Über Eduard Bernsteins halbherzigen Versuch, Marx mit Kant zu korrigieren.
Gerhard Stamer, 1989 Materialis Verlag, Frankfurt am Main.
Diese Arbeit entspringt dem Interesse an der Bewältigung eigener politischer Erfahrung. Der Autor, der 68er Generation zugehörig, untersucht an einem historischen Zusammenhang systematische Probleme, die sich auch in der gegenwärtigen Praxis unumgänglich stellen. Die ‚Strukturen vorherrschender Politikformen, wie sie in den Konzeptionen von Reform und Revolution zum Ausdruck kommen, werden einer erkenntnistheoretischen Analyse unterzogen. Die Thematisierung von Bernsteins Revisionismus zu diesem Zweck liegt deshalb nahe, weil seine Bedeutung vor allem darin beruht, die Erkenntnistheorie Kants auf die an der Theorie von Marx und Engels orientierte Politik der deutschen Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg bezogen zu haben. Die offizielle Verurteilung,, die der Revisionismus in der Arbeiterbewegung erfuhr, bedeutete die Negation der erkenntnistheoretischen Fragestellung für die sozialistische Politik. Ohne die Anwendung der Erkenntnistheorie auf Theorie und Praxis, Analyse und Strategie, ist es jedoch nicht möglich, emanzipatorische Politik als Lernprozess zu organisieren. Wo dies aber nicht geschieht, ist sie zum Scheitern verurteilt.
In der hier vorliegenden Untersuchung führt der Autor den Nachweis, dass der Reformismus, wie ihn _Bernstein begründete, als auch sein Kontrahent, der Dogmatismus, Erscheinungsformen der Lernunfähigkeit emanzipatorischen Bewusstseins sind. Eduard Bernstein konnte die gestellte Aufgabe nicht lösen, denn er hatte einen eingeschränkten Erkenntnisbegriff. Er zog für die sozialistischen Politik nur die Konsequenz aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“, nicht aber aus dessen „Kritik der praktischen Vernunft“. Im Rückgang aber auf Motive dieser Schrift – insbesondere dem Freiheitsbegriff – liegen die Ansätze, um über die Denkblockaden von Reformismus und Dogmatismus hinauszukommen.