzunder still gehäuft,

Das Volk, zerreißend seine Kette,

Zur Eigenhilfe schrecklich greift!

Da zerret an der Glocke Strängen

Der Aufruhr, daß sie heulend schallt

Und, nur geweiht zu Friedensklängen,

Die Losung anstimmt zur Gewalt.

Freiheit und Gleichheit! hört man schallen,

Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr,

Die Straßen füllen sich, die Hallen,

Und Würgerbanden ziehn umher.“

Schillers ästhetische Theorie erlangt dadurch ihre hohe theoretische Bedeutung, dass er die Affinität des sozial entstandenen und in der Revolution aufbrechenden Hasses der unterprivilegierten Klassen zu der Unbedingtheit der Moral und des Ideellen, das in den Ideen ihren Ausdruck findet durchschaut. Die Gewalt auf der Straße und der „Kult der Vernunft“, der in der Französischen Revolution zelebriert wurde, vereinten sich zu einem gefährlichen Gemisch.

Für Schiller ist die Epoche der Vorherrschaft von Adel und Kirche endgültig vorbei. Die neue Ordnung beginnt mit zwei gesellschaftlichen, kulturellen Kräften, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zueinander passen, auf den zweiten aber – in einer wichtigen Hinsicht – eine auffallende Übereinstimmung zeigen. Die Übereinstimmung besteht in der Ablehnung, bzw. Negation der Vielfalt und des Anderen. Die abstrakte Idee und der Haß des Volkes, ebenfalls abstrakt in seiner Negation, bilden den revolutionären Zusammenhang des Schreckens.

Wenn man es auf eine Formel bringen will, so vereinen sich – wie Schiller es darstellt – Idee und Leben, die normalerweise eher polar, wenn nicht sogar gegensätzlich zueinander stehen, unter den Bedingungen der Abstraktion. Die Idee, die in der geistigen Dimension eine reine ungemischte Einheit darstellt, hat in Bezug auf die lebendige, vielfältige Wirklichkeit die Tendenz, alle Vorkommnisse ihrer Einheit gleichzumachen. Sie negiert in ihrer ungehemmten Anwendung die konkrete Welt des Lebens, in der es nie die vollkommene Einheitlichkeit der Erscheinungen gibt. Das Leben des einfachen Volkes, des Plebs andererseits, niedergedrückt durch Hunger, Armut und Plagerei und nun frei von Herrschaft kann mit der gewonnenen Freiheit nicht Freiheit gelten lassen, nicht Freiheit stiften, sondern negiert alles Ideelle, das zum Besitzstand der herrschenden Klassen zu gehören scheint, und metzelt alles nieder, was nicht von der eigenen gleichen Faktizität ist und die Zeichen eines anderen, besseren, privilegierten Lebens an sich hat.

Die abstrakte Moral der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, der Kult der Vernunft,  hat sich als so terroristisch erwiesen wie der Hass und die Rache des geknechteten Volkes. Der Hass des Volkes konnte aber auch in der Abstraktion der Idee die Schärfe der Unbedingtheit erkennen, die der eigenen Radikalität entsprach. Die Guillotine wurde das praktisch in Szene gesetzte gemeinsame Symbol.

Schiller erkennt in dieser Konstellation nicht nur die Ursache der Greueltaten in der Französischen Revolution, sondern zugleich den Gegensatz eines historischen Grundproblems der Menschheit, eines kulturell-gesellschaftlichen Widerspruchs, der eine ständige Bedrohung darstellt, in der Französischen Revolution aber deutlich zu Tage trat. Schiller umreißt diesen Widerspruch mit verschiedenen Ausdrücken,, den von Form- und Stofftrieb, von Geist und Materie, von Denken und Empfinden, von Pflicht und Neigung,  von Gestalt und Leben.

Die „ästhetische Erziehung des Menschen“ ist Schillers Programm, die Abstraktion beider Seiten zu überwinden. Wenn sie in ihrer abstrakten Form zusammenfinden, sind sie tödlich. Die Ästhetik ist für ihn die Sphäre, in welcher ihre Vereinigung als Aufhebung, als Überwindung der Abstraktion beider Seiten gedacht werden kann. Die Französische Revolution stellt für ihn die Schwelle dar, an der der bis dahin naturhaft gewachsene Staat in eine bewusste Organisation unter aufgeklärten Prinzipien übergehen könnte. Aber die Menschen scheinen nicht reif dafür zu sein. Für diesen Übergang des Naturstaates in den der Freiheit bedarf es – wie er ausführt – einer Stütze, die die Ästhetik bietet.

„Diese Stütze findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen, der, selbstsüchtig und gewalttätig, vielmehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft zielt; sie findet sich ebensowenig in seinem sittlichen Charakter, der, nach der Voraussetzung, erst gebildet werden soll, und auf den, weil er frei ist und weil er nie erscheint, von dem Gesetzgeber nie gewirkt und nie mit Sicherheit gerechnet werden könnte. Es käme also darauf an, von dem physischen Charakter die Willkür und von dem moralischen die Freiheit abzusondern es käme darauf an, den erstern mit Gesetzen übereinstimmend, den letztern von Eindrücken abhängig zu machen es käme darauf an, jenen von der Materie etwas weiter zu entfernen, diesen ihr um etwas näher zu bringen – um einen dritten Charakter zu erzeugen, der, mit jenen beiden verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen Übergang bahnte und, ohne den moralischen Charakter an seiner Entwicklung zu verhindern, vielmehr zu einem sinnlichen Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit diente.“

Dieser dritte Charakter ist für Schiller die Ästhetik. In diesem dritten Charakter verlieren die beiden Seiten ihre Zwanghaftigkeit: sowohl das Triebhafte der Natur als auch das Moralische in der Unbedingtheit seines Pflichtbegriffs. Der „sinnliche Trieb“ und der „Formtrieb“ vereinen sich.

„Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte  unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.“

Man möchte hier gegen Schiller einwenden, daß diese selbst schöne Vorstellung nur  unter bestimmten sozialen Bedingungen möglich sei, die die Auflösung des Zwanges zuließen, was Schiller gerade nicht reflektiert hätte,  Karl Marx aber mit dem gehörigen Realitätssinn gerade zu seiner Theorie der politischen Ökonomie veranlasste. Es ist jedoch die Pointe der Ansicht von Schiller, daß die ästhetische Bildungskonzeption, die er vertritt, sich nicht von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig macht. Die ästhetische Bildungskonzeption, die die Freiheit des Menschen gegen den naturhaften und gegen den moralischen Zwang zum Ziel hat, spricht dem Mensch zu, unter allen Bedingungen dazu die Anlage zu besitzen, d.h. dazu  in der Lage zu sein. Freiheit, die ein Ziel anstrebt, kommt aus einer aktuellen Freiheitsfähigkeit, d.h. aus einer Unabhängigkeit zu den Bedingungen, die gegenwärtig bestehen. Freiheit beweist sich gerade in der Unabhängigkeit zu Bedingungen. Es ist der Trugschluss aller revolutionären sozialen nachschillerschen Konzeptionen, dass allererst bestimmte soziale Bedingungen hergestellt werden müssten, damit die Menschen moralisch  – gerecht und friedlich – existieren könnten. Schillers Konzeption setzt tiefer an – und zwar mit einem fundamentalen Verständnis von Freiheit: Freiheit ist eine Fähigkeit der Gegenwart, nicht erst in der Zukunft einzulösen. Eine zukünftige wird sie nur, wenn sie gegenwärtig realisiert wird. Schillers ästhetische Theorie ist eine Theorie über die Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung – und zwar unter allen Bedingungen, welche auch immer bestehen mögen. Diese Unabhängigkeit von den Bedingungen ist überhaupt das, was verstanden werden muss, um Freiheit zu denken. Solange Freiheit als abhängig von Bedingungen gedacht wird, wird Freiheit nicht gedacht. Deshalb sind alle materialistischen Konzeptionen der Emanzipation Widersprüche in sich selbst. Das heißt: die Freiheit muss als Freiheit begriffen werden, um wirklich frei zu sein. Das Verständnis der Freiheit ist offensichtlich keine Selbstverständlichkeit. Offensichtlich ist eher, dass die Menschen mit ihrem Denken in den Formen der Notwendigkeit gefangen bleiben, dass die Freiheit in ihrem Wesen nicht verstanden wird und daher zu eklatanten Widersprüchen führt, z. B. einer Emanzipationstheorie, die nicht die Freiheit der Individuen voraussetzt und anerkennt. Vermutlich ist die Geschichte der Menschheit noch nicht an den Punkt angekommen, an dem Freiheit realistisch gedacht werden kann: als die Möglichkeit, mit Bedingungen umzugehen, oder  als die Fähigkeit, unter bestehenden Bedingungen die Möglichkeiten zu erkennen, was immer einen spielerischen Umgang mit der Realität im Sinne Schillers bedeutet. Spielerischer Umgang als Prinzip bedeutet: Sensibilität für das Miteinander des Verschiedenen; Sensibilität für das Existenzrecht des Anderen, das ich nicht verstehe und das auch nicht meine Sympathie besitzt; Sensibilität gegen die Anwendung  von Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten; Sensibilität gegen den Gebrauch von Menschen als Mittel.

In der Dimension der Ästhetik werden für Schiller Notwendigkeit und Zwang überwunden, der Zwang, der der Moral  immanent ist – jedes Sollen ist eine Forderung – und der Zwang der Mühen und Plagen der Arbeit und Existenzsicherung.  Im Spiel eröffnet sich eine Sphäre der Freiheit.

Und die besitzt eine innere Verwandtschaft zu dem, was Schiller Schein nennt. Wenn gegenüber allen Sachzwängen und prozessualen Notwendigkeiten, die in der Naturwissenschaft erkannt werden und in der Ökonomie und Politik herrschen, dann in der Ästhetik von der Antizipation, von dem Unabgegoltenen die Rede ist, von dem Ideologischen, von der Utopie, also immer von dem, was gemessen am Faktischen nur den Charakter des Illusionären – des noch nicht Geborenen – besitzt, d.h. dessen, was nur in der Einbildung existiert und auch Wirkungen hinterlässt. Wenn das eine eigene Realität darstellt, die unmittelbar mit dem Spiel in Zusammenhang steht, dann erfüllt das genau den Sinn von Schein, von dem Schiller spricht. Der Schein wird von ihm ausgezeichnet.

„Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine gewisse Affinität miteinander, daß beide nur das Reelle suchen und für den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind.“

Schiller scheint der Auffassung zu sein, dass seine ästhetischen Gedanken nicht nur reine Theorie sind, sondern in den wirklichen Verhältnissen eine eigene Prozesskraft besitzen, die real auch Wirkung hinterlässt.

„Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse ab-

nimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.“

Wollte man dem Rückzug auf eine anthropologische Begründung der ästhetischen Anlage im Menschen nicht zustimmen, und stünde man auch einer evidenten Erscheinung der Ästhetik im historischen Geschehen skeptisch gegenüber, dann ist die Frage nach der pragmatischen Geltung der Position von Schiller nicht abzuwehren. Die gegenwärtigen Verhältnisse sind im Vergleich zu denen von Schiller sicher grundverschieden.  Erstens – wenn hier nur die klar erkennbaren Punkte genannt werden –  handelt es sich bei Schiller um eine Reaktion auf revolutionäre Vorgänge, die gegenwärtig in den Ländern Westeuropas nicht existieren, zweitens kann unter den – wie auch immer kritisierten – demokratischen Verhältnissen nicht von einer Elite gesprochen werden, die sich eine ästhetischen Erziehung der Bevölkerung  zur Aufgabe machte und dazu auch die Kompetenz besäße,  was Schiller zumindest implizit immer voraussetzen muss. Dazu hat die globalisierte Welt die Politik in unübersichtliche, vielfältige Probleme hineingeführt, die pragmatische Lösungen in der Form von internationalen Vereinbarungen  erfordern, die demokratisch kaum zu kontrollieren sind und von keiner Elite getragen werden, die sich des Vertrauens der Völker erfreuen kann. Kriege und brutale Ereignisse füllen die Medien, dass für eine ästhetische Intervention im Sinne Schillers kein Raum zu sein scheint. Das Vertrauen in Eliten ist für die Generationen des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute nachhaltig zerstört. Zu revolutionären Perspektiven in humaner Absicht, scheint sich keine politische Konzeption – wie die von Walter – mehr aufschwingen zu können. Schadensbegrenzung und Wiedergutmachung sind Ausdrücke der scheint´s mäßigenden, klugen Veralltäglichung der Politik im Zeitalter der Globalisierung. Hinzu kommt die alle Grenzen sprengende Produktivität des Kapitalismus, die die Bevölkerung in den westlichen Ländern in einen Rausch des Konsumismus versetzt hat und die es  auf diese Weise in das bestehende System einbindet. Die Attraktion der immer neuen Produkte und der damit gegebenen Lebensstile hält auch die Bevölkerungsteile in Atem, die noch nicht in ihren Genuss gekommen sind. Religiöser Fanatismus, der sich dieser Tendenz widersetzt, antwortet mit dem Terror  vormoderner Zeiten, wenn man die Moderne im Sinne von Jürgen Habermas vor allem als „okzidentalen Rationalismus“ versteht, dessen Höhepunkt sicherlich das von ihm entworfene „kommunikative Handeln“ ist.

Wollte man über die Anschlussfähigkeit der ästhetischen Theorie von Schiller an den gegenwärtigen Zeitgeist Aussagen machen oder seine Realisierbarkeit in Bezug auf den gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Produktivkräfte reflektieren, so stehen die Zeichen keineswegs besser als zur Zeit Schillers. Wenn man den Blick so weit wie möglich von der Gegenwart entfernt, um zu einem Urteil über sie fähig zu sein, dann ließe sich mit aller Vorsicht in einer schematischen Darstellung eine Gegenüberstellung begrifflich zeichnen: Schiller hatte es zu tun mit einer Revolution und idealistischen Theorien der Abstraktion, wir haben es in unserem kulturellen Bereich mit einem Konsumismus und der Negation von Abstraktion zu tun.

Die Negation der Abstraktion ist eine Chiffre, die den relativistischen Zeitgeist, wie er sich im zwanzigsten Jahrhundert ausgebreitet hat, in seinen vielfältigen Erscheinungen und Bezügen beschreiben soll, ohne hier eine endgültige Theorie vorzulegen. Als Beginn  kann Wittgensteins „Tractatus logico philosophicus“ angesehen werden, in dem der Philosophie jede inhaltlich substanzielle Aussage abgesprochen wird; wahre Sätze sind nur noch die der empirischen Naturwissenschaften.  Wittgensteins spätere Theorie der Sprachspiele setzt die Auflösung von Argumentationsformen fort, denen traditionell Gewissheit  zugesprochen wurde. Diese sprachphilosophische Erosion traditioneller philosophischer Gehalte reicht bis zu Lyotards postmoderner Einstufung philosophischer Theorien als Erzählungen. Die populäre, subjektivistische Interpretation der Quantentheorie kommt hinzu, nach der Objektivität prinzipiell nicht mehr gegeben sei.  Flankiert wird diese Auffassung durch die relativierende Interpretation  von Kuhns Theorie der Wissenschaftsgeschichte, der gemäß  es sich bei den jeweils geltenden Theorien stets nur um Paradigmen handelte, denen alle einzelnen Bestandteile der Theorie kompatibel sei müssten, ohne dass ihnen eine Allgemeingültigkeit zugesprochen werden könnte.  Feyerabends anarchistische Wissenschaftmethode könnte erwähnt werden. Sicherlich auch die Attacke einiger renommierter Hirnforscher, die Bewusstsein und Freiheit der Menschen als Schein deklarieren.  Die Postmoderne versteht sich selbst als Richtung, die im Engagement für Vielfalt nicht alles Einzelne gleich wieder einem Allgemeinen, Ganzen zuordnet, in dem sich wieder das abstrakte Absolute durchsetzen könnte. In einer Epoche zunehmender Globalisierung der Verhältnisse scheint die nichtlineare chaotische Dynamik von Fraktalen für viele Intellektuelle interessanter zu sein als die Lebenswelt der Menschen in Raum und Zeit.

Das große Ganze, die über alles Gegenwärtige hinausweisenden Ideen, das Absolute in metaphysischer oder religiöser Gestalt, die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit wissenschaftlicher Urteile, das also, was stets  in der traditionellen Philosophie einen Vorrang besaß, scheint in die Krise gekommen zu sein. Wenn man bei aller bewussten Gefahr der Subsumtion und Verallgemeinerung  den Gegensatz unseres Zeitgeistes zu dem von Schiller auf den Begriff bringen wollte und alle dekonstruktivistische Methode außen vor ließe, dann ließe sich sagen: bei Schiller handelte es sich um Revolution und Abstraktion, um die gewalttätige Wut des Volkes in Verbindung mit dem Kult der Vernunft oder dem des höchsten Wesens, während heute der Konsumismus und die Negation der Abstraktion den Geist der Zeit bestimmen,

d.h. ein Leben in den gegenwärtigen Problemen ohne utopische Ausblicke, ohne Verneinungen des Bestehenden, die gegenüber allen pragmatischen Lösungen konkreter Probleme, die auf der Tagesordnung stehen, immer abstrakt bleiben, ein nicht einzugemeindendes Maß, eine Drohung des Sollens aus der Ferne, eine Relativierung des alltäglichen Relativen, ein Wissen, das Wahrheit kennt und nicht nur die Beliebigkeit von Erzählungen und Sprachspielen.

Sind in dieser neuen historischen Konstellation Schillers ästhetische Gedanke obsolet? Bilden Spiel und Schein nicht die dem Konsumismus zugehörigen, harmlosen, verharmlosenden Medien der Integration? Design statt Sein, wie ein bekannter Slogan sagt? Was wäre neu zu denken? Welche Konzeption oder Intuition entspräche den Erfahrungen mit den Revolutionen der Neuzeit? Eine Konzeption, die weder im Interesse der Ideen das konkrete gegenwärtige Leben negierte, noch im Interesse eines ungestörten gegenwärtigen Lebens alles Ideelle wie etwas Gefährliches abwehrte? Vielleicht ist die Zeit – und zwar gerade durch die postmodernen Einstellungen – reif dazu, ohne Gewaltexzesse die Realisierung von Ideen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anzustreben, in Formen von Spiel und Schein im Sinne Schillers, die belebend und bewegend auf eine Gegenwart einwirken, die in der zukunftslosen Bewältigung der aktuellen Probleme und Zwänge gefangen und verkrampft zu sein scheint. Vielleicht muss auch erst eine Möglichkeit gedacht werden, ehe eine Realität daraus entspringen kann. Vielleicht steckt in der spielerischen Anwendung des kategorischen Imperativs doch eine geheime, noch nicht entbundene Attraktion, die unwiderstehlich mit dem Unbedingten spielen lässt und alles Kaufbare, Belustigende und Unterhaltsame blass aussehen lässt, denn wahren Enthusiasmus gibt es doch nur im Moralischen, wie wir von dem weisen Kant wissen.