Dr. Gerhard Stamer, LIT-Verlag, Münster 2005 (ISBN 3-8258-8943-2)
In diesem Band wird die fundamentale Kritik so verschiedener Denker wie Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Edmund Husserl, Martin Heidegger und Theodor W. Adorno an Europa zusammengefaßt.
Die Geschichte geht weiter und die fundamentale Kritik der Denker, die in dieser Reihe zitiert wurden, verrauscht wie Schall und Rauch. So scheint es jedenfalls. Die Produktivität des Zusammenhangs von Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie ist weiterhin ungebremst. Die Tendenzen, die daraus hervorgehen, vollziehen sich wie unumstößliche Notwendigkeiten. Die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse, die sie hervorbringen, prägen das Bewusstsein der Menschen; wenn auch nicht absolut, so doch in einer sehr starken Weise. Dies ist umso bedenklicher, wenn der Kritik dieser Denker zuzustimmen ist. Es stellt sich die Frage, wie ein Schiff in voller Fahrt auf anderen Kurs gebracht werden kann. Es drängt sich der Realitätssinn auf, daß dieses nicht geht. Worum geht es nun? Welche Konsequenz sollte daraus gezogen werden? Die des stoischen Rückzugs von der Öffentlichkeit, wohl wissend, daß auch dies eine öffentliche Haltung ist? Die der angestrengten Bemühung um Anschlußfähigkeit an die Trends der Gegenwart, um wenigstens Anerkennung zu gewinnen, selbst wenn nicht mehr für das, wovon man überzeugt ist? Oder die der Hoffnung, auf einen neuen Gott zu setzen, oder auf das Sein, das kommen wird, jedenfalls ohne systematische menschliche Praxis, wohl wissend, daß dies die Preisgabe der Vernunft an den Zufall ist.
Wie macht man in der Ratlosigkeit weiter? In der Ratlosigkeit macht man mit der Vernunft weiter. Es ist ein verbreitetes Unverständnis der Geschichte, das in der Gegenwart verbreitet ist, zu denken, in der Tradition hätte sich nicht herausgeschält, oder anders: wäre durch reflektierte Erfahrung nicht herausgearbeitet worden, worin Vernunft besteht. Und es ist ein Realitätsverlust ohne Gleichen, zu denken, die Vernunft wäre nicht eine als Kraft wirkende Realität in uns. Die Vernunft will ihre Realisierung, sie will eine vernünftige Welt. Vernunft ist nicht ein Ordnungsprinzip, sondern dynamisch auf die Welt bezogen. Von Platons Politeia bis zu den Menschenrechten in der Gegenwart gibt es in allen Leiden der Menschen eine wirkende Kraft der Vernunft, die wiederherstellen will, was verloren gegangen ist oder als humane Utopie und Sehnsucht Bewußtsein ist. Die schrecklichsten Konstellationen in der Geschichte haben diese Kraft nicht ersticken können, sondern im Gegenteil: sie als Widerstand hervorgebracht. Und nur so ist Geschichte vorangegangen und wird auch vorangehen. Humanität ist kein Abfallprodukt eines historischen Prozesses – wie dem technischen Fortschritt, sondern das, was aus dem freiheitlichen und moralischen Willen der Menschen entspringt. Von Karl Marx stammt der berühmte Spruch, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern. Heute muß man mit Nachdruck sagen: es kommt nicht darauf an, was sich objektiv im historischen Prozeß vollzieht, sondern was die Vernunft uns sagt. Was historisch geworden ist, ist darum noch nicht vernünftig. Das Gegenteil zu vertreten, ist die Kapitulation der Vernunft. Die Absage an die Vernunft, ist der Verlust der Menschlichkeit. Weil die Ideen der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit sich bis heute in der Geschichte nicht durchgesetzt haben, sind sie nicht verkehrt und auch nicht von der Realität falsifiziert worden, sondern vermitteln die nüchterne Erkenntnis, daß die Welt, in die der Mensch mit seinem Geist hineingeboren ist, eine harte widerständige Materialität besitzt. Sie nach der Vernunft zu formen, scheint ein langfristiges, in weite Zukunft weisendes Projekt zu sein; aber weil die Vernunft selbst aus dieser Welt erwächst, kann es nicht chancenlos sein. Diese Chance wahrzunehmen, ist der Rat den die Vernunft gibt, um aus der Ratlosigkeit herauszukommen. Diesen Rat hat sie nicht erst heute gegeben, er steht an allen Punkten, die wie Endpunkte der Geschichte aussahen.
Was die Form dieser Veröffentlichung betrifft, sind einige Erklärungen nötig. Es handelt sich um die Dokumentation von Vorträgen, also um Texte, die ursprünglich für die mündliche – und nicht schriftliche – Präsentation gedacht waren. In dieser Veröffentlichung bleibt aber der ursprüngliche Stil gewahrt. Das bezieht sich auf den Stil, der eher der einer mündlichen Rede ist; dann aber auch darauf, daß in manchen dieser Vorträge, zum Beispiel in dem über Karl Marx, viele Zitate vorkommen. Sicherlich habe ich, als ich die Vorträge hielt, mehr Kommentare zu den Vorträgen abgegeben, als hier aufgenommen sind, aber doch nicht solche, die den schriftlich festgehaltenen Inhalt verändert hätten. Was schriftlich fixiert ist, gilt. Das ist die Grundregel.
Verstärkt wird dieser Stil der häufigen Verwendung von Zitaten auch aus dem Grunde, um zu zeigen, daß es sich bei den geäußerten Gedanken um solche handelt, die tief in der Tradition verankert sind. Die gegenwärtigen Gedanken sind nicht dadurch frisch, daß sie ihre Herkunft aus früheren Schriften verbergen. Sie sind lebendig, wenn sie treffen, wenn sie weiterhin aussagekräftig sind. Es besteht sogar ein besonderer Reiz darin, zu zeigen, wie Gedanken früherer Jahrhunderte und Epochen heute noch zünden. So wird dann auch die Einheit des historisch fortschreitenden Erfahrungszusammenhangs nachvollziehbar.
Insgesamt ist zu erkennen, daß es sich bei dieser Veröffentlichung um ein Exemplar praktisch angelegter Philosophie handelt. Das heißt, es geht darin bei aller Bemühung um die theoretische Durchdringung der Realität doch in erster Linie um die lebenspraktische und auch für gebildete Laien verständliche Deutung der gegenwärtigen Realität.
Die in diesem Buch veröffentlichten Gedanken sind textnah vorgetragen worden, aber in freier Rede oft kommentiert und ergänzt. Der erste in Hanau gehaltene Vortrag stellt im Kern die Grundidee des Ganzen dar, aus dem dann die übrigen Teile erwachsen sind, die eine geschlossene Vortragsreihe bildeten.