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Metaphysik und Existenz

Beitrag zum Katalog der Ausstellung Social Dogma. Ein Filmprojekt von Thomas Henke mit Studierenden der FH Bielefeld. Studiengalerie: 14.07. – 26.09. 2010.
Dr. Gerhard Stamer

“Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht ist es nötig, daß sich das All wappne, um ihn zu vernichten: ein Windhauch, ein Wassertropfen reichen hin, um ihn zu töten. Aber, wenn das All ihn vernichten würde, so wäre der Mensch doch edler als das, was ihn zerstört, denn er weiß, daß er stirbt, und er kennt die Übermacht des Weltalls über ihn; das Weltall aber weiß nichts davon.” (Blaise Pascal, Persées)

Was wäre, wenn die Menschen plötzlich die Physik vergessen hätten? Wir können uns das gar nicht ausmalen. Die gesamte technische Welt, die auf der Physik beruht, würde zusammenstürzen. Wir wüßten nichts mehr mit ihr anzufangen. Könnte es sein, daß die Folgen nicht geringer wären, wenn wie es heute der Fall ist, wir die Metaphysik vergessen hätten, wenn wir kein Verständnis mehr für sie aufbrächten? Es ließe sich natürlich darüber debattieren, wie das hat passieren können. Aber wer den Verlust nicht verspürt, wird keinen Anlaß haben, ihn zu beklagen. Wer ihn jedoch spürt, wird nicht nur dazu in der Lage sein müssen, zu sagen, was Metaphysik sei. Es wird nicht reichen zu wissen, was Metaphysik sei. Es ist nötig zu wissen, was heute den Zugang zu ihr verwehrt und über welchen Weg das Verständnis für sie wieder zu erlangen sei.

Unbestreitbar ist der Ausgangspunkt aller Betrachtungen, die wir über das Leben der Menschen anstellen, die Existenz einzelner Menschen, so banal es sich anhört. Die Einzelheit ist die Grundform der Existenz. Als Einzelne kommen wir auf die Welt. Jeder muß sein Leben führen, keiner das eines anderen. Das Gleiche gilt vom Tod. Jeder stirbt seinen Tod, keiner den eines anderen. Alle Gemeinschaft – auch die der gemeinsamen Sprache – hebt diese Einzelheit nicht auf. Jeder bleibt auch in der Gemeinschaft ein Einzelner. Das Allgemeine ist nichts von den einzelnen Individuen Getrenntes, sondern das, was ihnen allen gemeinsam ist. Der Gesichtspunkt der Einzelheit ist radikal. Wenn meine Einzelheit liquidiert wird, bin ich selbst liquidiert. Keine Vervielfältigung durch das Klonen beispielsweise hebt die Einzelheit auf. Jeder führt ein einmaliges Leben. Keiner kann zur gleichen Zeit an der Stelle eines andern sein. Ein fallender Stein trifft nur ein Exemplar zweier völlig gleicher Individuen. Kein Schicksal ist identisch mit dem eines anderen. Einzelheit bedeutet Einzigartigkeit.
Das wird nun aber zumeist nicht so empfunden. Die Dimensionen, die heute unsere Lebenswelt bestimmen, lassen das Verständnis für die Einzelheit nicht aufkommen. Das betrifft die Naturwissenschaft wie die Technik und die Ökonomie. Auch wenn es in der Medizin oder der Justiz nicht ohne die Einzelfallbehandlung geht, es kann keine Naturwissenschaft der Einzelfälle geben. Die Methode der Naturwissenschaft besteht darin, allgemeine Gesetze zu ermitteln. Welcher Stein im einzelnen fällt, interessiert die Naturwissenschaft nicht, ihr Interesse als einer Theorie ist auf das Gesetz gerichtet, nach dem er fällt. In der Gleichgültigkeit der Objektivität stellen sich keine metaphysischen Fragen. In naturwissenschaftlicher Einstellung bin ich prinzipiell nur ein Objekt, von denen es viele gibt. Es muß verwaltet, ausgebildet, mit Arbeit versehen werden usw.
Das betrifft auch die Technik. Die technische Umsetzung der naturwissenschaftlichen Gesetze ist – bis auf Ausnahmen – ebenfalls auf die Produktion von Serien gerichtet, nicht auf die Herstellung von Unikaten. Würde jedes Auto eine singuläre technische Form besitzen, so daß die Anwendung für jedes Auto verschieden wäre, gäbe es keine Fahrschulen; für jedes einzelne Auto müßte eine eigene Bedienung erlernt werden. Jede Brücke, die errichtet wird, hätte ganz spezifische Konstruktionsbedingungen, die nur für sie relevant wären. Ein Lernen, d.h. der Erwerb allgemeiner Kenntnisse, die beim Bau jeder Brücke Anwendung fänden, nur spezifiziert werden müßten, gäbe es nicht. Lernen wäre in der Konsequenz ausgeschlossen.

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Daß schließlich das Geld wie die Naturwissenschaft und die Technik Ausdruck eines allgemeinen Tauschwerts ist, in dem der Gebrauchswert erloschen ist zeigt, daß auch im Ökonomischen das Abstrakte, das Allgemeine herrscht.

Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie, diese drei Dimensionen, die die moderne Gesellschaft entscheidend bestimmen, bringen also den Vorrang des Allgemeinen gegenüber dem Einzelnen mit sich. Das geschieht unbemerkt und zwangsläufig, bedarf keiner besonderen Entscheidung. Es ist daher kein Wunder, wenn in der Konsequenz diese Blickrichtung auch auf die Menschen selbst angewendet wird, wenn wir uns selbst unter diesen Gesichtspunkten betrachten, deuten und schließlich behandeln. Die einzigartigen Menschenwesen werden auf Quantitäten reduziert wie beliebige Materialien, die verwertet werden: Sie sind Kostenfaktoren im Sozialwesen, Stimmen in Wahlen und Todesfälle in Kriegen.

Solange Menschen sich in der Weise betrachten, verstehen sie weder sich selbst, geschweige denn die Metaphysik. Der Mensch, nicht als allgemeiner, sondern als einzelner muß in den Blick rücken, wenn er seine eigene Lebensform und Wirklichkeit begreifen will. Zumeist unter Zwängen und Gewohnheiten haben wir uns den allgemeinen Lebenbedingungen angepaßt. Nur in Grenzsituationen wie Trennungen, dem Tod nahestehender Menschen, dem Scheitern von Lebensplänen oder schweren Krankheiten steht das Leben als das Ganze der Existenz uns vor Augen. Wir vollziehen es dann nicht nur, sondern erschauen es als das gegebene Sein, erfahren es als persönliche Frage, welche Antwort wir – d.h. jeder einzelne – darauf geben soll. Das Leben ist nichts Vorgeformtes, daß es nur wie auf einer schiefen Ebene herunter zu rollen gilt. Wir stehen ständig in Situationen, in denen wir entscheiden müssen, wie es weitergeht.

Aber das Leben vollzieht sich nicht in Grenzsituationen. Oft öffnen uns sogar Grenzsituationen nicht die Augen. Oft lassen wir auch die Härte des Lebens nicht an uns heran, wir verhalten uns zu uns selbst wie zu einem Allgemeinen, einem Exemplar seiner Art. Man ist nur einer von einer riesigen Menge. Man begreift sich nur quantitativ, d.h. gar nicht.

In solcher Situation birgt das Außergewöhnliche, mit dem wir konfrontiert werden, die Chance, das eigene Ich zu begreifen. Ich begreife es als mein Ein-und-Alles im Sinne des Wortes und überwinde die Haltung der Beliebigkeit gegenüber meinem Ich. Es geht dabei nicht nur um die erkenntnistheoretische Einsicht in das Ich, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“1 muß, wie Kant es in seiner Deduktion der reinen Verstandesbegriffe sagt. Es geht darum, wie ich mich in meinem Leben erlebe, ob ich das Gefühl meiner aus Freiheit kommenden Selbstverwirklichung erwerbe oder mich nur den Anpassungszwängen unterworfen verstehe. Es ist die Frage, ob das Außergewöhnliche mich anrührt, anders: ob es die dicke Haut, die ich mir zugelegt habe, um den Alltag zu bestehen, durchdringen kann, damit eine Besinnung möglich wird, in der ich mir mein Leben als Ganzes vor Augen führe.

Wenn das eintritt oder gelingt, ist der erste Schritt in das Gebiet der Metaphysik gemacht. Das bislang als selbstverständlich Hingenommene wird fragwürdig. Das Staunen beginnt. Ist nicht nur die außergewöhnliche Existenz ungewöhnlich und außergewöhnlich, sondern jede, auch meine eigene?

Wenn ich denn eine Einheit von Körper, Seele und Geist sein soll, kann ich denn überhaupt noch etwas mit den Begriffen Seele und Geist anfangen? Wie ist es möglich, daß mein Gehirn in meinem Kopf sitzt und ich ohne mein Hier-und-Jetzt-Sein zu verändern in meinem Bewußtsein weit – bis ins Unendliche – über den Ort meiner Anwesenheit hinausgehen kann?

1 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131

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Bin ich mit allen fernliegenden Gegenständen in Raum und Zeit, die ich denke und mir vorstelle, durch elektromagnetische Wellen verbunden wie kabellose Telephone? Das ist aber wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Was verbindet eigentlich das Denken mit dem Sein? Physikalisch geschieht es offensichtlich nicht, denn der Gedanke ist an dem Gegenstand, den ich denke, nicht meßbar oder sonst irgendwie nachweisbar. Aber irgend eine geistige Beziehung besteht doch, denn ich denke einen ganz bestimmten Gegenstand, den ich nicht
der Phantasie entnehme, während andererseits ich es bin, der die Tätigkeit des Denkens ausübt – und nicht der Gegenstand -, durch die er jetzt als Gedanke in meinem Bewußtsein ist. Irgendeine bestimmte Art von Beziehung muß es geben, denn ich denke auch Gegenstände, mit denen ich niemals in räumlichen oder zeitlichen Kontakt stand, die also meine eigene Erfahrung übersteigen. Was befähigt mich dazu? Gibt es ein geistiges Band zwischen meinem Ich und der Welt? Was wäre das: der Geist? Und was bedeutete diese Annahme für meine Sicht der Welt? Wenn ich eine geistige Kompatibilität zwischen Denken und Sein annehme, habe ich die Grenze der Physik überschritten und ich bin mitten in der Metaphysik.

Ich versichere mich dessen, daß diese Gedanken, auf die ich gekommen bin, nicht nur meiner Einbildungskraft entsprungen sind. Bereits Heraklit, 500 Jahre vor Christus, ist auf den Gedanken des Logos gekommen, das „en kai pan“, das Eine, das in allem ist. Übersetzt könnte das heißen: Die eine geistige Potenz, mein Denken, kann, wovon die Wissenschaft unentwegt Gebrauch macht, die verschiedensten Vorkommnisse in Raum und Zeit zum Gegenstand machen, ohne selbst aber dabei den Stoff oder die Form des gedachten Gegenstandes selbst anzunehmen, sondern in allen Denkakten die gleiche eigene immaterielle Qualität zu behalten. Würde sie irgendeine materielle Qualität annehmen oder besitzen, dann müßte sie ihre universelle Qualität, eben geistig in das Wesen der verschiedensten Dinge eindringen zu können, d.h. sie definieren zu können, verlieren. Wir erkennen, daß wenn die Wahrheit – wie die mittelalterliche Bestimmung sagt – die Übereinstimmung von Begriff und Sache ist, sie das größte bisher ungelöste Problem darstellt. Aber weiter: Kann man sich denn diese Beziehung von Denken und Sein nur als eine einseitige Betätigung des Denkens vorstellen? Müßte man sich die gesamte Sphäre, die Raum und Zeit bilden, nicht so vorstellen, daß sie zumindest von der Art ist, das Denken, das Gedachtwerden zuzulassen? Müßte man sich den ganzen Zusammenhang, den Raum und Zeit bilden, nicht so vorstellen, daß er insgesamt auch eine geistige Qualität besitzt und daß das menschliche Denken nur ein Teil, eine Seite davon ist? Wo sollte die menschliche Denkfähigkeit herrühren, wenn nicht aus der Natur selbst? Es sei denn, sie wäre vom Himmel gefallen, dem Menschen zugefallen.

Unversehens sind wir mitten in der traditionellen Metaphysik von Platon bis Hegel gelandet, in welcher der Geist als das eine Allgemeine galt, das die Erkennbarkeit eines jeden einzelnen Phänomens erlaubt und zugleich auch wesentlich zur Struktur der Dinge gehört, die ihre Definition ausmacht.

Wir sind mit unseren Gedanken vom Existenziellen ausgegangen und beim ganz Allgemeinen gelandet. Wobei dies nur eine der Möglichkeiten war, in die Metaphysik einzusteigen.
Die Argumentation scheint ohne Zeitbezug zur Gegenwart zu sein. Tatsächlich aber ist sie fundiert in verschiedenen Richtungen der modernen Philosophie. Nachdem Hegel noch einmal ein gigantisches traditionelles Metaphysikgebäude mit seiner Philosophie errichtet hatte, indem er die Weltgeschichte als den Prozeß der Selbstverwirklichung Gottes interpretierte und darstellte, so daß alles Endliche im Unendlichen enthalten war, trat bereits eine Generation später in der Gestalt von Kierkegaard ein religiöses Philosophieren auf, das gerade aus der Ungewißheit des Endlichen gegenüber dem Unendlichen – man könnte auch sagen: der Verlassenheit von jenem durch dieses – die notwendige und nicht zu überspringende Perspektive des Einzelnen zu neuer Würde brachte. Eine „Leidenschaft des

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Innerlichen“ entsprang für Kierkegaard daraus, dass die Position des Unendlichen vom endlichen, einzelnen Menschen nicht bezogen werden könnte, obwohl paradoxerweise im endlichen Bewußtsein das Unendliche enthalten sei.
Im Allgemeinen zu bleiben, war schon für Goethe das Merkmal eines unverbindlichen Denkens, das die Chance zur Einmaligkeit nicht ergriff und daher seine Wirklichkeit in voller Aufmerksamkeit nicht erfaßte.

Auch in Heideggers Begriff der Eigentlichkeit kommt diese Möglichkeit zum Ausdruck, die Oberflächlichkeit eines Dahinlebens zu durchbrechen, das nur in der Erfüllung von Konventionen in den alltäglichen Verrichtungen aufgeht, ohne das Menschsein in seiner Weite und Tiefe sich bewußt zu machen. Die Gewißheit des eigenen Todes im Leben kann in Sorge und der daraus entspringenden Entschlossenheit eine bewußte Lebensführung bewirken, die den Bedingungen der eigenen Existenz gemäß ist.

Das Unendliche ist an die Existenz des Endlichen gebunden – so realisiert sich Menschsein. Das Endliche wiederum kann dem nicht ausweichen, in den Koordinaten des Unendlichen sich einrichten zu müssen. So ist das Leben der Menschen prinzipiell ein Grenzfall. Dies kann durch die Grenzsituation oder durch das Außergewöhnliche bewußt werden – und dadurch zu einer Lebenseinstellung führen, die den Widernissen des Lebens trotzt.

Theodor W. Adorno hat in seiner Negativen Dialektik dieser Position im Begriff des Nichtidentischen einen kategorialen Ausdruck verliehen, wenn auch in der geradezu hoffnungslosen Einschätzung, daß dieses nur in äußerst seltenen Situationen, in den punktuellen Eingebungen von Künstlern oder Kindern auftreten könnte. Das Prinzip der Identifikation hätte die gesamte Gesellschaft bis in die inneren Strukturen der Individuen hinein erfaßt und geprägt, so daß das Nichtidentische, das Inkommensurable wie es bei ihm heißt, imgrunde nur die Chiffre für Transzendenz ist.

In der Existenzphilosophie von Karl Jaspers gewinnt das Außergewöhnliche, die Ausnahme hingegen einen Wirklichkeitsstatus, wenn auch in ambivalenter Form. Einerseits ist die Ausnahme der „faktische Durchbruch durch jede Weise des Allgemeinen.“2 Andererseits verstünde sich die Ausnahme nur im Gegensatz zum Allgemeinen. Aber die Verschränkung der Ausnahme mit dem Allgemeinen wird von Jaspers noch konsequenter gedacht. Das Allgemeine ist keine hermetisch geschlossene Sphäre gegenüber den einzelnen Ausnahmen. Im historischen Verlauf zeigt sich, daß das Einzelne, das sich aus eigener Unmittelbarkeit gegen das Allgemeine versteht, gerade in Form des Widerstands in das Allgemeine Eingang findet, sich integriert, und wenn nicht, so doch das Allgemeine verändert. Integration des Einzelnen und Veränderung des Allgemeinen stellen einen einzigen Prozeß dar. So gehört die Ausnahme selbst zum prozeßhaft verstandenen Allgemeinen. Jedes Einzelne ist existenziell gesehen eine Ausnahme.

„Die Ausnahme ist nicht nur ein seltenes Vorkommnis an der Grenze – dieses in den äußersten und erschütterndsten Gestalten, wie Sokrates – sondern das Allgegenwärtige jeder möglichen Existenz.“3 Damit ist das menschliche Individuum als der Gegensatz zum Massepunkt gedacht, als Gegenpol zu einer quantitativen Bestimmung.

Ganz eng mit dem Begriff der Existenz ist in der Philosophie von Jaspers die Freiheit verbunden. Sie erfährt sich als durch Transzendenz gegeben.
„Existenz ist das Selbstsein, das sich zu sich selbst und darin zu der Transzendenz verhält, durch die es sich geschenkt weiß, und auf die es sich gründet.“4 Das heißt: Wer durchdringt zu dem Bewußtsein seiner Existenz dringt auch durch zum Bereich der Metaphysik. Metaphysik ist das Ergebnis konsequenter Selbstbesinnung. Ich und Welt, Physik und Metaphysik gehören aufs Engste zusammen. Die Metaphysik verhält sich nicht wie das

2 Karl Jaspers, Existenzphilosophie, Berlin 1956, S. 37 3 ebenda, S. 39
4 ebenda, S. 17

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Unwirkliche zur Physik, sondern Physik und Metaphysik zusammen machen die Wirklichkeit aus.
Metaphysik ist das Fragen nach dem Ganzen, ist die Offenheit für das Fragen über alle Grenzen hinaus, ist die Überzeugung, daß alles nur im Kontext mit dem Ganzen richtig verstanden werden kann, sei dies Ganze der Kosmos, der Logos, das Sein, die Natur oder Gott. Wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dann ist eine Erkenntnis der Teile ohne Reflexion auf das Ganze ohnehin nicht möglich, d.h. Analyse ohne Synthese ein verfehltes Verfahren.

Das Ich und die Welt als Ganze sind auf wundersame Weise aufeinander bezogen: In einem noch tieferen Sinn als Kant es in seiner Deduktion der reinen Verstandesbeigriffe darstellt. Dort heißt es wie bereits zitiert, „das Ich denke müsse alle meine Vorstellungen begleiten können“. Das transzendentale allen Vorstellungen zugrunde liegende Selbstbewußtsein muß ein Bleibendes sein, wenn eine durchgängige in der Erinnerung aufbewahrte und unentwegt erweiterte Biographie möglich sein soll, ja, wenn überhaupt Erkenntnis möglich sein soll, die nur als fortlaufender Lernprozeß unter der Bedingung der Erhaltung des bereits Erlernten denkbar ist.

Das Ich denke konstituiert aber nicht nur das identische Selbstbewußtsein des menschlichen, biographischen Daseins als einer kontinuierlich sich entwickelnden durchgängigen Einheit, sondern die Welt selbst. Dies ist der tiefste und unmittelbarste Bezug der menschlichen Wirklichkeit zur Metaphysik, anders: ein Beweis dafür, daß Metaphysik direkt zur Wirklichkeit des Menschen gehört. Dies besitzt – methodisch gesehen – eine nicht zu leugnende Evidenz in der inneren Erfahrung, im Erleben des Selbst, in der Gegenwärtigkeit unseres Daseins.

Ohne diese wären wir nicht. Wovon rede ich? Warum konstituiert das Ich die Welt, während es doch anderseits ein Produkt der Natur ist? Was ist Welt? Ohne es kompliziert auszudrücken oder abzuleiten: Zunächst das uns in Raum und Zeit Umgebende mit allen seinen Vorkommnissen. Raum und Zeit sind durch ihre Ausdehnung gekennzeichnet. Im Raum ist alles nebeneinander, in der Zeit alles nacheinander, jeweils bis in die Unendlichkeit. Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ist aber nicht nur ein Neben- und Nacheinander. Würde es nur Raum und Zeit geben, d.h. die Koordinaten der Ausdehnung, dann könnte unser Ich nur ein Glied in der Kette des Nebeneinanders und Nacheinanders sein, und als solches Glied nur Berührung haben mit den Gliedern, die sich vor oder hinter ihm befinden. Gleiches gälte für die Erkenntnis. Wir würden nur von den benachbarten Gliedern etwas wissen. Wir würden wie unser Körper situiert sein. Wir würden nur erkennen, wozu unsere Sinne Zugang verschaffen. Unser mit dem Bewußtsein verknüpftes Ich ist aber von völlig anderer Art. Es überspringt nicht nur die Raum-Zeitpunkte, es überfliegt sie nicht nur, es sammelt sie auch nicht sukzessive auf, sondern transzendiert jeden Ort der physischen Anwesenheit. Indem es nicht nur alle Kenntnisse der gegenwärtigen Situation mit denen der Erinnerung und etwaigen Zukunftsvorstellungen verbindet, sondern alle Informationen gewissermaßen aus allen ontologischen Bereichen wie Physik, Biologie, Gesellschaft, Kultur zu einem Ganzen verknüpft, einem Ganzen, das ihm schon a priori zugehört, schafft es den Zusammenhang, den wir Welt nennen. Diese Befähigung zum Ganzen, die unserem Erkenntnisvermögen zugrunde liegt, ist es, die einen Zusammenhang von allem bildet, was in Raum und Zeit geschieht und in allen Bereichen des Seins vorkommt: Schwerkraft, Licht, Leben, Kunst, Politik usw. Dieses Konzentrat nennen wir Welt. Diese Synthese wird von dem Ich geleistet. Nicht die reine Ausdehnung ohne Zusammenfügung würde die Vorstellung einer Welt ergeben, sondern nur die geistige Kraft des Zusammenfließens von allem Einzelnen zu einem zusammenhängenden ins Unendliche verlaufenden Ganzen. Mit dieser Befähigung treten die Individuen in die Kommunikation mit den anderen ein. Das Ich ist es also, das die Konzentration erzeugt, die wir Welt nennen. Das heißt: Das Ich ist als metaphysisch

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unmittelbar wirklich, denn die Weltbildung, die Synthese von allem, was es gibt, in ein Ganzes, ist kein physikalischer Vorgang. Das Geistige in seiner apriorischen Zugehörigkeit zum Ich ist ein Metaphysisches in der unmittelbaren Wirklichkeit. Die Unterscheidung von res extensa und res cogitans, die Descartes vorgenommen hat, gelangt hier zur Evidenz in einem jeden Wesen, das über Verstand,Vernunft und Bewußtsein verfügt. Im Menschen ist beides vereint: Er ist Körper und nimmt damit teil an der zeitlich und räumlich ausgedehnten Wirklichkeit; und er ist Geist in der Sphäre seiner metaphysischen Weltbildung, in welcher der Ort seiner Anwesenheit nur einer aller möglichen Gedanken seiner Aufmerksamkeit ist.

Die in der Form der Ausdehnung von Raum und Zeit uns umgebende Wirklichkeit, ist nicht das Konzentrat, das die Welt darstellt – und kann es auch nicht sein. Nur das Ich kann es sein, das diese Leistung im transzendentalen Sinne Kants zuwege bringt. Den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis im Subjekt noch vorgelagert ist die Verbindung des Subjekts mit der raum-zeitlichen Sphäre der Ausdehnung. Mit ihr sind wir geistig verbunden, indem das bewußte und denkende Ich die Synthese der Weltbildung vollbringt. Die Metaphysik hat damit eine neue Gestalt angenommen. Sie ist nicht mehr die Disziplin der Spekulation über ein unerschließbares Jenseits, das über das Diesseits herrscht, wofür sie in früheren Zeiten oft galt, sondern ist in der Erfahrung des lebendigen Ichs eines jeden Menschen diesseitig begründet. Das Metaphysische liegt unmittelbar im Menschen, nicht in der Transzendenz. Damit ist nicht gesagt, daß es kein Jenseits der Erkenntnis gäbe. Die Mystik kann verstanden werden als die Befähigung zur vollkommenen inneren Konzentration auf die allen Menschen zugehörige Wirklichkeit des Geistigen. Einsteins Relativitätstheorie und Heisenbergs Unschärferelation sind nur die Ausläufer einer rein physikalischen Betrachtung der Natur, die in eine Sackgasse verläuft. Das wirkliche Welträtsel liegt in der Beziehung von Physik und Metaphysik, in der Kompatibilität des zur geistigen Synthese fähigen Subjekts der Erkenntnis mit der es umgebenden Sphäre raum-zeitlicher Ausdehnung. Es kann also heute keine Rede von einem nachmetaphysischen Zeitalter sein. Zuende ist lediglich eine Epoche, in welcher die metaphysische Qualität des Menschen als Beziehung zum Jenseits gedeutet wurde. Die materialistische Aufklärung hat mit der Negation des Jenseits zugleich die Metaphysik kassiert. Die Wiederaneignung der Metaphysik als des unbedingt Menschlichen wäre die richtige Konsequenz gewesen, statt dessen ist durch die Aufklärung in ihrer verbreiteten materialistischen Variante eine wesentliche Qualität des Menschseins entfremdet worden; vernichtet werden konnte sie nicht, da sie zu sehr zum Wesen des Menschen gehört. Diese Aufklärung hat ihre Unwahrheit immer daran erleiden müssen, daß sie den Menschen zwar als ein irdisches Wesen stärker etablierte als alle Epochen zuvor, aber seine geistige Wirklichkeit ignorierte oder leugnete. Dieser Typus von Aufklärung als einer Weltanschauung, die sich mit den die Moderne beherrschenden Dimensionen von Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie etablierte, konnte sich in der Form der Herrschaft über Natur durchsetzen, aber nicht als Verwirklichung des Wesens der Menschen. Daran ist dieser gesamte gesellschaftlich-kulturelle Zusammenhang bereits in die Krise geraten – und muß daran auch zugrunde gehen; was durch die Globalisierung nur verdeckt wird: Die gesamte Historie ist zu sehr die Verwirklichung des Wesens der Menschen, wenn auch über viele sich selbst zugefügte Katastrophen. Wenn man so will, könnte man auch sagen, das Zeitalter der Physik geht seinem Ende entgegen, das der Einheit von Physik und Metaphysik steht am Anfang, auch wenn dies heute noch überhaupt nicht so wahrgenommen wird. Die Metaphysik gerät in solch einem Verständnis nicht in die Gefahr für ein Moment des Totalitarismus gehalten zu werden, wie es noch Chirico in erschreckender, abstrakter Größe gemalt hat. Metaphysik kann verstanden werden als mein Innerstes, das mich nicht nur biologisch, sondern auch geistig mit den Natur und dem All verbindet. Ich bin verbunden und weiß mich darin zu Hause.

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Mit der Frage danach, wie ich denn zu diesem Verständnis der Metaphysik als meinem innersten geistigen Wesen kommen kann, kehre ich zum Ausgangspunkt meines Gedankengangs zurück. Die Metaphysik als theoretische Gestalt eines unerforschlichen Jenseits, worunter wir Menschen uns zu beugen hätten ist so passé wie das Verständnis der Metaphysik als Ausdruck unwissenschaftlicher, voraufklärerischer Weltdeutung, die zur Flucht aus einem unerträglichen Diesseits dienen konnte. Aber die Metaphysik als ein konstitutiver Faktor des menschlichen Daseins erschließt sich nicht automatisch. Man könnte an Platons Höhlengleichnis denken, um die Anstrengung zu beschreiben, die nötig ist, um die allein dem abstrakten nach Innen gewandten Denken zugängliche Erkenntnis des Metaphysischen zu erschließen.

Das Metaphysische wie alles Geistige ist mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbar. In unserem alltäglichen Leben befinden wir uns immer noch auf der primitiven Stufe, nur das als wirklich anerkennen zu wollen, was wir sinnlich -. man kann auch sagen empirisch – verifizieren können. Die unserem inneren Erleben sich erschließende Erfahrung wird dann trotz unabweisbarer Evidenz nicht zur Kenntnis genommen, wie als würde ein Photoapparat nur die Bilder, die er macht, für Realität halten, nicht aber den Mechanismus, mit dem er sie macht.

Die Kopernikanische Wende Kants kann noch konsequenter vollzogen werden, als er es getan hat. Kants erkenntnisleitendes Interesse bezog sich in seinen drei berühmten Kritiken auf die Begründung der drei Disziplinen Naturwissenschaft, Ethik und Ästhetik. Die Betrachtung kann aber noch näher auf den Menschen selbst, auf seine Lebensweise, seine Lebensführung bezogen werden, auf sein Sich-selbst-Wahrnehmen und sich-selbst-Erleben. Es gibt keine Garantie dafür, daß das Außergewöhnliche eines Menschen, sein Leiden, sein Scheitern, seine Trauer, seine Einsamkeit, seine Mühen in anderen Menschen eine tiefe Besinnung auslöst. Man kann auch in einer oberflächlichen neugierigen Wahrnehmung des Abnormen hängenbleiben und weder etwas Eigenes noch Allgemeines darin erkennen. Da aber vergebliche Anstrengungen, zerronnene Hoffnungen, unüberwindbare Kränkungen, bleibende Erkrankungen, Trennungen für immer, d.h. Abweichungen von der Routine der normalen Abläufe des Lebens jeden irgendwann erreichen, liegt die tiefergehende Erkenntnis nahe, daß in dem einzelnen Außergewöhnlichen, in der Krise einer Existenz das Allgemeine der Existenz, das auch mich einschließt, durchscheint oder aufblitzt.

Wenn die Aufmerksamkeit auf den einzelnen Menschen als einem bedeutungsvollen Sein erst einmal gerichtet ist, besteht die Voraussetzung, dessen Wesen zum Thema des Nachsinnens zu machen. Nur über den einzelnen Menschen ist die Metaphysik als Wirklichkeit einsichtig zu machen. Den Sinn für das Einzelne zu wecken, dazu dient die Präsenz der Ausnahme und des Außergewöhnlichen.

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Natur erleben – Natur verstehen

Beitrag auf dem 2. Festival der Philosophie in Hannover

Dr. Gerhard Stamer

  1. Eine Exkursion an die Nordsee

Es mag höchst verwunderlich sein, an der Nordsee, im Wattenmeer, eine Höhlenerfahrung zu machen. Welcher Art, werde ich versuchen darzustellen. Zunächst aber die in keiner Weise verwunderlichen Umstände, die dazu führten.

Ende März 2010 hatten mich Klaus Wächtler, emeritierter Professor für Biologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover und Hansjörg Küster, Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz Universität Hannover zu einer Exkursion mit Studenten aus dem Umkreis ihrer Fächer nach Westerhever, wohl dem bekanntesten Leuchtturm an der Nordsee eingeladen. Was lag näher, als diese beiden Experten nun meinerseits zu einem Gespräch einzuladen, als ich damit betraut wurde, auf dem Festival der Philosophie im darauf folgenden April etwas zum Thema Natur beizutragen? Für mich lag nichts näher, denn ich hatte als Philosoph durch die gemeinsame Exkursion einen beträchtlichen Zugewinn in meinem Verständnis der Natur gewonnen. Davon möchte ich  berichten. Mein Gespräch mit den beiden Experten auf dem Festival drehte sich genau darum.

Es war ein regnerischer, kalter Tag als die Exkursion gegen Abend begann. Ankommen, Quartier

Beziehen, Rausgehen war der erste unbefragte Programmpunkt. Prof. Wächtler lieh mir eine dicke Jacke, ich war nicht angemessen ausgerüstet. Natürlich war es wieder das grandiose Naturschauspiel von Wind und Wetter wie immer an der Nordsee. Die tief stehende Sonne warf einen lang gezogenen, glänzenden Strahl auf das blanke Watt. Die Verführung, einen poetischen Text über diese Eindrücke zu schreiben ist groß, aber ich verfalle nicht der Verlockung, denn in diesem Artikel geht es um etwas anderes. Es geht um die Überprüfung der Philosophie am Naturerleben.

Wie selbstverständlich wanderte der Blick des Philosophen in die Weite, zum Himmel und zum Horizont, das große Ganze wieder ästhetisch aufzusaugen. Eigentlich war es immer der ästhetische Eindruck von Weite, Licht und Frische, den ich an der Nordsee suchte, ohne irgendeine nähere Kenntnis der natürlichen Bedingungen und Fakten zu besitzen. Selbstverständlich achtete ich auch auf meine Schritte, um nicht bis zum Bauch plötzlich in einem Priel zu stehen und ein Gelächter auf mich zu ziehen wie einst Heraklit, der beim Blick zum Himmel in den Brunnen fiel. Aber diese Vorsicht war gewissermaßen nur eine sekundäre Aufmerksamkeit. Ganz anders verhielten sich meine kenntnisreichen Begleiter. Ihre Aufmerksamkeit galt zwar auch der Weite und der ästhetischen Schönheit der Landschaft, aber nicht minder dem Boden, auf  den wir traten. Wie eine Sonde ließen sie den Blick über den Boden streichen, offensichtlich lagen für sie unmittelbar vor jedem Schritt die wichtigsten Schätze für den Forschergeist

  1. Das Erlebnis des Wattenmeers

Ich war zunächst überrascht über den puren Kenntnisstand meiner beiden Experten, über die Masse an möglichem Wissen, das sich lediglich darauf bezog, was vor unseren Füßen lag. Die einfache Kenntnis des Vorhandenen, ohne Begründung, ohne Reflexion, einfach das Aufweisen des Bestandes, berührte mich eigenartig, erzeugte sogar Verwunderung. Ich bemerkte plötzlich, dass ein gewissermaßen intimes Naturverständnis möglich war, in dem man die Dinge, die man sah, mit Namen nennen konnte, dass man ihre Eigenarten kannte, ihre Ernährung, ihre Fortpflanzung, ihre Gewohnheiten, ihre Lebensdauer. Und ich stellte fest, dass dies im Zusammenhang stand mit einer gewissen Vertrautheit, einer Nähe, einem bestimmten Verhältnis zu den Phänomenen, das sich durch die Kenntnis gebildet hatte. Es handelte sich, dessen war ich mir durchaus sicher, dabei um kein spektakuläres Ereignis, eher um eine Erfahrung, die oft anzutreffen ist, wenn man plötzlich mit einer fremden Profession konfrontiert wird, deren Menge an Stoff einen in den Zustand des Anfängers versetzt. Also im Grunde nichts Besonderes. Aber doch ein Erstaunen, dass sich im Gefühl festsetzte und zum Nachdenken führte. Es blieb der Zweifel, ob wir Philosophen vielleicht doch nicht genug das Unmittelbare des Seins der Natur zu würdigen wissen.

Keineswegs werde ich nun daran gehen, zu berichten, was ich alles aufgeschnappt habe. Ich werde nicht über Wattwürmer und Salzwiesen berichten oder die vielen Vogelarten, die ich gesehen habe, aufzählen und ihre Kennzeichen nennen; ich werde nicht über den Ostatlantischen Flugweg schreiben und darstellen, welche Rolle das Wattenmeer für viele Vogelarten auf ihren weiten Reisen spielt, wie das Wattenmeer für sie geradezu als Drehscheibe zwischen Arktis und Afrika funktioniert. Über den Wechsel von Ebbe und Flut und dessen biologisch fruchtbare Wirkungen wie auch über die geologische Entstehung und Entwicklung des Wattenmeeres werde ich kein Wort verlieren. Ich werde auch nicht weiter hervorheben, worin die Einzigartigkeit des Wattenmeeres beruht, die zu der Anerkennung als Weltnaturerbe seitens der UNESCO führte. Geradezu drastisch ist der Eigenwert der biologischen Vielfalt zu erfahren. Das ganze Naturschauspiel, das Miteinander aller Arten von Pflanzen und Tieren, von Wasser, Luft und Erde kann nicht unter Gesichtspunkten der Nutzung für den Menschen, als Mittel zur Herstellung von Produkten und Waren, angesehen werden. Es ist eine Welt, die einen eigenen Sinn hat. Mir scheint, daß es dies ist, was der Empfindung aufgeht, wenn man nach der Flut des Wassers die Unberührtheit und bei der Flut die ständige Wiederkehr des Watts erlebt. Erst mal erleben! Nach diesem Motto stapften wir also zunächst durchs Watt. Bücher, Mikroskope, Vorträge, Diskussionen: Das alles kam später. Ein Naturverhältnis  durch das eigene Erleben zu erzeugen, war der didaktische Ausgangspunkt der Exkursion, wie ich begriff; sicher auch der Weg, jemanden heranzuführen an einen Gegenstand, an ein Thema, an irgendeine Angelegenheit, um sie lieben zu lernen.

Wenn ich insgesamt recht knapp meine Erfahrungen und Eindrücke, die ich auf der Exkursion machte, wiedergebe, so muß ich doch einen Punkt unbedingt ansprechen. Es handelt sich um den Vorgang der Photosynthese. Klaus Wächtler hatte auf unserer Wanderung über das Watt einige Proben von irgendwelchen Vorkommnissen genommen, unter anderem auch mit einem kleinen spachtelähnlichen Werkzeug Schaum vom Boden gekratzt und in einem Behälter aufbewahrt. Unter dem Mikroskop zeigte sich dann später, daß die gallertartige Schicht, die sich über das Watt zieht – und wozu auch der Schaum gehört – voller Leben steckt. Ich erfuhr, daß das, was ich sah, Diatomeen, einzellige Kieselalgen waren, und daß diese Lebewesen durch die Bildung organischer Stoffe mittels Sonnenenergie direkt und indirekt nahezu alle bestehenden Ökosysteme antreiben, da sie anderen Lebewesen energiereiche Baustoff- und Energiequellen liefern. Als Sauerstoff produzierende sogenannte oxygene Phototrophe erzeugen sie auch einen großen Teil des Sauerstoffs in der Erdatmosphäre. Die oxygene Photosynthese ist nicht nur der bedeutendste biogeochemische Prozess der Erde, sondern auch einer der ältesten.

Wozu führe ich das so gründlich aus? Um meine Überraschung darüber zum Ausdruck zu bringen, daß sich der Schlamm unter meinen Füßen, den ich höchstens beachtete, um nicht auf ihm auszurutschen, plötzlich in ein hochbedeutendes und ursprüngliches Lebenselement verwandelte. Was sich mir als Frage aufdrängte war klar: Schreite ich in meinen philosophischen Reflexionen und Abstraktionen unentwegt so über die Natur, über das Sein hinweg, ohne ihre Bedeutung auch nur zu ahnen? Selbstverständlich stellte sich das Bedenken ein, ob es sich nicht möglicherweise eher um eine persönliche Ignoranz gegenüber der Natur und ihren Erscheinungen handelte. Aber ohne große Mühe ließ sich die wenig beruhigende Gewissheit erlangen, dass hier wohl überhaupt eher ein generelles professioneller Defizit vorliegt.

  1. Die Ignoranz der Philosophie gegenüber dem Sinnlichen

Das lässt sich an einigen maßgeblichen Stellen der Philosophiegeschichte nachweisen. Sowohl Kant als auch Hegel beginnen in zentralen Werken mit der Sinnlichkeit als elementarer Ausgangsstufe der Erkenntnis, aber was Sinnlichkeit ist, wird dabei geradezu übersprungen.

Kant beginnt die Kritik der reinen Vernunft damit, die Sinnlichkeit als einen eigenen, primären Erkenntnisstamm aufzuweisen. „Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen;…“ (A 19) Eine kurze Lektüre zeigt aber, daß es Kant nicht um Sinnlichkeit als allgemein menschlicher Wirklichkeitserfassung geht, als Bestandteil der Lebenswelt. Kant hat Wissenschaft im Sinn. Allein die Begründung wissenschaftlicher Erkenntnis ist sein Ziel. Kant privilegiert Raum und Zeit als Anschauungsformen a priori, weil diese beiden Dimensionen unserer Erfahrung – in Geometrie und Arithmetik – einen fundamentalen Bezug zur Mathematik besitzen und dadurch Wissenschaft konstituieren. Die Beziehung zur Mathematik verbürgt die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der naturwissenschaftlichen Urteile wie Kant zeigt. Aber im Grunde überspringt er damit gerade das Sinnliche, das eben nicht zur Wissenschaft, d.h. zur Anwendung der Mathematik taugt. Der Wirklichkeitsbezug wird eingeengt auf diese beiden Koordinaten. Sie gewährleisten ohne Frage den besonderen, d.h. auch außerordentlich effektiven wissenschaftlichen Zugang zur Natur, aber stellen doch eine enorme Reduktion des allgemeinen menschlichen Verhältnisses zur Natur dar, so daß der Zweifel nicht von der Hand zu weisen ist, ob ohne Farbwahrnehmung, Gehör, Geschmack und Tastempfindung überhaupt die Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Fülle erfasst wird. Sie erhalten keinen Eingang in das System der Erkenntnis. Ja, man könnte sagen, die ganze Abstraktheit der Wissenschaft gegenüber der Lebenswelt der Menschen beruhe darauf, daß die Reduktion der Sinnlichkeit in der Festlegung auf die Koordinaten Raum und Zeit besteht. Und selbstverständlich werden die beiden Koordinaten selbst in mathematischer Abstraktion genommen, denn weder ist das subjektive Zeitempfinden darin enthalten, in welchem Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zum Bewußtsein der Zeitlichkeit verschmolzen sind, noch wird die Räumlichkeit als Ort der emotionalen Anwesenheit des Menschen, wie es im Heimatempfinden der Fall ist, darin zum Ausdruck gebracht. Für Kant scheint hier kein Problem zu liegen: „Geschmack und Farben sind gar nicht notwendige Bedingungen, unter welchen die Gegenstände allein für uns Objekte der Sinne werden können. Sie sind nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besondern Organisation mit der Erscheinung verbunden.“ (Anm. A 28) Kant interessiert sich für die reinen Formen der Anschauung, für Raum und Zeit, weil die eine Erkenntnis a priori plausibel machen und damit Naturwissenschaft als Wissenschaft begründen. Die übrigen Vorstellungen gehörten zwar auch zu den subjektiven Beschaffenheiten des erkennenden Subjekts, „z.B. des Gesichts, Gehörs, Gefühls, durch die Empfindungen der Farben, Töne und Wärme, die aber, weil sie bloß Empfindungen und nicht Anschauungen sind, an sich kein Objekt, am wenigsten a priori, erkennen lassen.“ ( A 28) Die Sinnlichkeit als natürliche Fähigkeit des Menschen liegt nicht in der Richtung von Kants Erkenntnisinteresse, folgenreich für die weitere Entwicklung der Wissenschaft.

Hegels Phänomenologie des Geistes nimmt ebenfalls seinen Ausgang von der Sinnlichkeit. Das erste Kapitel „Die sinnliche Gewißheit oder das Diese und das Meinen.“ (S. 79) überspringt in noch radikalerer Weise als Kants Kritik der reinen Vernunft den ganzen Bereich der Sinnlichkeit. Zunächst aber scheint Hegels Argumentation das Gegenteil nahe zu legen: „Der konkrete Inhalt der sinnlichen Gewißheit läßt sie unmittelbar als die reichste Erkenntnis, ja als eine Erkenntnis von unendlichem Reichtum erscheinen, für welchen eben sowohl, wenn wir im Raume und in der Zeit, als worin er sich ausbreitet, hinaus-, als wenn wir uns ein Stück aus dieser Fülle nehmen und durch Teilung in dasselbe hineingehen, keine Grenze zu finden ist. Sie erscheint außerdem als die wahrhafteste; denn sie hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich.“ Aber diese Argumentation ist nur der Beginn. Hegel zitiert den Schein der Fülle, der bei der Sinnlichkeit zunächst zu liegen scheint, um diesen dann umso mehr destruieren zu können. Das messerscharfe Kriterium, das er in der anschließenden Argumentation in Anwendung bringt, ist die Sprache. Vollkommen zu Recht behauptet er, daß sich in den Begriffen der Sprache alles Einzelne nur als Allgemeines ausdrücken lässt. Jeder Begriff versetzt die Dinge bereits in die Sphäre des Allgemeinen. Die Reduktion auf das sinnlich Einzelne in Form von Ausdrücken wie dem Hier oder Jetzt, das sinnlich wahrgenommen wird, macht den Sachverhalt nur noch allgemeiner. Daher erweist sich für Hegel die Gewissheit, die zunächst in der Unmittelbarkeit, d.h. der Fülle des jeweils Einzelnen der sinnlichen Wahrnehmung zu liegen schien als trügerisch. „Diese Gewißheit aber gibt in der Tat sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus. Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache.“ (S. 79) Dieser Argumentation kann die Logik nicht abgesprochen werden, wenn das menschliche Verhältnis zur Natur als eines angesehen wird, das allein in der Sprache besteht. Aber das ist nicht der Fall. Die sinnliche Wahrnehmung geht nicht durch den Filter der Sprache. Die Unmittelbarkeit, die in der Sinnlichkeit liegt, ist eine eigene Sphäre. Nicht nur was begriffen wird, wird empfunden. Dadurch, daß etwas empfunden wird, das nicht begriffen ist, löst es sich nicht in Nichts auf. Wollte Hegel die besondere Erkenntnisleistung der Sprache und der Begrifflichkeit herausheben, wäre ihm beizupflichten. Kein Zweifel kann daran aufkommen, welche Qualität des Seinsbezugs, welche Gewissheit durch das begriffliche Vermögen der Menschen gewährleistet wird. Aber daraus, daß Sprache und das mit ihr verbundene Denken ihren Aussagen und Urteile ein solch hohe Gewißheit verschafft, der Wahrnehmung des sinnlich Einzelnen die Realität abzusprechen, ist nicht zwingend. Es ist nur zwingend, wenn bereits im Vorhinein Wirklichkeit als Erkenntnis des Allgemeinen festgelegt ist. Für Hegel gilt dann zweifelsfrei am Ende des Kapitels: „..; das Allgemeine ist also in der Tat das Wahre der sinnlichen Gewißheit.“ (S. 82)

Noch einmal zusammengefasst: Für Hegel liegt die Sache anders als bei Kant. Hegel zeigt in brutaler Konsequenz, daß reine sinnliche Erkenntnis gar nicht möglich ist. Reine sinnliche Erkenntnis müßte ohne Begriffe auskommen. Und damit reduzierte sich die Gewißheit der sinnlichen Erfahrung auf das begrifflose Feststellen, daß etwas da ist, ohne der Sache ihren sprachlichen Ausdruck geben zu können. Nur das reine es ist  ließe sich von der sinnlichen Gewißheit ausmachen. Die sinnliche Gewißheit unterliegt daher einer Dialektik. Sie meint, gerade in der Sinnlichkeit die unmittelbare Gewißheit zu besitzen, tatsächlich aber landet sie in einem bloßen Meinen, „weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen angehört, unerreichbar ist.“ (S. 88) Hegel weiß natürlich, dass das Einzelne im Allgemeinen nicht aufgeht, aber für ihn ist das, was nicht in den Begriff aufgeht, das Nichtige, wie es in seiner Logik heißt. Hegel hätte Recht, wenn der geistige Bezug zur Wirklichkeit nur im Sprachlichen und Begrifflichen liegt, aber es ist anzunehmen, daß in der natürlichen Logik, von der er selbst spricht, d.h. auch bereits im sinnlichen Verhältnis zur Natur, eine geistige Beziehung besteht.

D. Raus aus Platons Höhle

Ich hatte natürlich weder auf der ersten Wattwanderung noch auf einer der folgenden eine Höhle gefunden. Aber meine Gedanken kreisten unentwegt um das Höhlengleichnis von Platon. Und wenn ich zu Beginn des Artikels eine Höhlenerfahrung ankündigte, so traf das vollständig zu. Das Höhlengleichnis wurde zur fundamentalen Höhlenerfahrung. Die Ausführungen, die ich bisher gemacht habe, betreffen nicht nur die Philosophie des deutschen Idealismus, sondern lassen sich auf eine philosophische Tradition zurückführen, die ihren stärksten Ausdruck in Platons Höhlengleichnis findet. Ich setze das Höhlengleichnis als allgemein bekannt voraus. Die sinnliche Wahrnehmung ist im Höhlengleichnis die normale menschliche Erkenntniseinstellung, nichtsdestotrotz die falsche Richtung, denn wir sitzen mit dem Rücken zum Ausgang der Höhle. Das sinnlich Wahrgenommene an der Wand im Inneren der Höhle seien nur Schatten. Das Leben, das sich an der Sinnlichkeit orientierte, hätte es nur mit Schatten zu tun. Es bedürfte einer radikalen Wendung, um die Wirklichkeit zu erkennen, die der Philosoph vollbringt. Natürlich liegt darin eine gravierende Herabsetzung der sinnlichen Wahrnehmung. Das Höhlengleichnis ist gewissermaßen der Sündenfall der Philosophie.

Wenn ich das Höhlengleichnis weniger religiös als erkenntnistheoretisch deute, so heißt das: Der Mensch im Alltag nimmt nur als wirklich wahr, was sich den Sinnen zeigt, den Logos aber, das Geistige, das keine sinnliche Repräsentanz besitzt, bleibt unerkannt, wird ignoriert, obwohl es  das menschliche Verhältnis zur Wirklichkeit fundamental begründet. Das gilt noch heute und trifft auf eine dogmatische empirische Wissenschaft auch noch zu.

In einer Zeit, in der sich die Wissenschaft noch nicht systematisch von der Philosophie, die Forschung noch nicht von der Weltdeutung getrennt hatte, wie es bei Platon der Fall war, war ein Bewusstsein  des Geistigen, ein Bewusstsein des Allgemeinen, wie es sich auch in Naturgesetzen zeigte, überhaupt nicht anders zu erklären als Abwendung von dem unmittelbaren Bezug auf das sinnlich Gegebene. Abstraktion und Reflexion mußten überhaupt erst entdeckt werden, mussten überhaupt erst als die sinnlich nicht wahrnehmbaren subjektiven Tätigkeiten erfasst werden.

Die Platonischen Dialoge kreisen um dieses Problem. Es ist nachzuvollziehen, daß um einen primitiven Empirismus zu überwinden, der nur eine subjektive Erfahrung ohne Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit kennt, der noch nicht zum Bewusstsein der Theorie als eigener Sphäre gelangt ist, das Bild von der Wende der Erkenntnis wie sie von Platon in dem Gleichnis von der Höhle veranschaulicht wurde, nötig war. Prinzipiell ist natürlich zu fragen, ob diese Trennung der theoretischen Einstellung von der sinnlichen Erfahrung, worin auch eine Trennung der Wissenschaft von der Lebenswelt liegt, eben nicht nur die der philosophischen Besinnung von  der Deutungslosigkeit des Dahinlebens im Alltag, der Wirklichkeit gemäß ist. Das Höhlengleichnis und die Tradition, die daran anknüpfte, hat eine Distanz zur natürlichen Einstellung in der Lebenswelt, zur Sinnlichkeit und damit auch zur Natur erzeugt, die der Philosophie nicht nur einen Zug von Esoterik vermittelte, sondern auch von Weltabgewandtheit und Weltverneinung. Es kann hier nicht die Absicht sein darzustellen, wie dieses Charakteristikum in Widerspruch steht zu anderen Motiven der Platonischen Philosophie. Das ist einer umfangreicheren Arbeit vorbehalten. Aber festzuhalten bleibt, daß das Geistige, zunächst das Denken, das alle wissenschaftliche Tätigkeit ermöglicht, bis heute in allen wissenschaftlichen Forschungen, allen empirischen Erkenntnissen selbst nicht ansichtig wird.  Und ebenso wird es nicht wahrnehmbar in allen alltäglichen Handlungen, in jedweder Praxis. Ansichtig wird es auch nicht in der Natur. Kein Naturgesetz tritt in seiner Allgemeinheit sinnlich in Erscheinung. Es sind nur einzelne Fälle der Gesetze, die wir wahrnehmen. Das Sinnliche zu überwinden scheint eine fundamentale Aufgabe zu sein, um zur theoretischen Einstellung zu gelangen, die Gewißheit verbürgt. Aber wie sollte unser Denken Naturgesetze aufstellen, die in der Natur nicht vorkommen? Naturgesetze sind nicht Produkte der Phantasie. Wären sie das, würde die Natur nicht mitspielen. Was Platon und der Tradition, die er begründete, nicht gelang, war der Gedanke, daß obwohl der Geist sinnlich in der Natur nicht wahrnehmbar ist, er doch dort zu erfassen ist. Was dann einerseits zur Folge hatte, daß der Geist in den Bereich der Theorie, auch der Kontemplation versetzt wurde,  was wiederum verständlich war, insofern er eben nur der Selbstreflexion zugänglich war. Und was andererseits zur Folge hatte, daß die Natur selbst nicht als der Bereich des Geistes angesehen wurde, sondern daß dieser eher in den der Transzendenz versetzt wurde. Eine geistlose Natur blieb übrig, allerdings doch voller Gesetze, die man in ihr fand, bzw.wie Kant sagt: ihr vorschrieb. Das alle Gesetze ein deutlicher Beweis für den Geist in der Natur sind, ging den Wissenschaftlern, aber auch den Philosophen zumeist nicht auf. Zusammengefaßt: Das Höhlengleichnis ist richtig, wenn man davon ausgeht, dass die sinnliche Erkenntnis keine eigene Erkenntnisqualität, keine eigene Erkenntnisgeltung besitzt. Richtig bleibt, dass das Allgemeine sinnlich nicht zu erfassen ist. Das Allgemeine ist keine sinnliche Qualität. Um das Allgemeine zu entdecken, war das Transzendieren des Bereichs der Sinnlichkeit erforderlich. Um aber den Geist und die Wirklichkeit der menschlichen, naturhaften Erkenntnis zu verstehen, ist es nötig, den Glauben an die Höhle zu verlassen, in der wir sitzen und nur Schatten sehen. Es ist nicht zwingend, weil der Geist nicht mit Sinnen wahrnehmbar ist, ihn in einen anderen Bereich als den der Natur zu versetzen.

Die hier vorgetragene Argumentation hat sich bewußt eine Zurückhaltung in metaphysischer Hinsicht auferlegt. Selbstverständlich lag der Grund für die Abwertung der Sinnlichkeit, auch für das Desinteresse in dem großen Strang der abendländischen Philosophie an der metaphysischen Orientierung. Unser Bewußtsein hat einen weiteren Horizont als unser konkretes wissen. Daher haben Fragen nach Gott, der Unsterblichkeit der Seele und der Unendlichkeit von Raum und Zeit, wie Kant sie aufführt, die Menschen seither immer beschäftigt. Das Bewußtsein dieses Nichtwissens gehörte daher von Beginn an zur philosophischen Besinnung. Von diesen hier genannten Fragen aber ist die Realität des Geistes – oder wenn man eine Versubjektivierung dieses Begriffs fürchtet: des Geistigen – grundsätzlich zu unterscheiden, obwohl er seit Beginn der Philosophie bei den Vorsokratikern mit ihnen verwoben wurde. Die Realität des Geistes unterscheidet sich von den genannten Fragen, weil sie eben ein Vorkommnis der Wirklichkeit ist, insofern sie als Erkenntnis ein menschliches Grundverhältnis zur umgebenden Natur darstellt, das so wenig geleugnet werden kann wie die Atmung, ein anderes Grundverhältnis zur Natur. Aus diesem Grunde habe ich meine Ausführungen über die Sinnlichkeit im Verhältnis zum Geist entwickelt und nicht zur Metaphysik. Es sollte deutlich werden, daß nicht erst eine metaphysische Einstellung zur Geringschätzung der Sinnlichkeit führte, sondern daß diese Geringschätzung bereits ihren Grund in dem Wirklichkeitsverhältnis der Erkenntnis besitzt, wie es traditionell gedeutet wurde. Eine falsche Deutung des Verhältnisses des Menschen zur Natur liegt der Geringschätzung der Sinnlichkeit zugrunde.

So weit in meinen Gedanken an der Nordsee gekommen, schlussfolgerte ich: Erst einmal sitzen bleiben in der Höhle! Beziehungsweise sich klarmachen, dass wir nicht in der Höhle sitzen, sondern draußen, unter blauem Himmel und all den bunten Sachen, die uns die Natur beschert. Und dann begreifen, dass umgekehrt nur die in der Höhle sitzen, die den Geist in der Abstraktion des sinnlich entleerten Allgemeinen ansiedeln, obwohl sie es gerade den andern andichten wollen. Der Geist strahlt wie das Licht der Sonne  und weht wie der Wind über die Lande. Das Sein spielt mit uns kein Versteckspiel, es ist nicht das Andere der Natur. Es ist die leuchtende Präsenz.

E. Der neue Horizont

An dieser Stelle könnte der Gedankengang sein Ende finden. Die Ignoranz der traditionellen Philosophie gegenüber der Sinnlichkeit ist aufgezeigt – zumindest was einen Hauptstrang betrifft. Meine Höhlenerfahrung ist dargestellt.

Aber nur ein oberflächlicher Blick könnte zu dem Schluß kommen, die Argumentation wäre abgeschlossen. Ganz im Gegenteil: Sie hat geradezu eine Tür erst aufgestoßen. Fragestellungen mit einem völlig neuen Horizont tauchen auf:

  • Wie sähe eine Erkenntnistheorie der natürlichen Logik aus,  die das Sinnliche in ihrer Fülle und Verschiedenheit entfaltet?
  • Wie sähe eine Naturwissenschaft aus, die nicht nur Beziehungen von Raum, Zeit, Kraft und Bewegung erfaßt, sondern auch den Geist als Bestandteil der Natur begreift?
  • Wie sähe eine Kultur aus, in welcher sich die Menschen ihres geistigen Bezugs zur Natur im Erleben vergewissert haben?

Eine neue Aufklärung ist an der Zeit.

Das Kamel, der Löwe und das Kind

Vortrag

Dr. Gerhard Stamer

theaterwerkstatt hannover, 12.Mai 2011

Ich werde heute keinen richtigen Vortrag halten,

sondern erzählen, was mir so eingefallen ist über Kinder.

Irgendwie fand ich, daß ein richtiger vortrag zu steif ist,

der Sache nicht angemessen.

Ich bin mir nicht sicher, was rausgekommen ist.

Es sind einfach Gedankensplitter, Assoziationen, Eingebungen,

auch einige Reflexionen eingestreut, auch Zitate, nicht zu viele.

Auf jeden Fall keine besonderen Erkenntnisse, aber doch der

Versuch, der Idee Kind nahe zu kommen.

Ich umreiße es einfach, ich schraffiere es gedanklich,

als würde ich eine Skizze machen.

Mal sehen, ob Sie in den verschiedenen

Strichen ein Bild ausmachen können.

Menschen lieben Kinder,

Kinder lieben Theater,

kein Wunder, daß Menschen Theater lieben.

Warum lieben Kinder Theater?

Warum lieben Menschen Kinder?

Mit diesen komplizierten Fragen möchte ich mich heute befassen.

Sie sind herzlich eingeladen.

Es ist ja nicht selbstverständlich,

daß Menschen Theater lieben.

Im Theater wird einem etwas vorgemacht.

Wer hat es schon gern, wenneinem etwas vorgemacht wird?

Überraschender Weise lassen wir uns das im Theater gefallen.

Wir wissen es genau:

Die dort auf der Bühne machen uns nur was vor.

Und wir bleiben sitzen, anstatt aufzustehen und nach Hause zu gehen.

Warum bleiben wir sitzen?

Das ist alles nicht wahr,

was wir da auf der Bühne sehen.

Die Liebe, der Tod, das Elend, die Helden, die Götter, das Verbrechen:

Alles Schwindel!

Und wir bezahlen sogar dafür. Daß wir uns bewußt was vormachen lassen!

Wir wissen es genau, daß wir uns was vormachen lassen.

Ansonsten würden wir uns das gar nicht ansehen.

Das Schlimmste ist, daß wir uns dabei machmal völlig vergessen.

Wie kann das passsieren?

Wenn es echt wäre! Die Tragödie z.B. würden wir in Ernst gar nicht erleben wollen.

Im Leben wollen wir sie vermeiden. Und auf der Bühne ergötzt sie uns.

Daß wir ins Theater gehen, um eine Komödie zu sehen,

kann man sich dagegen sehr gut vorstellen

Wer lacht nicht gern, besonders wenn man im Leben nichts zu lachen hat?

Lachen ist irgendwie immer gut. Egal worüber. Egal worüber?

Die einen machen was vor,

und die andern lachen.

Das paßt.

Ist das nicht eher Zirkus als Theater?

Nun gut.

Sie entsinnen sich an den Titel meines Vortrags:

Das Kamel, der Löwe und das Kind.

Ich habe mich schon umgesehen.

Es sind Kamele hier, Löwen und auch Kinder.

Kamele? Ich zeig Ihnen mal eins. Nein, doch nicht.

Löwen?  Die können gut brüllen. Wer kann Löwen?

Kinder? Die kann ich nicht.

Ich lese Ihnen etwas vor.

  • Lesung aus „Also sprachZarathustra“ von Friedrich Nietzsche –

Von den drei Verwandlungen

Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes:

wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das

Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.

Vieles Schwere gibt es dem Geiste, dem starken,

tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach

dem schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.

Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so

kniet er nieder, dem Kamele gleich, und will gut bela-

den sein.

Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der

tragsame Geist, daß ich es auf mich nehme und mei-

ner Stärke froh werde…

Alles dies schwerste nimmt der tragsame Geist auf

sich: dem Kamele gleich, das beladen in die Wüste

eilt, also eilt er in seine Wüste.

Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite

Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Frei-

heit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eig-

nen Wüste.

Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will er

ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er

mit dem großen Drachen ringen.

Welches ist der große Drache, den der Geist nicht

mehr Herr und Gott heißen mag? »Du-sollst« heißt

der große Drache. Aber der Geist des Löwen sagt

»ich will«.

»Du-sollst« liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein

Schuppentier, und auf jeder Schuppe glänzt golden

»Du sollst!«

Tausendjährige Werte glänzen an diesen Schuppen,

und also spricht der mächtigste aller Drachen: »Aller

Wert der Dinge-der glänzt an mir.«

»Aller Wert ward schon geschaffen, und aller ge-

schaffene Wert – das bin ich. Wahrlich, es soll kein

‘Ich will’ mehr geben!« Also spricht der Drache.

Meine Brüder, wozu bedarf es des Löwen im Gei-

ste? Was genügt nicht das lastbare Tier, das entsagt

und ehrfürchtig ist?

Neue Werte schaffen – das vermag auch der Löwe

noch nicht; aber Freiheit sich schaffen zu neuem

Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.

Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch

vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des

Löwen.

Recht sich nehmen zu neuen Werten – das ist das

furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und ehr-

fürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und

eines raubenden Tieres Sache.

Als sein Heiligstes liebte er einst das »Du-sollst«:

nun muß er Wahn und Willkür auch noch im Heilig-

sten finden, daß er sich Freiheit raube von seiner

Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube.

Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das

Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muß

der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neube-

ginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine

erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.

Ja, zum spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf

es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun

der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.

Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes:

wie der Geist zum Kamele ward, und zum Löwen das

Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kinde. –

Von wem ist das? Und woraus?

Na klar! Aus dem Zarathustra.

Das Kind ist kein Kamel.

Es hat nichts durch die Wüste zu tragen.

Schleppen – das müssen eher die Eltern, vor allem die Kinder.

Das Kind ist auch kein Löwe.

Brüllen kann es schon,

aber doch nicht als Ausdruck von Macht und Gewalt.

Eher das Gegenteil. Es ist ja eher unmächtig,

abhängig von den Kamelen, will sagen, Eltern,

die es tragen sollen.

Ich lese es noch einmal vor:

„Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind,

das auch der Löwe nicht vermochte?

Was muß der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel,

ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung,

ein heiliges Ja-sagen.

Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder,

bedarf  es eines heiligen Ja-sagens…“

Hier ist alles über das Kind gesagt,

was sich sagen läßt.

Das Kind ist ein Neubeginnen.

Die menschliche Geschichte kann noch so alt sein,

Millionen, unzählige Generationen können schon vergangen sein,

jedes Kind kommt als ein absoluter Anfang zur Welt –

und nicht als Fortsetzung.

Zur Fortsetzung machen wir es erst.

Natürlich haben wir Angst vor dem Tod  und wollen nicht sterben.

Aber stellen Sie sich eine Welt mit einer wachsenden Menge

totalter Menschen vor, also Alten die kein Anfang sind, sondern

bloße Fortsetzer, Kamele.

Nein. Das Kind ist ein Zauber.

Daran können sich die Alten erfreuen,ergötzen –

Und mit dem eigenen Ende versöhnen –.

Es geht ja weiter, es kommt Neues!

Der alte, fortgesetzte, mitgeschleppte Kram –

alles für Kamele zum Schleppen – so viel sie auch schleppen, das bleibt nicht.

Auch wenn die Kamele denken,

es bleibt alles beim alten Trott, auch wenn sie sich gar nichts anderes vorstellen können.

Und da können auch die Löwen noch so laut brüllen –

Gegen den alten Kram!

Sie schaffen nicht das Neue. Sie sind zu brutal,

zu sehr voller Ablehnung des Alten, zu grob

und hart geworden gegen das Alte,

daß sie noch so brüllen können, es kommen doch

keine entzückenden, neue Töne heraus.

Wie sagt Nietzsche an anderer Stelle:

“Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf leichten Füßen”.

Nein, vergessen haben die Löwen nichts.

Sie wollen nicht mehr tragen wie die Kamele,

auch nicht mehr ertragen. Das ist gut so.

aber sie haben kein Vergessen,

weil sie nicht neu sind, – und vor allem,

sie machen kein Spiel auf,

sie wollen mit Macht die Last abschütteln,

denn sie haben Recht,

und brüllen, daß es jeder weiß.

Haben sie sich so mit Wut und Ärger vollgefressen,

daß sie nun so brüllen müssen?

Nein, die Löwen sind auch Fortsetzer irgendwie,

böse Fortsetzer, auch eine Art Kamele, ziemlich unerträglich.

So kommt nichts Neues.

Wenn sie wenigstens das gute Alte erhalten würden,

aber mit Brüllen? Geht das?

Ich finde, Nietzsche hat das ganz gut gesehen:

Ohne Vergessen geht gar nichts.

Leben, immer weiter leben, ist ein ununterbrochenes

Zunehmen an Erfahrung und Wissen.

Lernen in der Schule, im Beruf,

und Lebenserfahrung – es wird immer mehr,

was man sich auflädt –

so viel kann man gar nicht vergessen.

Es soll niemand sagen, daß der fortgesetzte Kenntnisgewinn

einfach eine Bereicherung darstellt:

Zunahme an Wissen ist auch  Abnahme an Unbedenklichkeit, an Leichtsinn, an Waghalsigkeit, an Unbefangenheit – und in dem Sinne auch an Freiheit.

Unterschätzen wir diese Fähigkeiten nicht!

In unserer mehr und mehr durchrationalisierten Welt,

in der es fast so ist, daß wir eher ein Auto ohne Motor fahren können als unangeschnallt,

mag uns das sehr unvernünftig erscheinen.

Wer viel weiß, kennt alle Gefahren, sieht die Probleme,

weiß zu kritisieren, und weiß auch,

was bei so viel Leichtsinn, Waghalsigkeit und Unbedenklichkeit herauskommt –

und würde eher ein gewagtes Abenteuer lassen als es einzugehen.

Wer all die Risiken kennt wäre dumm,

sich auf irgendeine nicht ganz sichere Sache einzulassen.

Wer alle Risiken kennt,

ist gefesselt von seinen Kenntnissen.

Vergessen können ist die einzige Rettung.

Das Kind hat alles Vergessen,

weil es eben noch gar keine Erfahrung gemacht hat.

Nietrzsche drückt es paradox aus.

Wir müßten wieder Kinder werden,

damit wir wieder frei sind.

Wir sollen uns nicht mit Wissen vollpumpen!

Lebenslang lernen! Wissensgesellschaft!

Ein Krampf, der nicht auszuhalten ist!

Ballast abwerfen ist dagegen die richtige Parole.

Na, vielleicht nicht alles.

Nicht nur Lernen macht frei, auch Vergessen!

Ein bißchen Frieden finde ich ausgesprochen blöd.

Es gab mal so ein Lied.

Aber ein bißchen Risiko und ein bißchen Abenteuer, das ist ganz gut.

Sonst gäbe es gar kein Leben.

Leben fordert die Bereitschaft zu  Neuem.

Insofern kommen wir gar nicht drummherum, auch Kinder zu bleiben,

so alt wir werden.

Es geht gar nicht, die Zeit festzunageln.

Die Zeit geht weiter –

Und es kommt Neues, Unerwartetes,

das wir überhaupt nicht vermuten.

Es ist gut, wenn man das weiß, auf der Zeit zu surfen!

Das wäre die richtige Einstellung.

Von Friedrich Schiller stammt ein schöner Satz:

„Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt –

und er spielt nur dort, wo er ganz Mensch ist.“

Eine spielerische Einstellung zum Leben: Was heißt das?

Die Sorgen des Alltags auf Distanz halten,

wissen, daß sie nur ein momentanes Ereignis in der unendlichen Welt sind.

Ich will mal die Bibel zitieren:

„Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht,

sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen;

und euer himmlischer Vater nährt sie doch.“

Oder ein anderes Zitat:

„Nehmet wahr der Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen;

sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht. Ich sage euch aber,

daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht ist

bekleidet gewesen“ wie eine von diesen.

Egal ob ich an Gott glaube oder nicht, da ist eine tiefe Weisheit ausgesprochen.

Es ist immer mehr da, als wir durch unsere Rennerei zu erreichen suchen.

Eine spielerische Einstellung zum Leben bedeutet, zu wissen,

daß keine Gegenwart das Ganze der Wirklichkeit ist.

Zur spielerischen Einstellung gehört auch zu wissen,

daß ich auch immer – oder fast immer –

auch anders kann, als ich jetzt können soll.

Die Welt ist nicht zugepflastert.

Wer die Welt als zugespflastert, als puren Ablauf von Notwendigkeiten,

Zwangsläufigkeiten und  Sachzwängen empfindet,

wird sein Leben lang aus Ängsten nicht herauskommen.

Man muß das Kind in sich erwecken,

man muß es wieder rauslassen aus dem ganz Inneren,

wo wir es eingesperrt haben, wo es aber immer noch  vorsichtig herausäugt.

Das Kind in uns ist die Chance.

Nur wer die Freiheit zum Spiel hat,

findet Lösungen, wo es anscheinend keinen Ausweg gibt.

Kinder bringen es einfach mit, das Spielen.

Spielen ist eine ernste Sache.

Man braucht den Kindern nur zuzusehen.

Sie gehen darin auf.

Wer richtig spielt ist ganz bei der Sache –

und bei sich. Das ist das Wichtigste.

Oder das Zweitwichtigste:

Das Spiel funktioniert nur, wenn die andern mitspielen,

wenn sie keine Spielverderber sind.

Das Spiel mit den andern setzt eine Einvernehmlichkeit voraus,

ein unausgesprochenes Miteinander,

egal ob die Regeln bewußt sind oder nicht.

Wer eintritt ins Spiel „macht mit“, wie wir sagen.

Und wer mitmacht, nimmt an einer Gemeinschaft teil,

die wie eine eigene Inszenierung ist – alle sind drinn -,

es ist wie ein spontan ausbrechender, geheimnisvoller Ritus,

der uns da in etwas hineinzieht, so sehr,

daß wir, was gerade vorher war, vergessen.

Im Spiel gehen wir im  Augenblick auf!

Im Spiel werden wir immer wieder zu Kindern!

Nietzsche ist bekannt als der Philosoph des Nihilismus,

als der Philosoph des Willens zur Macht

und wenn Sie die sinfonische Dichtung

„Zarathustra“ von Richard Stauss hören,

ein unglaublich eindrucksvolles Getöse, mit dem

Olympiaden oder Vergleichbares eröffnet wurden

oder noch eröffnet werden – ein einziges Trompetenfanal -,

dann erkennen Sie, da Sie jetzt wissen, daß Nietzsche

auch der Philosoph des Kindseins ist, daß es absolut falsch ist,

ihn als Denker eines irrationalen Gigantismus abzutun

oder gar als Wegbereiter des Nationalsozialismus.

Nietzsche ist ein widersprüchiger Denker, das muß nicht geleugnet werden,

aber er ist auch immer ein Kind geblieben

und hat wie ein Kind in unsystematischer Offenheit

wie ein Seismograph gespürt, wohin unsere Kultur läuft,

und er hat wie ein Kind Chaos gestiftet,

wohl wissend, daß Produktivität nicht ohne Gärung geht,

ohne die Wirren, die eben zum Neuen gehören.

Nietzsche wußte das wie kein anderer.

„Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben,

um einen tanzenden Stern gebären zu können.“

Das ist einer der berühmtesten Sätze von ihm.

Sie finden oft Widersprüche bei Nietzsche,

die Welt ist aber voller Widersprüche –

und ich weiß nicht einmal, ob diejenigen,

bei denen es keine Widersprüche gibt,

der Wahrheit näher sind, als diejenigen,

bei denen die Widersprüche auftauchen.

Es ist ein Irrtum, anzunehmen, die Welt wäre ohne Widersprüche.

Nietzsche registriert sie jedenfalls sensibel –

und ist darum selbst widersprüchig.

Ein Pedant kommt mit ihm ebenso wenig zurecht wie mit Kindern.

Der Gegensatz zum Nihilismus ist das „heilige  Ja-sagen“.

Das Kind  ist bei Nietzsche natürlich nicht das Kind.

Es heißt ja, wenn ich daran erinnere,

„Drei Verwandlungen nenne ich Euch des Geistes…“

Es geht um uns, die Erwachsenen, die ein Bewußtsein haben,

die Geister sind, nicht Gespenster, sondern vollbewußte Erwachsene.

Die können natürlich Kamele bleiben, das Leben lang,

immer schön alles ertragen.

Die könne natürlich auch Löwen werden und bleiben.

Löwe werden ist ja schon eine Menge.

Der Löwe läßt sich nicht mehr alles gefallen.

Aber der kann auch noch Kind werden,

wir können auch noch Kind werden, wenn wir Geister sind,

genug Geist haben.

Das ist die Herausforderung:

Wir sollen nicht nur ertragen und nicht nur brüllen und immer nur Nein-sagen!

Zum Kinde werden heißt, so unerfahren sein, so unbefangen, so unangepaßt,

daß wir zum Ja-sagen fähig sind.

Was soll die ganze Kritik,

wenn sie nur dazu dient,

die beschissene Welt immer wieder nur  eine beschissene Welt zu nennen,

nachdem das längst schon alle wissen!

Ja-sagen können gegen alle Erfahrung ist das Schwerste!

Man muß eine Frische behalten haben wie das Kind,

das am Anfang steht.

Man sollte schon aufpassen,

nicht ein ewiger, habitueller Nein-sager zu werden,

vor allem dann, wenn das im Gewande ständiger,

sogar berechtigter Kritik geschieht.

Nur wer Ja sagen kann, bringt auch was Neues hervor,

wer nur Nein sagt,

ist auf das Negative negativ fixiert und bleibt daran hängen.

Nietzsche hat auch darin einfach Recht:

Kind sein heißt, daß das Ja-sagen nicht zerstört ist.

Der unheilige Nietzsche spricht vom heiligen Ja-sagen.

Sich das Ja-sagen zu erhalten – ohne blind für die Wirklichkeit zu sein –

ist tatsächlich eine Zauberkraft – um es deutlich zu sagen: eine Kraft –

und wirkt wie eine Sonne, die mit ihrer Wärme Licht und Leben spendet.

Alles überbietet der Satz im zitierten Text, daß das Kind

„ein aus sich rollendes Rad“ sei.

Aus sich rollend, das heißt, nicht aufgezogen, wie eine Uhr mit einer Feder.

Wir Materialisten heute denken natürlich,

daß ein Kind nicht solche Ursprünglichkeit ist.

Es ist das Kind der Eltern – und es ist eine Mixtur der Gene der Eltern.

Aber der Geist hat keine Gene.

Was Geist ist, können wir kaum begreifen.

Da fängt etwas an – der Geist nimmt keinen Raum ein.

Nietzsche sprach von drei Verwandlungen des Geistes.

Zuletzt ist der Geist das Kind.

Selbstverständlich wissen wir, daß sich kein Kamel

in einen Löwen und kein Löwe in ein Kind verwandelt.

Klar, daß es eine Metaphorik ist.  Aber eine über den Geist.

Hier, sind wir vielleicht zum Wichtigsten gekommen:

Das Kind hat den Zauber des Geistes.

Völlig falsch zu denken, wir Erwachsenen würden,

angefüllt mit Wissen, den Geist gepachtet haben

und die Kinder müßten ihn erst langsam erwerben.

Völlig falsch: Die Kinder haben ihn schon.

Sie müssen sich natürlich erst mit ihrem Geist orientieren.

Das ist nicht so einfach. Aber sie haben ihn schon.

Und so ursprünglich der Geist da ist, ohne daß wir ihn fassen können,

so ursprünglich treten die Kinder in die Welt,

ohne daß wir sie auf irgend etwas anderes zurückführen können.

Sie sind darum was Unbegreifliches, was Heiliges.

Und Nietzsche spricht daher auch vom heiligen Ja-sagen:

Ein Ankommmen in der Welt und ein Leben wollen,

ein Augen Aufschlagen und Ja sagen: Ja, ich bin da!

Immer wieder fängt die Welt an.

Immer wieder schlägt die Natur in den Kindern die Augen auf.

Immer wieder ist es so, auch wenn die Welt zum Heulen ist.

Daraus entspringt natürlich eine Theaterkonzeption.

  • Kinder haben das Leben vor sich; d.h. sie kennen vieles noch nicht. Kinder sind immer    wieder ein Anfang. Sie sind immer etwas Neues in einer alten Geschichte, die sie zum Glück immer unterschätzen. Sie sind daher naiver und spontaner als Erwachsene.
  • Vor allem haben sie noch nicht gelernt, sich anders  zu geben als sie sind
  • Sie müssen auch noch nicht für andere sorgen, Verantwortung ist ihnen daher zunächst fremd, Bindung dagegen absolut nötig.
  • Wirklich und möglich fließt bei ihnen noch zusammen.
  • Sie haben einen größeren Sinn für die Möglichkeit der Veränderung; und wenn sie sich auch dabei täuschen.
  • Auch Traum und Wirklichkeit fließen noch ineinander
  • Wenn wir Kindertheater machen:
  • machen wir nicht nur etwas, damit sie lachen können,
  • machen wir nicht nur etwas, damit sie spielen können,
  • machen wir nicht nur etwas, damit sie lernen können,
  • machen wir nicht nur etwas, damit sie träumen können.
  • Theater für Kinder sollte nicht manipulativ sein:
  • Sie werden nicht auf die bevorstehende Berufswelt vorbereitet.
  • Es handelt sich auch nicht um vorschulische Erziehung.
  • Sie sollen ganz Kinder werden, damit sie ganz Mensch werden. So hat es Hölderlin ausgedrückt.
  • Sie sollten auch nicht geschützt werden vor der bestehenden Gesellschaft.
  • Theater für Kinder sollte nicht politisch sein und auch nicht pädagogisch. Dann ist es immer manipulativ.
  • Es sollte Theater für Kinder sein, nicht dafür, was Erwachsene gut für Kinder finden.
  • Es sollte sich auf die objektive Situation der Kinder beziehen.
  • Das heißt, sie sollten nicht für das kommende Leben leben, sondern das Theater sollte sich auf ihre gegenwärtige Existenz beziehen.
  • Kindertheater ist auch nicht Theater von Kindern für Kinder, da betrügen die Erwachsenen die Kinder; hinter dem Kindertheater stecken immer die Erwachsenen.
  • Das heißt nicht, daß den Kinder keine eigene Initiative überlassen wird, im Gegenteil: Sie werden dazu nicht mit Ach und Krach animiert, aber es wird ihnen Raum dafür gelassen.
  • Sie sollen die Offenheit ihres Lebens spüren – Kindheit ist noch offen – und sie sollen ihre Offenheit praktisch zur Geltung bringen.
  • Ihre Abhängigkeit soll ihnen aber auch nicht verborgen bleiben.
  • Die Erwachsenen sollten Kinder als Kinder in ihrem perfekten Sosein, wozu die Unvollkommenheit gehört,  einfach anerkennen.
  • Dabei  müssen die Erwachsenen sich nicht verstecken. Sie können, sollen und müssen mit den Kindern in  Kommunikation treten, sie aber in ihrer Eigenständigkeit dabei anerkennen.
  • Unter keinen Umständen sie verniedlichen.
  • Sich weder unterlegen noch überlegen fühlen. Authentisch aus der eigenen Situation mit Kindern in Kontakt treten.
  • Das Spiel ist der Dreh- und Angelpunkt, wo sich Erwachsene und Kinder treffen: das Theater ist der legitime Raum des intuitiv vereinbarten Spiels.
  • Das Spiel ist eine eigene und vertiefte Art, sich an das Menschsein zu erinnern, nicht nur zu erinnern, sondern es rituell in der Gegenwart zu praktizieren.

Worin zeigt sich Vernunft, wenn nicht in der Weisheit?

Vortrag im Rahmen des Festivals der Philosophie 15. April 2012

Dr. Gerhard Stamer

Guten Morgen, meine Damen und Herren!

Der angekündigte Titel meines Vortrags lautete Die Ressource Vernunft – die nachhaltigste Provokation. Nach der Eröffnungsveranstaltung und weiteren Vorträgen zu dem Thema des Festivals Wie viel Vernunft braucht der Mensch? habe ich den Eindruck gewonnen, dass überhaupt grundsätzlich geklärt werden müsse, was Vernunft denn eigentlich sei. Deshalb habe ich meinen Vortrag rasch umgearbeitet und spreche nun darüber, was unter Vernunft zu verstehen sei.

Beginnen möchte ich gleich mit einer Korrektur der Frage: Wie viel Vernunft braucht der Mensch? Auch wenn sich diese Frage auf den ersten Blick recht vernünftig anhört, ist sie doch bei genauerer Überlegung falsch gestellt. Es geht nicht darum, wie viel Vernunft der Mensch braucht, sondern wie viel Vernunft der Mensch hat. Wie viel Vernunft haben wir? Die Frage, wie viel Vernunft braucht der Mensch, erzeugt erstens den Anschein, als würde Vernunft ein Stoff sein, ein Rohstoff, und wir könnten darüber unter quantitativen und utilitaristischen Gesichtspunkten entscheiden, wie viel davon uns gut tut. Zu wenig könnte von Schaden sein, zu viel vielleicht auch. Wie misst man es ab, wie viel Vernunft vernünftig ist? Wozu braucht man sie?

A.

Warum stelle ich die Frage anders? Warum frage ich: Wie viel Vernunft hat der Mensch? Weil die Frage zu Beginn der Philosophie und bis heute in philosophischer Weise derart zu stellen ist. Die Philosophie begann im antiken Griechenland mit der Frage nach dem Urgrund, der arché, dem einheitlichen Urstoff der Vielfalt der Dinge. Schnell hatte sich diese Frage über die stoffliche Dimension von Luft, Wasser, Feuer, Erde als Urstoff erhoben zu der nach dem Apeiron, dem Unbegrenzten und Unbestimmten bei Anaximander, dem Nous, dem Geist bei Anaximander, dem Logos bei Heraklit. Hinzu kam die Lehre der Pythagoreer mit ihrer Auffassung, dass die Zahl die Ordnung des Kosmos schaffe, indem sie das Unbegrenzte bestimme und begrenze. Die Entdeckung des Geistigen war es, womit die Philosophie ihren Anfang nahm. Für Platon war es bereits eine gesicherte Überzeugung, dass die Mathematik kein ausgedachtes Regelsystem darstellt, sondern in der Form der Anwendung auf den Raum als Geometrie, in der Anwendung auf die lineare Entwicklung der Zeit als Arithmetik, dann aber auch in der Astronomie und der Musik als strukturelle geistige Dimension zur Wirklichkeit gehört. Durch die Reflexion auf die Erkenntnis selbst, die ja den Zugang zur Wirklichkeit schafft, wurde begriffen, dass das Geistige selbst in keiner Form der Sinnlichkeit, weder durch das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen oder Fühlen erfassbar ist. Nur das Geistige selbst schafft den Zugang zum Geistigen, obwohl es allem Erkennen der vielgestaltigen, den Sinnen gegebenen Wirklichkeit zugrunde liegt. Die Anerkennung dieser äußerst wirksamen, aber nicht sinnlich, sondern immateriell vorhandenen Dimension der Wirklichkeit, die die Philosophen in ihrem Nachdenken behaupteten, stellte für die Mehrheit der Menschen von Anfang an eine große Schwierigkeit dar. Voller Zorn schimpfte Heraklit auf seine Zeitgenossen:

„Dies Weltgesetz – der Logos – das doch ewig ist, begreifen die Menschen nicht, weder bevor sie davon gehört haben noch sobald sie davon gehört haben. Denn obgleich alles nach diesem Gesetz geschieht, machen sie den Eindruck, als ob sie nichts davon ahnten, wenn sie sich an solchen Worten und Werken versuchen, wie ich sie verkünde, indem ich ein jedes nach seiner Natur zerlege und klarmache, wie es sich damit verhält.“

Platon hatte diese gleiche Erfahrung, dass es den Menschen nicht automatisch zugänglich ist, das immaterielle Geistige als ein Reales zu erkennen, weniger polemisch, dafür aber grundsätzlicher in seinem Höhlengleichnis zum Ausdruck gebracht. Normalerweise säßen wir alle in einer Höhle mit dem Rücken zu ihrem Ausgang gekehrt und halten die Schattenbilder, die von draußen an die Innenwand der Höhle geworfen werden für die Wirklichkeit, während allein die Philosophen dadurch ausgezeichnet sind, dass sie sich umgedreht haben und nun nicht mehr den Schein für die Wirklichkeit halten. Und die Philosophen erkennen, dass nichts Stoffliches, Materielles, den Urgrund der Welt bildet, sondern dass es die Ideen des Guten, Wahren und Schönen sind, und dass möglicherweise allen materiellen Dingen Ideelles zugrundeliegt.

Lange bevor Immanuel Kant die präzise Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft trifft, bleibt im Hauptstrang der philosophischen Tradition die Trennung zwischen dem physischen Bereich, der der Sinnlichkeit zugänglich ist und dem anderen intellektuellen Bereich mit seinen erweiternden transzendenten Ausdeutungen bestehen. Die Schüler von Aristoteles fügen nach dessen Tod den Schriften, die unter der Rubrik der Physik einzuordnen waren, die Metaphysik hinzu. Aus diesem Einteilungsnamen wird dann die Bezeichnung für die philosophische Disziplin, die sich mit den Themen beschäftigt, die über die sich historisch herausbildende naturwissenschaftliche Dimension mit ihren Grundelementen Raum, Zeit, Kraft und Bewegung hinausgehen. In allen Epochen wird diese Unterscheidung immer wieder thematisiert – in den verschiedensten Varianten. Zu Beginn der Aufklärung ist es dann der Universalgelehrte Leibniz, der Entdecker des binären Zahlencodes, auf dem unsere moderne Computertechnik beruht, der bewusst gegenüber dem rationalistischen Denken von Descartes und der Mechanik von Newton an die alte Metaphysik von Platon bis Thomas von Aquin anknüpft. Der Dreh- und Angelpunkt seiner theoretischen Bemühungen wird – neben allen anderen Beschäftigungen – die Frage des Übergangs der Physik in die Metaphysik. Er schreibt:

„Ich weiß, dass ich ein großes Paradox unternehme, wenn ich versuche, in gewisser Weise die alte Philosophie wieder zu Ehren zu bringen und die fast verbannten substantiellen Formen wieder in ihr altes Recht zu setzen.“

(Die substantiellen Formen, sind geistiger Art, einfach, unteilbar als Monaden, wahrhaft von allen geschaffenen Dingen unabhängig. Die Substanzen sind unzerstörbare Realitäten, haben in sich selbst ihren Bestand, können aber nicht durch sich allein, sondern erst durch ihre Beziehungen zum Universum, begriffen werden.)

Leibniz´ Überzeugung ist, dass weder die Mathematik noch die Physik die lebendige Ganzheit dieser Universalität erklären können.

„Es muss also immer wieder betont werden, dass, wenn auch die gesamte Physik auf Mechanik zurückgeführt werden kann, doch die tieferen und ersten mechanischen Gesetze auf keine Weise dargelegt werden können ohne die Prinzipien der Metaphysik […].“

B.

Was ich bisher vorgetragen habe, ist das konventionelle, idealistische Verständnis des Geistes, der Vernunft und was damit zusammenhängt. Ich möchte aber auf etwas ganz anderes hinaus. Damit mir dies gelingt, war es aber erforderlich, dieses traditionelle Verständnis des Geistes darzustellen.

Eingehen muss ich nun auch noch auf die Philosophie Immanuel Kants, bevor ich auf mein Anliegen komme, denn die Definitionen und Einteilungen, die Kant trifft, haben bis heute ihre Bedeutung. Zunächst unterscheidet Kant präzise zwischen Verstand und Vernunft. Der Verstand hat es mit den Begriffen zu tun, denen etwas in der Anschauung von Raum und Zeit entspricht. Es ist der Bereich der Sinnlichkeit, von dem ich schon sprach. Das ist auch der Bereich der Naturwissenschaft, aber auch der unserer Alltagswahrnehmung. Es sind die Dinge, die wir sehen und anfassen können; in anderen Worten: Es ist der Bereich der Empirie und der Praxis. Die Vernunft hingegen ist – so Kant – der Bereich der Ideen; und Ideen sind Begriffe, denen nichts in der empirischen Anschauung entspricht, vor allem die Ideen der traditionellen Metaphysik wie Gott, die Unsterblichkeit der Seele, die Unendlichkeit von Raum und Zeit und die Freiheit. Die Freiheit spielt bei Kant eine besondere Rolle, weil sie unmittelbar mit dem Vermögen, mit den Befähigungen des Menschen verbunden ist. Sie ist das Prinzip, auf dem Kant seine gesamte Praktische Philosophie, die Morallehre errichtet, zu der Begriffe wie Würde und die Menschheit gehören. Die Trennung von Verstand und Vernunft hat gravierende Folgen, auch wenn sie zugleich eine unverzichtbare Orientierung bietet. Letztlich ist sie auch verantwortlich für die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft, die sich im 19. Jahrhundert vollzieht. Diese Bestimmung, die die Vernunft durch Kant erfährt, kann gegensätzlich interpretiert werden. Sie rettet die Vernunft, die Freiheit und die Moral vor der Vereinnahmung durch die sich mehr und mehr absolut setzenden technisch orientierten Naturwissenschaften; oder auch: Sie überlässt der Naturwissenschaft den gesamten Bereich der Wirklichkeit, zieht sich zurück auf den der empirischen Prüfung nicht zugänglichen Bereich und verliert dadurch den Zugang zur Wirklichkeit, die von Technik und Ökonomie definiert und beherrscht wird.

Auf das Schicksal der Vernunft übt Kants Philosophie noch in anderer Weise einen bedeutsamen Einfluss aus. In seinen drei Kritiken geht es Kant um die Ermittlung der Allgemeingültigkeit von Urteilen in den bereits von Platon stammenden Bereichen des wissenschaftlich Wahren, des moralisch Guten und des ästhetisch Schönen. Die Allgemeingültigkeit, die in diesen Urteilen: <das ist wahr>, <das ist gut>, <das ist schön> steckt, soll die Geltung, d.h. auch die Wirksamkeit und Wirklichkeit dieser drei Gebiete beweisen und erkenntnistheoretisch absichern. Die Folge: Seit Kant stellen diese drei Gebiete des Geistes feste, voneinander unterschiedene Bereiche der menschlichen Kultur mit eigenständigen Ausdrucksformen dar. Auch dies ist als Gewinn zu sehen. Aber es hat auch eine Konsequenz, die auf den ersten Blick nicht sichtbar wird. Das Geistige insgesamt, entfaltet als Kritik, als Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens, wird durch die Unterscheidung und Begründung dieser drei Gebiete verfestigt und festgelegt. Es sieht nun so aus, als würde das Geistige, soweit wie es anzuerkennen ist, sich in den Disziplinen von Naturwissenschaft, Moral und Kunst erschöpfen, ganz abgesehen von den beiden Disziplinen, die in der Moderne in Zusammenhang mit der empirischen Naturwissenschaft aufkommen, nämlich Technik und Wirtschaft. Die Kritik der Vernunft legt in dem Sinne die Vernunft disziplingemäß, um nicht zu sagen disziplinarisch fest. Was ist die Vernunft, wenn sie nicht in den genannten Disziplinen vorkommt? Gibt es sie überhaupt außerhalb dieser Disziplinen? Gibt es sie, sagen wir: un-diszipliniert? Was wäre un-disziplinierte Vernunft?

C.

Was ich nun ausführen möchte, das ist die Auffassung einer Vernunft, die gerade als un-disziplinierte wirklich ist. Ohne die Bedeutung zu schmälern, die darin besteht, die Erkenntnisbereiche Wissenschaft, Moral und Kunst erkenntnistheoretisch abzusichern, wie Kant es tut, möchte ich darauf aufmerksam machen, wie gerade dadurch die Vernunft ihrer eigentümlichen Freiheit beraubt wird. Ich möchte zeigen, wie diese Absicherung der Vernunft zugleich auch eine Absicherung vor der Vernunft, vor ihrer eigenen Freiheit ist. Einfacher, unbescheidener gesagt: Die Vernunft soll befreit werden! Vernunft ist nicht nur festgelegt, sie ist auch nicht nur eine Kontrollvernunft, um hier den Titel einer Arbeit von Odo Marquard zu zitieren. Was ist Vernunft, wenn sie nicht das ist, was bisher von ihr gesagt wurde? Nicht das Weltgesetz, nicht die Grundlage von Wissenschaft, Moral und Ästhetik? Wenn sie nicht in der Form des Kategorischen Imperativs, in der Form der Unbedingtheit auftritt wie in der Ethik Kants? Wenn sie nichts zu tun hat mit dem moralischen Terrorismus des Kultus der Vernunft in der Französischen Revolution? Wenn sie auch nicht aufgeht in die Konzeption der Kritischen Vernunft der Frankfurter Schule, für die eine einseitige Negation der bestehenden Gesellschaft kennzeichnend ist, so dass sie in ihrer prinzipiellen Distanz zum Gegenwärtigen das Mitmachen und alle politische Praxis untersagte?

Was ist Vernunft, wenn sie natürlich nicht mit Information gleichzusetzen ist und von den Formen der Rationalität grundsätzlich zu unterscheiden ist, wie sie in Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie vorkommen. Vernunft ist weder gleichzusetzen mit Objektivität der Naturwissenschaft, Praktikabilität der Technik, Profitabilität der Ökonomie oder Effektivität zweckrationalen und instrumentalen Handelns.

Um klarer herauszubekommen, was Vernunft ist, frage ich nicht mehr, was ist Vernunft, sondern: Was ist vernünftig? Vernünftig ist es nicht, die Vernunft auf Kritik festzulegen. Vernünftig ist es nicht, der Gesellschaft, so barbarisch sie auch sein mag, den moralischen Terror entgegenzusetzen. Vernünftig ist es wohl auch nicht, wenn die Vernunft so eng mit der Pflicht verknüpft wird, dass sie generell die Neigung ausschließt, was der Kantianer Friedrich Schiller an Kant kritisiert. Was ist vernünftig?

Ich möchte für meine weiteren Überlegungen Anleihen bei einer benachbarten Disziplin machen, nämlich der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Mich interessieren dabei nicht die therapeutischen Zusammenhänge – auch nicht ob die Theorie insgesamt stimmt –, sondern lediglich die Differenzierung, die Freud im von ihm so genannten „psychischen Apparat“ vornimmt. Er unterscheidet das Ich vom Es, d.h. der Triebstruktur und dem Über-Ich, der durch die Sozialisation verinnerlichten gesellschaftlichen Ansprüche, die sich vor allem als moralische ausdrücken. Natürlich gibt es auch noch die äußere Realität, in der sich das Individuum befindet. Ich diskutiere jetzt auch nicht, ob diese Einteilung in die drei Instanzen haltbar ist. Mir geht es lediglich darum, die existenzielle, lebendige Umgebung, bzw. Lebenswelt zu erfassen, in der wir uns stets mit unserem Ich befinden. Das Ich hat die Aufgabe, in den Situationen, in denen es sich fortlaufend befindet, zwischen den Ansprüchen der inneren Instanzen, der Triebstruktur und dem Über-Ich, die oft gegeneinander auftreten und dann auch noch der äußeren Realität, die eigene Anforderungen stellt, zu vermitteln. Worauf es mir ankommt, ist die Darstellung der Vielseitigkeit, in welcher das Individuum steht, um mit sich und der Realität klar zu kommen, d.h. sich selbst zu erhalten, sich zu verwirklichen, seine Fähigkeiten, Interessen und Überzeugungen zu realisieren. Unentwegt steht das Individuum in dieser Situation, sich zwischen diesen unterschiedlichen Anforderungen und Kräften, die auf es einwirken, die es gewissermaßen nach verschiedenen Seiten ziehen, zu entscheiden. Man kann es auch anders sagen: Indem das Individuum die Zwänge erfährt, in denen es steckt, erfährt es auch die Möglichkeit der Wahl, die es zwischen den Anforderungen hat; oder anders herum: Indem es seine Freiheit der Entscheidung unter den verschiedenen Ansprüchen entdeckt, wird es sich der Zwangszusammenhänge immer bewusster, die Bedingungen seines Handelns sind, Bedingungen, unter denen es handeln muss.

D.

Mir scheint, dass sich Vernunft, vernünftiges Handeln prinzipiell in dieser Fähigkeit zur Lebensführung unter gegebenen Bedingungen zeigt. Lebensführung ist eigentlich die anspruchsvollste, von jedem zu leistende Aufgabe, vor der sich niemand drücken kann, die das ganze Leben hindurch auch niemals aufhört, die solch komplexe Anforderungen stellt, dass wir oft nur wildentschlossen den Gordischen Knoten durchhauen können oder gar dunklen Eingebungen gegen alle besseren Vorsätze folgen. Und oft stellt sich im Nachhinein heraus, dass diese scheint´s blinden Entschlüsse vollkommen richtig waren. Und wir wissen es ja: Niemand kann nach der Vorlage einer wissenschaftlichen Theorie sein Leben führen. Das eigene Leben kommt in der Wissenschaft gar nicht vor. Und wer nur nach einem moralischen Leitfaden handeln wollte – diese steifleinenen Charaktere kommen in allen Komödien vor –, würde mit seinem Pflichtbewusstsein nicht nur sich selbst bis zur Erkrankung unterdrücken, sondern auch die anderen, mit denen er es zu tun hat, unentwegt gängeln, schließlich eine lebensfremde, lächerliche Figur abgeben. Ich brauche nicht auszuführen, dass auch niemand nach Regeln leben kann, die rein aus der Metaphysik abgeleitet sind. Er würde hier herumtappen, als käme er gerade von einem anderen Planeten. Es ist klar, Lebensführung erfordert ein situatives Eingehen auf die komplexen Situationen, in denen es einmal nötig ist, die Triebstruktur zu unterdrücken, das andere Mal, sie zu befriedigen, in denen es einmal nötig ist, sich äußeren Zwängen zu beugen, ein andermal Widerstand gegen sie zu leisten. Das eigene Selbst soll sich entfalten, manchmal gegen die gesellschaftlichen Zwänge, das andere Mal ist die Anpassung an die Gemeinschaft sinnvoll, die eine Preisgabe individueller Ziele erfordert. Lebensführung erfordert immer wieder aufs Neue das Erfassen der Situation, das Erfassen der inneren und äußeren Bedingungen der Situation. Schematisches Handeln wird den vielseitigen und wechselhaften Sachlagen nicht gerecht. Sich nicht entscheiden ist auch eine Entscheidung. Jeder von uns hat bestimmte Einstellungen, mehr oder weniger erfahrungsgesättigt, Probleme anzugehen, aber der Komplexität der Lebenswelt entzieht sich niemand. Dramen zeigen oft, wie starre Charaktere in Krisen brechen und zusammenbrechen.

E.

Der Geist der Lebensführung findet unter den eben beschriebenen Bedingungen statt. Er ist die eigentliche Sphäre der Vernunft. Vernunft bezieht sich in erster Linie auf unser Agieren und Reagieren in der Lebenswelt; sie bezieht sich nicht nur auf das, was wir tun, sondern auch auf das, was wir sagen. Sie realisiert sich im Arbeiten, im Herstellen und Handeln, um eine Gliederung von Hannah Arendt heranzuziehen.

Ich möchte diese Dimension der Rationalität der Lebensführung als Sphäre der Vernunft näher kennzeichnen. Ich möchte überhaupt verdeutlichen, dass dieser Bereich eine eigene Dimension ist neben Wissenschaft, Ethik und Ästhetik, neben Technik und Ökonomie, auch Ökologie; ein eigener Bereich, der eine eigene Form von Rationalität fordert, eben die Vernunft. Besonders hervorzuheben sind die Folgen, die es hat, wenn dieser Bereich des unmittelbaren Lebens eines jeden einzelnen nicht als qualifizierte Dimension von Erkenntnis gesehen wird, sondern nur die genannten Disziplinen erkenntnistheoretisch ernst genommen werden. Alle Disziplinen sind gewissermaßen Sektoren menschlichen Seins, sie sind Abstraktionen gegenüber dem unmittelbaren lebendigen Lebensvollzug. Das Leben selbst bleibt unter der Voraussetzung, dass nur diese Disziplinen eine erkenntnistheoretische Anerkennung besitzen, in einem Status des erkenntnismäßig nicht Verallgemeinerungsfähigen, daher auch des Unbedeutenden, des nur Subjektiven, ja des Irrationalen. Da herrschen dann mehr die Gene, die Synapsen, der Bauch, alles Phänomene, die wir nicht in der Hand haben, in denen wir auch selbst das Gefühl haben, nicht zu wissen, was wir tun.

Ausgesonderte wissenschaftliche Bereiche, erlangen als methodisch von einander abgegrenzte Sachgebiete eine hohe Rationalität, nicht nur Mathematik und Physik, sondern auch die Soziologie, die Psychologie, die Sprachwissenschaft: Aber die Führung des Lebens, die Unmittelbarkeit unseres Seins, unser bewusstes, lebendiges Dasein bleibt unter dem Aspekt der Rationalität ein blinder Fleck, so als würden nur abstrakte Ausschnitte des menschlichen Seins der Rationalität zugänglich sein, unser konkretes Leben sich dem aber entziehen. In der Tat ist die Lebensführung das rational am schwersten zu fassende.

F.

Ja, es stellt sich die Frage: Ist denn unser Leben etwas Irrationales? Und noch weiter: Wäre eine Rationalisierung der Lebenswelt nicht eher verhängnisvoll? Würde es nicht die Kontrolle über unser Leben ins Unerträgliche erhöhen? Können wir das wollen? Ist es nicht besser, ein wenig in der schützenden Unübersichtlichkeit, in einer Relation der Unschärfe zu leben? Hier denke ich, ist gerade die Vernunft gefordert. Hier kommt sie ins Spiel. Hier hat sie ihre Antwort zu geben. Hier zeigt sie, ob sie Vernunft ist oder doch nur eine fremde Rationalität, die auf das Leben Anwendung findet.

Die Vernunft ist nur dann vernünftig, wenn sie sich nicht strikt und rein als Geist in falschem Absolutheitswahn verwirklichen will. Sie ist nur vernünftig, wenn sie andere Bereiche der Realität anerkennt, wenn sie in der Lage ist, in einer Welt, die nicht auf Geist oder Rationalität zu reduzieren ist, das ihr selbst innewohnende ideelle dynamische Potential, wie es sich in den Ideen ausdrückt, mit der Vielgestaltigkeit der Welt, der Natur, der Gesellschaft zu verbinden. Vernunft ist nur Vernunft, wenn sie die Fähigkeit besitzt, das Andere anzuerkennen – und nicht nur anzuerkennen, sondern sich in Lebensformen zu vereinen, die wir Kultur nennen. So vermag Vernunft den moralischen Veränderungswillen mit dem Realitätssinn zu vermitteln. Die Vernunft vermag die Interessen der Gesellschaft, des Allgemeinen mit denen des Ichs, des Einzelnen zu verknüpfen, ebenfalls zu vermitteln zwischen der Rationalität und der Sinnlichkeit, zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen der vita activa und der vita contemplativa. Die Vernunft ist die Freiheitsfähigkeit, Freiheitsfähigkeit nicht als etwas, das sich über die Notwendigkeiten der Wirklichkeiten hinwegsetzt, sondern als Fähigkeit, den Weg zu finden, sich in Einklang mit Natur und Gemeinschaft zu realisieren. Die Vernunft ist nur durch die Fähigkeit der Vernunft zu beschreiben. Sie ist nicht identisch mit wissenschaftlicher Wahrheit, nicht mit moralischer Unbedingtheit. Sie ist das, woraus Weisheit entspringt. Und Weisheit ist das eigentliche Ziel der Philosophie. Sie kennen den Weisheitsspruch: Um vernünftig zu leben, sei es erstens nötig, zu unterscheiden zwischen dem, was sich verändern lässt und dem, was sich nicht verändern lässt. Und zweitens wäre es dann richtig, das verändern zu wollen, was sich verändern lässt, und das nicht verändern zu wollen, was sich nicht verändern lässt. Aber kaum habe ich diesen Spruch vorgetragen, kommen mir Bedenken, ob er so absolut stehen bleiben kann, denn in manchen Situationen scheint es doch richtig oder erforderlich zu sein, etwas verändern zu wollen, was sich nicht verändern lässt. Es gibt moralisch unerträgliche Situationen, in denen man nur ein symbolisches Zeichen setzen kann, wohl wissend, dass man sich nicht durchsetzt, wohl wissend, dass das eigene Scheitern folgen wird. Und es gibt diesbezüglich einen weiteren Aspekt. Von Karl Liebknecht stammt der Satz:

Nur wer das Unmögliche will, wird das Mögliche schaffen.

Weisheitssprüche haben etwas an sich, dass sie nicht ein für alle Male gelten können. Sie haben es an sich, sich zu widersprechen, denn die Situationen, in denen wir handeln müssen, sind so verschieden, dass sie auch verschiedene Antworten, ja, gegensätzliche Antworten erfordern. Sie kennen alle den Spruch: In der Ruhe liegt die Kraft. Aber dann gibt es gleich einen Satz von Leibniz:

„Die Ruhe ist eine Stufe zur Dummheit. Man muss stets etwas finden, was es zu tun, zu denken, zu entwerfen gilt, wofür man sich interessiert, sei es für die Öffentlichkeit oder den einzelnen.“

Das Finden der richtigen Lösung in all unseren Lebenssituationen ist kein Paukenschlag, die richtige Lösung auch nicht. Was in einer konkreten Situation die richtige Lösung ist, lässt sich nur in der Situation unter den Bedingungen derselben sagen und entscheiden. Die Situationen sind komplex, die Individuen auch. Sie stellen die Freiheit gegenüber allen Notwendigkeiten und Zwängen in Rechnung. Zur Weisheit gehört das Sehen der Freiheit in scheint´s vermauerten Situationen. Sie entwirrt den Knoten. Sie löst die Fesseln. Sie gibt Heiterkeit. Die Vernunft steht nicht auf irgendeiner Seite: nicht auf der des Es, nicht auf der des Über-Ich, nicht auf der der Realitätsanforderungen. Auch nicht auf der des Ich, etwa der puren Selbsterhaltung oder Selbstbehauptung. Die Unterscheidung in Vernunft und Verstand, so wie Kant sie vornimmt, hat den Sinn für die Vernunft verloren, obwohl gerade Kant, worauf ich noch kommen werde, gerade ein weiser Philosoph ist. Es geht, wenn es um Vernunft geht, nicht nur darum, die allgemeine Geltung von Urteilen zu begründen. Die Weisheit ist eine Form des Geistigen, die situativ und kommunikativ ist. Vernunft ist ein Handeln mit Situationsgerechtigkeit, sie geht davon aus, dass etwas bewegt werden kann. Dazu gehört die Fähigkeit, nicht nur Wahrheiten zu sagen, sondern einen Weg zu finden, der Überzeugungen erzeugt, auch wenn die Wahrheit eben noch nicht verbürgt ist. Leben ist ein offener Prozess. Leben kostet auch Mut. Man kann dabei verlieren, sogar verraten werden.

G.

Traditionelle Weisheitsformen sind nicht unbedingt als Vorbilder für vernünftiges Handeln einfach zu übernehmen. Es ist nicht nur eine Frage, ob die Weisheitslehre der Stoa noch zeitgemäß ist – oder auch jemals war. Mir scheint eine Lebenshaltung, in welcher die Unerschütterlichkeit des Gemüts (die Ataraxie), die Selbstgenügsamkeit (die Autarkie) und die Unabhängigkeit von äußeren Umständen (die Apathie) ein Klugheitsreglement zu sein, das in bestimmten Zeiten – vielleicht sogar ganzen Zeitepochen – helfen kann, das Leben zu ertragen, aber die freie Entfaltung der Seelenkräfte der Menschen ist das bestimmt nicht. Dabei wird gewissermaßen das Leben unentwegt gegen den Strich gebürstet, um leben zu können. Das Wagnis der Enttäuschung gehört zum Leben. Wer nicht enttäuscht werden will, sollte nicht zu leben beginnen, nur liegt das nicht in unserer Entscheidung. Leben ist ein Wagnis, dem Leben ist nicht auszuweichen. Das zu wissen, ist gerade Weisheit.

Auch der Pessimismus von Arthur Schopenhauer ist keine Vorlage für eine vernünftige Lebensführung, obwohl er das bekannteste deutschsprachige Buch zu diesem Thema geschrieben hat, die Aphorismen zur Lebensweisheit. Es trieft vor Pessimismus, der nicht die Gestaltung und Entfaltung des Lebens vor Augen hat, sondern ein geschicktes Durchkommen durch dieses Tal des Jammers. So heißt es in der zitierten Schrift:

„Wer aber vollends die Lehre meiner Philosophie in sich aufgenommen hat und daher weiß, dass unser ganzes Daseyn etwas ist, dass besser nicht wäre, und welches zu verneinen und abzuweisen die größte Weisheit ist, der wird auch von keinem Dinge, oder Zustand, große Erwartungen hegen, nach nichts auf der Welt mit Leidenschaft streben, noch große Klagen erheben […].“

Ich möchte nicht darauf hinaus, dass es nicht Phasen und Umstände des Lebens gibt, in denen man in solch strikte Negation des Lebens überhaupt geraten kann; ich bin weit davon entfernt, das Leben für eine rosige Angelegenheit zu halten; ich bin mir auch sicher, dass ohne die Erfahrung von Trauer, Einsamkeit, Scheitern, Schmerz, Ungerechtigkeit und Demütigung weder die Freiheit wirklich erfahren werden kann, noch die Vernunft die ganze Provokation des Lebens erfährt, um sich zur Weisheit durchzuringen.

H.

Meine Damen und Herren,

ich weiß, dass ich hier heute keine Theorie der Vernunft als den Geist der Lebensführung systematisch entfalten kann. Es kommt mir nur darauf an, diese Aufgabe aufzuzeigen und das Phänomen zu umreißen. Es ist auch eine wichtige Aufgabe für die Philosophie. Heute ist die Philosophie als Fach fast nur noch das, was Kant im Gegensatz zur Weltweisheit Schulphilosophie genannt hat. Sie ist Theorie geworden, oft nur von Experten zu verstehen. An die Psychotherapie hat sie ihre Kompetenz der Beratung von Menschen in Grenzsituationen nahezu vollkommen verloren. Erst wenn die Philosophie auch wieder eine Lehre der Weisheit ist, wird sie anschließen können an die einmal erreichte Höhe ihrer Tradition.

Ein weiterer Punkt, um den Bereich näher zu kennzeichnen, um den es mir hier geht, ist die Unterscheidung von Erfahrung und Erkenntnis. Natürlich ist jede Erfahrung auch eine Erkenntnis, aber nicht jede Erkenntnis eine Erfahrung. Erkenntnis muss nichts mit Weisheit zu tun haben, Weisheit ist aber etwas, das aus Erfahrung hervorgeht. Der Unterschied zwischen Erkenntnis und Erfahrung lässt sich gut an Hand der Mathematik erklären.

Die Mathematik erzielt ihre Ergebnisse, indem sie von dem Ich, von dem Bewusstsein, das sie ausübt, abstrahiert. Deshalb kann man ihre Ergebnisse an einer Tafel eins zu eins festhalten. Das lebendige Bewusstsein, wenn das zum Gegenstand der Erkenntnis wird, ist ein Phänomen fortgesetzter Erfahrung und lässt sich nur als Erfahrungsprozess darstellen, der selbstverständlich zu jedem Zeitpunkt eine Stufe der Erfahrung erreicht hat, auf der es sich äußern kann, von der es aber auch zurückfallen kann. Und kein Bewusstsein lässt sich als Formel oder Ergebnis an einer Tafel fixieren. Erfahrung ist ein Fluss und besitzt eine qualitative Komplexität, die von einem Ich nicht zu trennen ist. Erfahrung unterscheidet sich von Erkenntnissen prinzipiell dadurch, dass Erkenntnis als Abstraktion vom Ich möglich ist, Erfahrung dagegen nicht. Das Ich kommt in der Mathematik nicht vor. Darin liegt deren erstaunliche Produktivität und in gewissem Sinne auch ihre wortwörtliche Unmenschlichkeit, obwohl der Mensch zum Denken in dieser Sphäre fähig ist. Weisheit nun ist nichts Berechenbares. Sie geht – wie ich vorhin sagte – aus den gesammelten Erfahrungen eines sich seiner selbst und der Welt bewussten Ichs hervor. Aber sie ist nichts Zwingendes. Nicht jeder zieht aus seinem Leben die vernünftigen Schlüsse. Vernunft ist keine Muß-Größe, sondern eine Kann-Größe.

Die Erfahrung, das Medium unseres bewussten Seins sei der Fluss, hatte ich gesagt. Das drückt in wundervoller Weise Lessing aus:

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir ‚Wähle!‘ – ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ‚Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!‘“

I.

Ich möchte fast sagen, Philosophen, die das vergessen, vergessen das Spezifikum der Philosophie. Das Wissen um die Begrenztheit des Wissens bei aller Bemühung um Wissen war von Beginn an ein Kennzeichen des Philosophierens. Wenn jemand kaum etwas von der Philosophie kennt, so kennt er doch den Spruch des Sokrates: dass der wisse, nichts zu wissen. Ohne dieses Wissen um die Begrenztheit des Wissens gibt es keine Weisheit und keine Vernunft, auch wenn sich das paradox anhören mag. Das Wissen um die Begrenztheit des Wissens bringt die grundsätzliche Lebenslage der Menschen zum Ausdruck, nämlich handeln zu müssen, ohne alle Faktoren zu kennen, die eine Rolle spielen. Das Orakel von Delphi hatte Sokrates den Weisesten unter den Athenern genannt. Sokrates, der zunächst nicht wusste, warum die Pythia in Delphi dazu kam, das zu sagen, ging zu den Staatsmännern, den Dichtern und den Handwerkern, um es in den Gesprächen mit diesen herauszubekommen. Er fand, dass sie alle ein vortreffliches Wissen über ihre Bereiche besaßen, aber zugleich meinten, dass sie deshalb auch in allen übrigen Bereichen Bescheid wüssten. Darin nun unterschied sich Sokrates von den andern. Nachdem er bei einem für weise Gehaltenen war, kam er zu dem Ergebnis: „Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“ Dieses Bewusstsein um die Grenze allen Wissens muss man als Quell der unglaublichen Produktivität des Denkens und Bedenkens von Sokrates und seines Schülers Platon ansehen. Für sie war die Welt nicht nur das, was wir wissen, sondern auch das, was wir nicht wissen, also etwas Offenes, wie das weite Meer, das keine Küste erkennen lässt – und nur das Offene erzeugt die Produktivität des Fragens. Von daher kein Wunder, dass, wie der amerikanische Philosoph Whitehead sagte, die gesamte Philosophie bis heute nur aus Fußnoten zu Platon besteht.

J.

Ein weiteres Kennzeichen der Vernunft lässt sich aus ihrem Verhältnis zu Angst und Furcht beschreiben. Die Vernunft kennt die Furcht vor konkreten Bedrohungen und Gefahren des Lebens, auch die unbestimmte Angst vor dem Nichts angesichts der Unendlichkeit des Kosmos, aber sie handelt weder aus Furcht noch aus Angst. Sie erlangt die ihr eigene Freiheit gerade, indem sie sich von Furcht und Angst nicht jagen und treiben lässt, sondern zur Besonnenheit findet, d.h. das Subjektive, das jedes Ich immer ist, in den objektiv gegebenen Zusammenhängen zu verstehen fähig ist. Ich erinnere an die Weisheit des Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal:

„Der Mensch ist nichts als ein Rohr, das schwächste der Natur, aber ein denkendes Rohr. Es ist nicht nöthig, dass das ganze Universum sich rüste ihn zu zermalmen. Ein Dunst, ein Tropfen Wasser reicht hin ihn zu tödten. Aber wenn das Universum ihn zermalmte, würde der Mensch noch edler sein als das, was ihn tödtet, weil er weiß, dass er stirbt und welchen Sieg das Universum über ihn hat, das Universum weiß nichts davon. Also alle unsre Würde besteht im Denken. Dessen müssen wir uns rühmen, nicht des Raums und der Dauer. Wir müssen uns also bemühen gut zu denken, das ist die Grundlage der Moral.“

Die geistige Unabhängigkeit, die aus dieser Perspektive zu gewinnen ist – ich glaube, das ist es eigentlich auch, was man immer von einem Philosophen erwartet, diese Distanz zum Alltag –, ist eine der tiefen Quellen von Vernunft und der Weisheit. Aber auch sie ist nicht frei davon, geradezu in ihr Gegenteil umzuschlagen, wenn sie sich über die konkrete gegenwärtige Situation hinweg denkt und anstatt sich praktisch im Hier und Heute zu begreifen, kontemplativ im kosmisch Unendlichen herumschwirrt, ohne jemals Land zu sehen. An diesem Beispiel tritt ein Zug der Vernunft deutlich hervor: Vernunft kann immer in Extreme geraten, weil sie im Ideellen beheimatet ist, sie ist aber nur vernünftig, wenn sie dies durchschaut und zur Erde zurückfindet, wo alles Ideelle den Raum ihrer Fragen und Antworten hat.

K.

Und da ich gerade bei Pascal bin, möchte ich noch auf grundsätzliches Merkmal der Vernunft eingehen, das er in der klarsten Weise zum Ausdruck bringt.

„Wir erkennen die Wahrheit nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen. Gerade diese letzte Art erkennen wir in den ersten Prinzipien, und vergebens trachtet die vernünftige Überlegung, die nicht daran beteiligt ist, jene zu bekämpfen […]. Wie ohnmächtig wir auch sind, es mit der Vernunft zu beweisen, so ist doch aus dieser Ohnmacht nichts anderes als die Schwäche unserer Vernunft zu schließen, nicht aber die Ungewißheit all unserer Erkenntnisse […]. Denn die Erkenntnis der ersten Prinzipien, wie etwa, dass es Raum, Zeit, Bewegung, Zahlen gibt, ist ebenso sicher wie irgendeine von jenen, die unsere vernünftigen Überlegungen uns vermitteln, und auf diese Erkenntnisse des Herzens und des Instinkts muss die Vernunft sich stützen und darauf ihre ganze Urteilskraft begründen.“

Was ist hier mit dem Herzen gemeint? Ich möchte es nicht zu eng interpretieren. Es gibt in uns einen Wegweiser, der nicht nur aus der verständigen Rationalität oder der vernünftigen Idealität stammt, sondern aus dem Natursein des Menschen: ein Naturwille in uns, zu dem ein nicht weiter in Frage zu stellender Wunsch nach Glück gehört, nach Entfaltung des Selbst, nach Zugehörigkeit zu den Mitmenschen, was wir Gemeinsinn nennen können, ein Glaube, dass die Welt in ihrem unendlichen und unermesslichen Bestand auch die Hoffnung auf ein zukünftiges Bestehen berechtigt erscheinen lässt. Nur wenn die Vernunft dieses Andere ihrer selbst anerkennt und – ich möchte sagen – demütig zu ihrer eigenen Sache macht, wird sie wirklich Vernunft sein.

Nur wenn wir die Weisheit zurückerlangen als die Wirkstätte unserer Vernunft, werden wir auch in den Bereichen der Rationalität: der Zweckrationalität, der instrumentellen Vernunft, der Effektivität, des Nutzens, des Berechenbaren in Wissenschaft, Wirtschaft und Technik zu vernünftigem Handeln fähig sein – und sie nicht als entfremdete Kräfte ansehen, die über uns hereinbrechen und uns zu Opfern machen.

L.

In der Ankündigung zu diesem Vortrag hatte ich geschrieben, dass die Ressource Vernunft die größte Provokation ist. Unentwegt sind wir in unserem Leben dabei, unser Leben zu führen, zu gestalten, nicht minder als wir atmen und uns ernähren müssen. Geistig sind wir mit der Welt nicht minder verbunden als sinnlich und biologisch. Unser Leben ist ein ständiger Entscheidungsprozess, selbst in den kleinsten, alltäglichsten Dingen, die wir gar nicht bemerken. Und es ist und war nie nur ein Ordnungshüter. Die Vernunft ist das Lebendige, das nicht Reglementierte. Die Vernunft war zu allen Zeiten eine Quelle der Inspiration und Motivation, das jeweils Bestehende mit Ideen zu konfrontieren, die den Horizont des Gegenwärtigen überstiegen und dessen oft vorhandenen Absolutheitsanspruch in Frage zu stellten. In allen Epochen war die Vernunft ein Unruhestifter und Aufwiegler gegen herrschende Unvernunft – wir brauchen nur an Sokrates und Jesus zu denken, den Prototypen der Vernunft. Auch wenn sie beide von ihren Zeitgenossen als Provokateure der bis dahin gültigen Lebensordnung hingerichtet wurden, ihre Botschaften hatten doch eine Kraft, die nicht auszurotten war, der sich die Menschen durch alle Epochen hindurch nicht entziehen konnten: Beide sind zu den Begründern unserer Kultur geworden. Offensichtlich haben wir alle doch eine Affinität zu dem, was sie uns mitteilten. In uns wirkt nicht nur die Unvernunft, sondern auch die Vernunft. Nicht immer ist sichtbar, worin die Vernunft von irgendwelchen Geschehnissen besteht, oft wird die List der Vernunft erst viel später durchschaut. Eines ist jedenfalls gewiss: Unvernunft findet keine Ruhe, die Vernunft gibt keine Ruhe. Sie ist die nachhaltigste Provokation. Es täusche sich niemand.

An der Wiege zu allem Neuen steht die Vernunft Pate. Die Geschichte ist in ständiger Bewegung, nicht immer hat sie solche Fahrt aufgenommen wie gegenwärtig. Es scheint als würden wir heute in eine neue Achsenzeit hineingeraten – oder schon mitten drin sein. Ein Umbruch deutet sich mit der Globalisierung und den neuen technischen, kommunikativen Möglichkeiten an, dessen Folgen wir kaum abschätzen können. Unter diesen Bedingungen müssen wir unser Bewusstsein öffnen, um Ahnungen für das wünschenswert Neue, Andere der Zukunft hervorzubringen. Es geht nicht weiter mit Nationen oder Religionen, die sich gegenseitig bekämpfen. Es geht nicht so weiter, dass die Menschen auf dem einen Kontinent verhungern und auf dem andern vor Überfluss erkranken. Es geht nicht so weiter, dass die einen Arbeit haben und die andern alimentiert werden. Und so weiter, und so weiter. Wer diese neuen Möglichkeiten nicht als Notwendigkeiten erkennt, sondern als Utopien, als Spinnereien abtut, hat die dynamische Kraft der Vernunft noch nicht begriffen. Zu begreifen, dass die Vernunft eine dynamische Kraft der Geschichte ist, ist geradezu einer der wichtigsten Erkenntnisschritte in der Gegenwart.

M.

Am nächsten Freitag, dem 20. April führen wir eine Anarchonacht pro Vernunft durch. Sie sind herzlich eingeladen. Diese Nacht soll ein Ort sprudelnder, produktiver Diskussionen und Auseinandersetzungen sein. In einer Zeit des Umbruchs ist es nicht ratsam, die Gedanken weiter in den alten Bahnen kreisen zu lassen, sondern als eine Zeit der Offenheit zu nutzen. Verwirrende Gegenwartsanalysen, wagemutige Ausblicke in die Zukunft, kritische Fragen und Antworten, erfrischende Deutungen alter Texte – all das soll auf den Tisch! Die Vernunft wagt das Chaos.

Philosophie und politisches Handeln

Symposium im Rahmen des Max-Weber-Programms der Studienstiftung des deutschen Volkes, 4. Juli 2008, Bamberg

Dr. Gerhard Stamer
Weitere Referenten: Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, der gegenwärtige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie sowie sein Vorgänger Carl Friedrich Gethmann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

zunächst möchte ich mich für die Einladung zu diesem Symposium bedanken. Ich sehe es als besondere Anerkennung an, daß ich als Vertreter eines außeruniversitären Instituts zu diesem Symposium eingeladen wurde. Andererseits zeigt die Einladung, daß es ein politisch-philosophisches Handeln außerhalb der Universität gibt – und daß dies von der Studienstiftung wahrgenommen wird.

Meine Absicht ist es nicht, mit diesem Vortrag eine allgemeine Theorie der politischen Philosophie vorzutragen. Was ich stattdessen vorhabe ist, einen Bericht abzugeben über ein Basisprojekt der Philosophie, über das Institut für Praktische Philosophie REFLEX, das ich 1994 gründete und das in diesem Jahr 15 Jahre besteht. Ich sehe diese philosophische Basisarbeit für eine sehr wichtige Form politischen Handelns an. Und das ist ja unser Thema.

Als erstes möchte ich die Ausgangskonstellation für die Gründung des Instituts beschreiben – und ich scheue mich nicht, diese Konstelletion als eine historische zu bezeichnen.
Von 1964 bis 1969 hatte ich in Frankfurt studiert und das Marxverständnis der Frankfurter Schule weitgehend zu dem eigenen gemacht. 1969 brach ich das Studium als Dotorand von Jürgen Habermas ab und war von 1970 ab mehrere Jahre Schiffbauer auf der Werft Blohm & Voß in Hamburg. Als Kritiker der Gewerkschaft bin ich sogar in den Betriebsrat gewählt worden. 1978 nahm ich das Studium in Hannover wieder auf. Meine Dissertation bei Oskar Negt thematisierte den Sozialdemokraten Eduard Bernstein, der die Forderung aufgestellt hatte „Zurück zu Kant!“ In dieser Arbeit vollzog ich einen persönlichen Paradigmenwechsel. Ich gewann die Überzeugung, daß eine Theorie gesellschaftlicher Veränderung in einem humanen Sinn nicht materialistisch auf der Basis von Bedürfnissen, Arbeit und objektivem Geschichtsverlauf begründet werden könne, sondern nur idealistisch auf der Basis von Vernunft, Freiheit und offenem historischem

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Horizont. Die Praktische Vernunft Kants wurde für mich zum Ausgangspunkt aller weiterer Überlegungen zur politischen Philosophie.

Für mich als einen Aktivisten der 68er Bewegung wurde es zur zentralen Frage nach dem Scheitern aller sozialistischer Projekte und nach der theoretischen Überwindung des Materialismus: Wie kann eine neue Form der Politik aussehen, die dabei bleibt, den Kapitalismus als Gesellschaftsform, in welcher die Ökonomie über den Menschen herrscht, abzulehnen, die sich aber zugleich grundsätzlich von dem Marxismus verabschiedet hat?

Entschuldigen Sie, daß ich hier so weit auf das Biographische eingegangen bin, aber zum Verständnis des Ansatzes, mit dem REFLEX gegründet wurde, sind diese Ausführungen notwendig. Denn die gesamte Arbeit von REFLEX bestand und besteht daher nicht nur darin, beliebige Kurse und Veranstaltungen durchzuführen, um Philosophie in aller Breite in die Öffentlichkeit zu tragen, sondern in der systematischen Bemühung, einen neuen Begriff von Politik zu erarbeiten. Das blieb durchgehend die interne Seite, ein Lernprozeß des Lehrenden, der seine Teilnehmer in dieses engagierte Philosophieren hineinzog. Daß REFLEX heute noch besteht, hat nach meiner Einschätzung den Grund, daß hinter allem dieses leidenschaftliche Konzept steht. Dieses Suchen, diese Offenheit, aber eben nicht ins Blaue, sondern ausgehend von einer klar bestimmbaren historischen Konstellation, macht bis heute die Attraktivität für alle Teilnehmer aus – welcher Couleur auch immer, wenn ich mich nicht täusche. Es ist ein Arbeiten an der Gegenwart.

Das Institut REFLEX ist als gemeinnütziger Verein gegründet worden. Finanzielle Rücklagen, ein ansehnliches Erbe oder sonstige Zuwendungen gab es nicht. Die ersten Jahre wurde ich durch eine AB- Maßnahme finanziert. Die Räumlichkeiten stellte ein befreundeter Rechtsanwalt in seiner Praxis generös zur Verfügung.

Als Zielsetzung wurde in der Satzung bestimmt, daß REFLEX für die Vergrößerung des Einflusses der Philosophie in der Öffentlichkeit sorgen wolle.

Seit seinem Beginn trat REFLEX mit einem Programm an die Öffentlichkeit, das regelmäßig zwei- oder dreimonatlich erschien. Das Angebot des Programms beinhaltet bis heute eine solide Textarbeit an klassischen Texten, wie sie auch an der Universität vermittelt wird. Drei, manchmal auch vier Kurse laufen durchschnittlich pro Woche. Die Arbeit ist immer sehr intensiv. Mit einer Gruppe von 10 Teilnehmern sitze ich beispielsweise seit 2 Jahren an Hegels Phänomenologie des Geistes.

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Wie lesen sie von Seite zu Seite. Voraussichtlich im Herbst werden wir beim absoluten Wissen angekommen sein.

Eine wichtige Rolle spielen die Studienreisen, die wir durchführen. Seit 1994 sind es jetzt rund 50, die wir durchgeführt haben – vor allem zu traditionellen Orten der Philosophie wie Jena, wo sich um 1800 die Klassiker Goethe und Schiller, die idealistischen Philosophen und die Romantiker trafen. Eine Reise führte uns nach Kues, zu Nicolaus Cusanus. In Italien, dem klassischen Elea, wo ein weites Areal von Ausgrabungen das frühe Stadtbild freigelegt hat, war ich mehrere Jahre hindurch. Ich hatte 1990 eine Monographie über Parmenides geschrieben. In Griechenland zogen wir auf den Spuren von Hölderlins Hyperion durch die Peloppones. In Cordoba stand die mittelalterliche arabische Philosophie von Avicebron, Maimonides und Averroes auf dem Programm. Zu Thales und Anaximander in der heutigen Türkei war ich vor drei Jahren mit einer riesigen Gruppe von über zwanzig Teilnehmern. Regelmäßig im Winter geht es nach Sylt, im Sommer nach Isenthal, einem kleinen Ort in den Schweizer Alpen.

Diese Reisen werden stets öffentlich ausgeschrieben. Sie führen zu intensiven Bekanntschaften unter den Teilnehmern, so daß sich über die Jahre ein fester Kern von Sympathisanten herausgebildet hat. Vor allem durch diese Reise ist ein soziales Netz um REFLEX entstanden, das durch ehrenamtliche Tätigkeit, auch ansehnliche Spenden, das Institut trägt. Bei der Gründung von REFLEX hatte ich diesen Aspekt der Tätigkeit überhaupt nicht im Blick, jetzt weiß ich, wie wichtig er ist.

Eine Entscheidung, die ich bei der Gründung allerdings bewußt traf, war die Konzentration auf einen festen Standort. Dies führte zu einem sich immer mehr vernetzenden Zusammenhang von Personen und Institutionen, die REFLEX zu einem bekannten urbanen Zentrum machte, das heute zur kulturellen Szenerie der Stadt gehört.

Wenn REFLEX erstens eine Philosophieschule ist, so ist es zweitens ein städtisches Zentrum der Philosophie, allseits bekannt.

Wir sprechen hier zu dem Thema „Philosophie und politisches Handeln“. Ich möchte in diesem Vortrag nicht in eine grundsätzliche, theoretische Debatte einbiegen, um zum Beispiel das Handeln vom Herstellen und von der Arbeit zu unterscheiden wie es Hannah Arendt in „Vita aktiva“ tut. Sicherlich interessant, die Aktivitätsform des spezifisch Philosophischen zu erörtern. Ich möchte es dabei belassen, daß politisches Handeln in den Worten von Hannah Arendt auf den öffentlichen Raum gerichtet ist, auf das Gemeinsame einer Polis, aber

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auch auf die gegenwärtigen großräumigen politischen und kulturellen Einheiten.

Worauf ich hinaus möchte, das ist die Bürde, die dem Philosophen auferlegt wird, wenn er auch noch politisch sein soll. Der philosophische Gelehrte hat oft gerade in der Abwendung von den alltäglichen politischen Wechselfällen das Grundsätzliche gesucht: das Wesen, die Substanz, das Allgemeine, das Ewige. Das Pragmatische ist nicht unbedingt die Sache des Gelehrten. Wer aber politisch wirken will, muß sich pragmatisch auf kurze Zeitverhältnisse einlassen, sogar auf Kräfteverhältnisse. Unter den Bedingungen des Bologna-Prozesses, die jetzt an den Hochschulen zu beunruhigenden Umstrukturierungen führen, sind Forschung und Lehre bedroht. Die Verteidigung qualifizierter Forschung und Lehre scheint die vordringliche Aufgabe zu sein, aber gerade nur durch ein politisches Handeln kann der drohende Qualitätsverlust von Forschung und Lehre verhindert werden. Politisches Handeln ist aber nicht einfach identisch mit Forschung und Lehre. Die Anforderungen wachsen, das Selbstverständnis der eigenen Tätigkeit gerät ins Wanken.

Wer also politisches Handeln von Philosophen fordert, muß zugleich Bereitschaft zu einem Pragmatismus fordern. Ich weiß nicht, ob die Ausgerichtetheit auf Forschung und Lehre an den Hochschulen und das dazugehörige traditionelle akademische Milieu dazu geeignet sind. Der Ansatz hingegen, der dem Institut REFLEX als außeruniversitärer Einrichung zu Grunde liegt, war von Beginn an auf eine qualifizierte Popularisierung der Philosophie ausgerichtet und – noch wichtiger! – auf pragmatische Initiativen und Projekte.

Das beste Beispiel die Weltausstellung in Hannover im Jahre 2000. Weder das Philosophische Seminar noch das Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik an der Universität hatte erkannt, das sich hier eine bedeutsame Gelegenheit zu politischem Handeln bietet. Ganz anders das Institut REFLEX aus seiner außeruniversitären Perspektive. Gerade darin, Gelegenheiten für öffentliche Interventionen zu erkennen und zu nutzen, besteht das A und O einer innovativen politischen Wirksamkeit der Philosophie. Drei Veranstaltungen führte REFLEX zu der Expo 2000 durch.

Die erste Veranstaltung war ein überaus gut besuchter Vortrag im Leibniz-Haus in Hannover, der das Motto der Weltausstellung „Mensch- Natur-Technik“ thematisierte, in dem ich das spezifisch Anthropologische gegenüber Natur und Technik herausarbeitete. Dies erwies sich als durchaus nötig, denn auf der Weltausstellung selbst wurde auf großen Lettern im Pavillon der Chemie verkündet: Du bist Chemie!

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Der zweite Vortrag war eine Multimediashow mit einer der führenden High-Tech-Firmen der Bundesrepublik. Eingeladen zu dem Vortrag hatte mich der Förderverein Expo 2000, eine Initiative der Unternehmer- verbände Niedersachsens. Mein Vortrag trug die Überschruft „Urbanität und Universalität“und war darauf angelegt zu zeigen, daß wenn es um die Darstellung von Welt ginge, der eigentliche Exponent die Stadt Hannover selbst sei mit ihrem unendlichen internationalen Beziehungsgeflächt, nicht aber das Expogelände und was dort stehen würde. Ich machte Ausführungen über die Industriemesse, die seit Jahrzehnten in Hannover stattfand, über die Evangelisch-lutherische Kirche, die hier ihr Zentrum hat, bis zur Städtepartnerschaft mit Hiroshima, nur um einiges zu nennen. Dann sprach ich Leibniz an und entfaltete die Idee der Universalität, die ich auf die Stadt bezog und als Urbanität deutete. Ich schloß mit den Worten: „Vielleicht wäre dies der intime Auftrag der Expo, das städtische Leben zu dem Bewußtsein seiner Universalität zu verhelfen; die Offenheit des Menschen für die Welt – für alle anderen Menschen – an diesem Ort zu bekunden.“

Ich erntete rückhaltlosen Beifall, aber die Idee, die Stadt zum Exponat zu machen, verhalte als wäre sie nie geäußert worden.

Der dritte Vortrag war der Eröffnungsvortrag zu einer der Expo gewidmeten Veranstaltungsreihe des Bundes Deutscher Architekten Niedersachsen. Der Titel: „Die Struktur des Raumes und die urbane Gemeinschaft. Philosophische Betrachtungen zum Thema Stadt und Städtebau“. Mein Vortrag zielte darauf ab, die Stadt nicht nur als räumliches Gebilde von Häusern und Straßen anzusehen, sondern als Netz lebendiger gemeinschaftlicher Beziehungen, die sich in Traditionen, Festen, Geschichten atmosphärisch zu einem bestimmten Charakter verdichten. In Hannover zu einem relativ langweiligen. Das aber sagte ich nicht.

Ich werde fortfahren mit der Charakterisierung einiger Vorträge zu denen ich eingeladen wurde. Es geht mir dabei nicht darum, meine eigene Vielseitigkeit unter Beweis zu stellen oder die Fähigkeit, Wissen organisieren zu können, beides muß man fraglos besitzen. Worum es mir geht, ist kurz zu zeigen, von wie vielen verschiedenen Stellen, die Philosophie abgerufen wird und zu welchen Zwecken. Philosophie wird gebraucht. So einfach ist das.

Der Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik der Uni Hannover lud mich zu meiner Überraschung zu einem sommerlichen Festvortrag ein. Ich betitelte ihn:

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„Warum der Techniker Gottfried Wilhelm Leibniz auch im Zeitalter der Globalisierung Philosophie betreiben würde – oder – warum alle Techniker das heute auch noch tun sollten.“ Ich hatte den Eindruck, dem Vortrag wurde durchaus Respekt gezollt. Aber am Schluß als mir der Dekan die Hand schüttelte und dazu sagte: „Solch einen Vortrag habe ich seit meiner Studienzeit nicht mehr gehört.“, war ich sicher, zum Fest nicht viel beigetragen zu haben.

Auf einer Kooperationsveranstaltung mit dem Behindertenbeauftragten des Landes Niedersachsen zum Thema Menschenleben – Menschenwürde referierte ich über
„Brauchen wir noch die Würde, wenn wir die Gene entziffert haben?“ Der Referent geriet in erhebliche Schwierigkeiten, die anwesenden Behinderten von der Kantischen Position zu überzeugen, daß die Würde eng mit der Freiheit des Menschen verbunden wäre. Dennoch war der Vortrag ein Erfolg, denn er landete über kritische Bioenergetiker in einer Kommission des Bundestags.

Einen Riesenerfolg hatte ich dagegen sofort auf einem Seminar Umwelthygiene der Weltgesundheitsorganisation, das in Hannover stattfand, zum Thema „Tiere als Infektionsquelle für den Menschen? – Fakten – Emotionen.“ Ich referierte über „Wahrnehmung von Problemen in der Wohlstandsgesellschaft“. Mein Fazit lautete: „In dem Zusammenhang, den wir heute hier behandelt haben, scheint mir das Richtige ohne große Schwierigkeiten formulierbar: Worauf es ankäme wäre:

  1. zu erkennen, daß die Tiere ein gesundes Leben führen müssen, wenn sie gesund bleiben sollen, d.h. wenn ihr Fleisch für Menschen bekömmlich sein soll,
  2. zu erkennen, wie weit wir es sind, die die Tiere krank machen. Wir müssen unser Verhalten ändern, wenn wir die Infektionen seitens der Tiere eindämmen wollen.

Allgemein ausgedrückt ist dies die Forderung nach der Beendigung uneingeschränkter Naturbeherrschung.“ Ich hatte den Eindruck, nichts Besonderes gesagt zu haben, aber der Vortrag wurde dann auch in einschlägigen Zeitschriften der Tierärzte abgedruckt und ich erhielt weitere Einladungen zum Thema, sogar aus Bayern.

Die Handwerkskammer Hannover lud mich zu einer Veranstaltung des in Hannover bekannten Photographen Joachim Giesel ein. „Die Leidenschaft zur Vergegenwärtigung“ nannte ich den Vortrag. Und ich führte aus, daß bei aller neuen Technik das Festhalten eines Augenblicks

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weiterhin seinen Zauber behalten wird. Die anwesenden Photographen gingen beruhigt nach Hause und ich bekomme seither die schönsten Photos, wenn ich sie brauche.

„Wie Risiken zu Chancen werden“ hieß ein Vortrag, den ich im Auftrag der Stadtsparkasse Hannover hielt. Ich wollte die Theorie der Risikogesellschaft von Ulrich Beck weiter denken. Ich hielt das, was ich referierte für ziemlich moderat. Aber ich war viel zu sehr auf Marx eingegangen. Und vor der riesigen Klientel der Sparkasse fühlte ich mich einsam wie nie zuvor.Vielleicht aber hatte ich auch die Situation vollkommen falsch eingeschätzt. Denn mein Vortrag wurde auf Kosten der Sparkasse als hübsche Broschüre gedruckt und REFLEX erhält auch immer noch Förderungen für das eine oder andere Projekt.

Die letzten Vorträge, auf die ich eingehen möchte, hielt ich in Hanau auf Einladung der Stiftung der Heraeus-Werke. Durch persönliche Kontakte zu Hannover war man auf mich gekommen.
„Europa; das Zentrum der Welt oder der untergehende Kontinent?“ war der Titel. Zuvor hatte ich bereits über „Wann wird die Religion gefährlich?“ referiert. Der erste Vortrag war eine Antwort auf die abfällige Bemerkung des US-Verteidigungsministers Rumsfeld, der vom „alten Europa“ sprach so als hätte es die Zähne verloren. Der andere Vortrag war inspiriert durch die beiderseitige religiöse Position der radikalen Islamisten und der ebenso radikalen Bush-Kameraderie. Es ließ sich alles gut an, aber dann wurde eine große Podiumsdiskussion organisiert, an der auch der Lokalmatador Singer teilnahm. Natürlich kamen wir auf die Hirnforschung zu sprechen und als ich bemerkte, daß man das Bewußtsein im Gehirn nicht finden würde und Begriffe keine Synapsen seien, solange man auch forschen werde, was Leibniz schon wußte, war der Spaß zu Ende und ich in Hanau nicht mehr gesehen.

Alle meine Vorträge habe ich in einem Band herausgegeben. Das Vorwort dazu sagt am besten, warum ich hier auf sie eingegangen bin. Ich zitiere:
„Die Philosophie hat es immer damit zu tun, den in ihrer Tradition einmal erreichten Stand der Reflexion zu erhalten. Es ist eine ständige Bemühung, die Einsicht in die Komplexität des Menschen und seiner Lebenswelt, die in den großen Werken der Philosophiegeschichte vorliegt, zu bewahren. Aber darin kann sich die Philosophie in einer Zeit starken Wandels nicht beschränken. Es gilt, die neuen Vorkommnisse der Gesellschaft und der Kultur mit dem in der Geschichte erreichten Stand der Reflexion zu konfrontieren, um sie zu verstehen. Hier verbindet sich die vita contemplativa mit der vita activa.

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Die in diesem Buch zusammengestellten Vorträge sind vornehmlich aus einer solchen Intention entstanden. Ob es sich um Städtebau handelt, um Arbeitslosigkeit oder Photographie, die Philosophie hat eine Blickweite und -schärfe, dass sie sich zu allen Themen und Fragen, die sich im Leben der Menschen und ihrem Verhältnis zur Welt stellen, profund zu äußern vermag. Philosophie realisiert sich als weltzugewandte Vernunftleistung, die Wirklichkeit zu bewältigen. Darin, den Primat praktischer Vernunft einzulösen, wie ihn Immanuel Kant formuliert hat, hat sie ihre höchste Aufgabe.“

Es kommt eine erstaunliche Liste zustande, wenn man sich die genannten Institutionen noch einmal vor Augen führt, von denen die Einladungen kamen:

Die Unternehmerverbände, der Bundesverband deutscher Architekte, der Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik der Universität, der Behindertenbeauftragte des Landes Niedersachsen, die Weltgesundheitsorganisation, die Handwerkskammer Hannover, die Stadtsparkasse Hannover, die Stiftung eines Großunternehmens.

Ich möchte dazu etwas hinzufügen: Wie auch immer die Vorträge ankamen, völlig egal, sie sind Beispiele für das Interesse an Philosophie und sie zeigen, daß hier ein großes, bis jetzt noch nicht genutztes Feld für die Philosophie liegt – außerhalb des akademischen Bereichs.

Anknüpfend hieran möchte ich auf eine weitere Dimension von Philosophie eingehen, die außerhalb der Universität besteht. Ich nenne sie die Erscheinung der existenziellen Alltagsphilosophie. Das heißt, Philosophie existiert nicht nur als Schulphilosophie und Weltweisheit – Kant hatte diese Unterscheidung getroffen -, Philosophie ist auch ein Tatbestand in der Lebenswelt vernunftbegabter Wesen überhaupt.
Um diese Dimension einzufangen, habe ich etwa zwei Jahre lang monatliche Gesprächskreise mit verschiedenen sozialen Gruppen im Regionalfunk radioflora durchgeführt, die viel Vorbereitung kosteten. Ich begann mit Schülern, setzte sie fort mit Krankenschwestern einer Intensivstation; dann folgten Pastoren, Künstler, Ärzte, Iraner usw., schließlich auch Obdachlose und Drogenabhängige. Meine Eingangsfrage lautete immer: Was hat ihre Tätigkeit mit der Philosophie zu tun? Und was ihr Leben? Nirgendwann habe ich die Verwurzelung der Philosophie in der Alltagswelt stärker erfahren als in diesen Gesprächen.

Worauf ich nicht weiter eingehen möchte, was ich nur kurz streifen möchte, ist die zunehmende Professionalisierung von REFLEX in den

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letzten Jahren, zu der sowohl die Gründung der Stiftung Philosophie zur Zeit gehört, als auch die Einrichtung einer Buchreihe beim LIT-Verlag. Drei Bände sind inzwischen erschienen. Die Stiftung hat nach ihrer Gründung aus dem Umfeld von REFLEX rund € 100.000 zusammgebracht, dann aber stagnierte die Enwicklung. Es gibt niemanden, der die Stiftung aktiv betreibt.

Zur Professionalisierung mag auch die Wandlung in Bezug zum Internet gehören. Diente die eigene Homepage früher nur zur Bekanntgabe des Programms von REFLEX, so änderte sich die Einstellung zu diesem Medium grundsätzlich, als Christian Illies mich bat, Kolumnen in der von ihm damals ( ich weiß nicht, ob auch noch heute) betreuten Website philosophie.de zu schreiben. Das tat ich ein gutes Jahr und dann begann ich auf der eigenen Website aktiv zu werden. Heute setze ich alle Vorträge per DVD ins Internet; so auch den von Prof Gethmann, als er in Hannover über Europa als Vernunftprojekt sprach. Auch das zweitägige Symposium, auf das ich noch zu sprechen komme, ist auf unserer Internetplattform zu hören und zu sehen. Was mich betrifft, so schreibe ich jetzt sogar auch blogs, wenn ich Zeit finde.

Die Entwicklung von REFLEX in den letzten 3, 4 Jahren möchte ich an Hand von drei Initiativen kennzeichnen.

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Das erste ist das Festival der Philosophie, das vom 29. Mai bis zum 1. Juni 2008 in Hannover stattfand. Aus dem unmittelbaren Freundeskreis von REFLEX war die Idee entsprungen, ein philosophisches Festival auch in Hannover zu organisieren wie in der italienischen Stadt Modena.

Auf dem über Jahre vorbereiteten Boden einer bekannten urbanen Philosophie durch REFLEX wurde die Veranstaltung ein grandioser Erfolg. Durchaus mit Skepsis hatten wir das Thema gewählt: „Die Seele: Metapher oder Wirklichkeit?“ Sollte sich die Philosophie wieder einmal erweisen als Versuch längst Antiquiertes zum Leben erwecken zu wollen! Es geistern ja genug Vorurteile herum. Der Flyer zur Veranstaltung umschrieb fragend das heikle Thema:.

„Der Schwerpunkt des ebenso umfangreichen wie vielfältigen Programms ist dem Thema „Seele“ gewidmet. Was verbinden wir damit? Sehnsucht nach etwas Vergangenem? Hoffnung, daß etwas Verlorenes wiederkehrt? Die Seele ist etws allgegenwärtiges. Sie wohnt uns inne, umgibt uns und läßt uns nicht los. Das Festival wird die Philosophie aus ihrem akademischem Raum in den städtischen Raum, die Öffentlichkeit und damit zum Bürger tragen. Die Philosophen werden unter die Bürger gehen, um die Gesellschaft mit Ideen in Bewegung zu setzen und sich sogleich von den Beiträgen der Bürger zu neuen Ideen anregen zu lassen.“
Tatsächlich ging unsere Rechnung auf. Das Thema wurde angenommen. Auf der Eröffnungsveranstaltung im riesigen Foyer des Rathauses waren 700 Personen. Prof. Nida-Rümelin, der den Eröffnungsvortrag hielt, wird sich an die Drängelei in der riesigen Halle noch gut erinnern können. In einer Flut von verschiedensten Veranstaltungen, von rein wissenschftlichen bis zu kulinarischen, ernsteren und weniger ernsten wurde die Veranstaltung ein Riesenerfolg. Die Gremien der Stadt haben bereits beschlossen, daß ein weiteres philosophisches Festival stattfinden soll.

Die zweite Initiative, die hervorzuheben ist, ist der Leibniz-Tag. Im Jahre 2006 entsprang in einem Gespräch bei REFLEX die Idee, einen Leibniz- Tag in Hannover ins Leben zu rufen. Die Idee stieß bei einigen Direktoren von städtischen und Landeseinrichtungen auf positive Resonanz. Der Leibniz-Tag war geboren. Seither wird er von REFLEX organisiert und findet unter der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters Stephan Weil statt. Es ist allen, die sich für das Image der Stadt einsetzen klar: Leibniz ehren heißt, das Profil Hannovers schärfen. Beste qualifizierte Werbung.

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Die ganzen Jahre hindurch hatten wir exzellente Leibniz-Kenner als Festredner: Prof. Dr. Schmidt-Biggemann, Prof. Dr. Hans Poser, beide Berlin, in diesem Jahr Prof. Dr. Thomas Leinkauf, Universität Münster. Das Motto des diesjährigen Leibniz-Tages lautete: „Die universale Harmonie. Leibniz ́ optimistische Weltsicht“.

Der Leibniz-Tag war immer auf die Jugend ausgerichtet. Dieses Jahr durch ein Preisausschreiben. Die besten Einsendungen von Schülergruppen zur Frage „Wie ist es bei allem Elend zu verstehen, daß Leibniz die bestehende Welt für „die beste aller möglichen“ hält, sollten prämiiert werden.

Die Zahl der Antworten – 70 – übertraf unsere Erwartungen. Die Prämie für die besten drei ist eine Wochenendreise nach Leipzig, der Geburtstadt von Leibniz.
Ebenfalls war jeder Leibniz-Tag eine musikalische Attraktion durch die Barockmusik, die von der Hannoveraner Hochschule für Musik und Theater dargeboten wurde. Besonders hervorzuheben ist in diesem Jahr, daß die Hannoversche Allgemeine Zeitung als Kooperationspartner gewonnen werden konnte. Mehrere Artikel und Aufrufe sind bereits im Vorfeld in der Hannoverschan Allgemeinen erschienen. Erst mit dieser starken Präsenz in der lokalen Presse hat der Leibniz-Tag die öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, die ihn zu einem städtischen Ereignis macht. REFLEX hat durch die Gründung und mehrjährige Ausrichtung dieses Feiertags nun fast den Status einer städtischen Einrichtung erworben, ohne eine zu sein.

Die dritte und letzte Initiative, die ich vorstellen möchte, ist das Projekt „Die Einheit der Wissenschaften“ im Blick auf den Bologna-Prozeß. Ein Symposium im November vergangenen Jahres war die erste Etappe zu seiner Realisierung. Es wurde von der Volkswagenstiftung gefördert. Ausgangspunkt des ganzen Unternehmens war die Frage nach der gegenwärtigen Gültigkeit der These, die von Aristoteles stammt, daß

die Philosophie nicht eine neben anderen Wissenschaften ist, sondern die Grundwissenschaft für alle. Methodisch sollte dies nicht von den Philosophen in traditioneller Manier argumentativ behauptet werden, sondern es sollte von Vertrerern anderer Disziplinen eingebracht werden, welche Rolle die Philosophie gegenwärtig in ihren Fächern spielt und ob die Philosophie nach wie vor die Disziplin ist, in welcher die Reflexion auf die Einheit der Wissenschaften ihren legitimen Ort besitzt. Das Symposium war ein großer Erfolg.

Wir befinden uns jetzt in der zweiten Etappe des Projekts. In einer von der Mercator-Stiftung und der Volkswagenstiftung neu aufgelegten Förderinitiative „Bologna – Zukunft der Lehre“ könnte daraus ein

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philosophisches Zentrum für Lehr- und Lernforschung sowie Curriculumforschung“ hervorgehen. Mehr möchte ich dazu nicht darstellen. Es würde den hier gesetzten Rahmen sprengen.
Daß sich REFLEX dieser Thematik mit höchster bildungspolitischer Brisanz angenommen hat, können Sie als Zeichen dafür werten, daß außeruniversitäre Philosophie ihren Bestand nicht durch Abgrenzung von der Universität hat.

Ich komme zum Schluß.
Was, meine Damen und Herren, habe ich beabsichtigt mit dem Bericht über REFLEX? Ich habe geworben dafür, daß wir mit der Philosophie nicht nur in der Universität bleiben. Dort soll sie weiterhin qualifizierte Forschung und Lehre betreiben. Ich habe geworben dafür, philosophische Zentren außerhalb der Hochschulen in den Städten zu errichten. Die Philosophie muß wieder auf den Marktplatz. Sie ist nicht nur Theorie, um Theorie zu machen, sondern Theorie zur Gestaltung des Lebens. Die Philosophie muß sich der Lebenswelt aussetzen, hier hat sie sich den lebendigen Fragen zu stellen, nicht nur denen der Textinterpretation im Seminar, wohl wissend, das Texte und das Wissen über Texte sehr nützlich sind; anders: daß es ohne sie gar nicht geht.

Es geht um die Errichtung von urbanen philosophischen Zentren, wofür REFLEX ein Pilotprojekt ist. Wir sollten organisatorische und institutionelle Konsequenzen ziehen aus dem lebensweltlichen Ansatz der Philosophie. Die Philosophie ginge damit programmatisch über den bisherigen Rahmen von Forschung und Bildung hinaus. Sicherlich ist in diesem Zusammenhang auch viel Diskussion, viel Selbstkritik unter den Philosophen nötig, aber wo geht es vorwärts ohne Diskussion und Selbstkritik? Es geht schlicht darum, das große Erbe, das wir Philosophen übernommen haben in einer sehr kritisch zu beurteilenden Gegenwart lebendig zu machen, so daß es der Gesellschaft dient.

Das im vergangenen November durchgeführte Symposium, von dem ich sprach, hat mich darin belehrt, daß dies von den Philosophen erwartet wird. Wenn die Philosophie nur ihre Geschichte verwaltet, verkennt sie ihre eigene gesellschaftliche Bedeutung.

Die Philosophie darf sich nicht von der Lebenswelt entfernen, so daß sie anstatt zum Konkreten zu kommen sich in die Weiten der Generalisierungen verliert: sei dies der Wille zur Macht, das Sein und das Seinsgeschick, sei es die Kritik, die nur noch die Revolution als Konsequenz sehen kann oder sei es die Verzweiflung, die nach Auschwitz kein Gedicht mehr gelten lassen will.

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Wir müssen raus aus den Abstraktionen hin zum Konkreten der Lebenswelt. Dort verlieren wir uns nicht, dort gewinnen wir uns, denn dort ist die Wirklichkeit, um deren Bewältigung es geht.

Ich bin überzeugt davon, daß ein Aufbruch in der Philosophie erforderlich und an der Zeit ist. Solange die Philosophie ihren Ort an der Universität hat, wird sie theorielastig sein, mit der Tendenz zur Lebensferne. Sie muß sich einen Ort außerhalb der Universität schaffen. Sie muß sokratisch werden.

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